9punkt - Die Debattenrundschau

Haut-Hunger

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2020. Die Drohung der chinesischen Regierung erstreckt sich keineswegs nur auf chinesische Bürger. Der Amerikaner Samuel Chu erzählt in der New York Times, was es für ihn heißt, auf den Verhaftungslisten der Chinesen zu stehen, obwohl er in Amerika lebt. Bei den Salonkolumnisten wirft Marko Martin einen Blick auf die "verlorene Gegenwart" Hongkongs. Die EU muss die Zivilgesellschaft in Weißrussland stärken, fordert Marieluise Beck in der taz. Die FAZ fürchtet, dass auch die Digitalisierung unseren Bedürfnissen nach Berührung kein Ende macht. NBC News veröffentlichen interne Facebook-Dokumente über die millionenstarke Anhängerschaft der QAnon-Grupppen auf dem Netzwerk.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.08.2020 finden Sie hier

Politik

Fabian Kretschmer, der Peking-Korrespondent der taz, porträtiert den Hongkonger Zeitungsverleger Jimmy Lai, der eins der ersten Opfer des neuen "Sicherheitsgesetzes" wurde und womöglich mit lebenslanger Haft rechnen muss: "Im Zuge von Lais Verhaftung wurden auch die Redaktionsräume seines Verlagshauses Next Media durchsucht. Im stark zensierten chinesischen Netz ging die Meldung über Jimmy Lais Verhaftung fast unter. Auf Weibo, einer chinesischen Version von Facebook, wurde vor allem ein Kommentar des Hongkonger Filmregisseurs Wong Jing euphorisch geteilt: 'Endlich können wir das neue Sicherheitsgesetz nutzen, um solche Verräter wie Jimmy Lai abzustrafen.' Fast alle Kommentare sind negativer Natur: Als 'Arschloch' wird er von chinesischen Nutzern bezeichnet, oder als 'Separatist'. Dabei sieht sich Jimmy Lai selbst durch und durch als Chinese." Wie die spektakuläre Verhaftung vor sich ging, die Reporter von Lais Zeitung Apple Daily live mitfilmten, berichtet James Pomfret bei Reuters.

Marko Martin blickt bei den Salonkolumnisten zurück auf die "verlorene Gegenwart" Hongkongs und kommt auch auf Hongkongs Zeitungen zu sprechen, besonders die einst so stolze South China Morning Post: "Seit der festlandchinesische Internetversandriese Alibaba die traditionsreiche Hongkonger Post gekauft hatte, waren kritische Texte immer mehr zur Seltenheit geworden, ganz zu schweigen von den investigativen Reportagen über Gefängnisse, Straflager, und verfolgte Oppositionelle, die ihn in ihrer Detailfülle anderthalb Jahrzehnte zuvor noch in eine Art wütender Euphorie versetzt hatten: Ein Territorium aus Stein und himmelragenden Wolkenkratzern, flankiert von grünen Hügeln und Bergen und unzähligen winzigen Eilanden, in denen noch immer das gesagt und geschrieben werden konnte, was nur ein paar Kilometer weiter ein Straftatbestand war, zu beantworten mit eben jenen Lagern und Gefängnissen."

Die Drohung der chinesischen Regierung erstreckt sich keineswegs nur auf chinesische Bürger. Ein Paragraf des Sicherheitsgesetzes besagt, dass auch Aktivitäten im Ausland verfolgt werden können, insistiert Samuel Chu in der New York Times. Obwohl Chu seit 1990 in den USA lebt und amerikanischer Bürger ist, gehörte er zu den ersten sechs Personen, für die nach Erlass des Gesetzes Haftbefehle ausgeschrieben wurden. Maßt sich China also an, Ausländer unter sein Gesetz zu stellen? "Liest man Artikel 38 wörtlich, ist genau dies der Fall. Wie lächerlich. Aber das macht die Sache nicht harmlos. Ich befürchte zum Beispiel, dass ich nicht mehr nach Hongkong oder in Länder mit Auslieferungsverträgen mit Hongkong oder China reisen kann, ohne Verhaftung und Auslieferung zu riskieren. Ich kann nicht mit meinen älteren Verwandten in Hongkong sprechen, ohne sie zu Zielen für Ermittlungen zu machen. Ich werde ncht der einzige sein, der von China verfolgt wird. Und wenn ich das Ziel bin, so kann es auch jeder Bürger jedes Staats sein, der sich für Hongkong ausspricht."
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Europa

Die EU kann mit Blick auf Weißrussland nur eines tun: die Zivilbevölkerung stärken und jungen Menschen die Einreise gestatten, sagt die ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck im Gespräch mit Barbara Oertel von der taz: "Seit einiger Zeit sind vor allem kulturelle Veränderungen feststellbar. Ich meine damit vor allem die junge Generation. Das sind gut ausgebildete Leute, seien es Künstler, Journalisten, Wissenschaftler und Beschäftigte im IT-Bereich. Sie haben angefangen, die gesellschaftlichen Spielräume für sich zu nutzen, ohne dabei ideologisch verbissen zu sein. Gleichzeitig haben sie ziemlich genau gewusst, wo ihre Grenzen sind. Und noch etwas kommt hinzu: Sie hatten viel weniger Illusionen über den Westen als die Ukrainer."
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Stichwörter: Weißrussland, Belarus

Internet

Die aktuellste Version rechtsextremer Verschwörungstheorien  läuft unter dem Kürzel "QAnon". Ari Sen veröffentlicht bei NBC News einen sehr viel retweeteten Artikel mit geleakten Informationen, die zeigen, dass die Zahl der QAnon-Anhänger bei Facebook in die Millonen geht (drei Millionen, um genau zu sein). Genützt haben Facebooks Algorithmen: "Es gibt mehr als zehn Millionen Aktivistengruppen, sagte ein Facebook-Sprecher gegenüber NBC News im Jahr 2019, eine Zahl, die wahrscheinlich gewachsen ist, seit das Unternehmen begann, Gruppenpostings in den Hauptfeeds der Nutzer einzuspielen. Während sich die meisten Gruppen harmlosen Inhalten widmen, haben Extremisten, von QAnon-Verschwörungstheoretikern bis hin zu Anti-Impfungs-Aktivisten, das Gruppen-Feature auch genutzt, um ihr Publikum zu vergrößern und Fehlinformationen zu verbreiten. Facebook unterstützte dieses Wachstum mit seiner Empfehlungsfunktion, die auf einem geheimen Algorithmus basiert und den Benutzern Gruppen vorschlägt, die auf Interessen und bestehender Gruppenzugehörigkeit basieren."

Digitale Techniken haben vielen Menschen - auch Kranken! - während der Corona-Lockdowns geholfen, lernt Victor Sattler (FAZ) aus mehreren amerikanischen Studien. Eine "fundamentale Grenze" hat alles Digitale am Ende aber doch: "Forscher der Universität von Arizona haben in einer Studie mit knapp fünfhundert Zwillingspaaren Anhaltspunkte dafür gefunden, dass zumindest bei Frauen die Neigung zu zärtlichem Körperkontakt nicht bloß sozial erlernt wurde. Ihr 'Haut-Hunger', das Bedürfnis nach Umarmungen oder Handschlägen, könne zu einem Teil (hier waren es im Mittel 45 Prozent) auch durch Vererbung erklärt werden. Die Ergebnisse bei den männlichen Zwillingen erlaubten eine solche Schlussfolgerung nicht. Obwohl es dazu keine Auswertung gab, wäre es dieser Studie nach plausibel, dass Frauen, denen ein starkes Bedürfnis nach Körperkontakt in den Genen steckt, im Lockdown Probleme bekommen. Digitales hält hier vorerst keine Lösung bereit."
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Gesellschaft

In der von Thomas Mann inspirierten und vom Thomas Mann House in LA veranstalteten Reihe "55 Voices" mit Ansprachen für die Demokratie denkt die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Heike Paul über Demokratie und Gleichberechtigung nach und plädiert für Transnationalität und die "Zukunft eines intersektionellen Feminismus". Zur Verwirklichung empfiehlt sie einen Blick in neuere Manifeste: "Die Manifeste von Chimamanda Ngozi Adichie, Mary Beard, Marie Rotkopf und Sara Ahmed oder der kollektiv verfasste Band 'Feminism for the 99%', um nur einige zu nennen, mögen bisweilen Genrekonventionen aufbrechen und politisch vielstimmig sein. Ganz sicherlich jedoch versuchen sie alle, der düsteren Politik eines dystopischen, aktuell immer realer anmutenden Heteropatriarchats mit einem programmatischen Ruf nach alternativen horizontalen Zugehörigkeiten zu begegnen."
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Kulturpolitik

Während andere Branchen langsam hochgefahren sind, leidet der Kultursektor in ganz Europa immer noch unter argen Beschränkungen. Und nicht überall wird Kultur so gut versorgt wie in Deutschland oder Frankreich, schreibt Katy Lee bei politico.eu. In Großbritannien, dessen Kulturinstitutionen wesentlich weniger subventioniert sind, gab es erst spät Geld, "und in Ungarn hat die Regierung den Notstandsplan genutzt, um ihre nationalistische Agenda voranzutreiben. Stückeschreiber  und Komponisten wurden bescheidene Stipendien angeboten, aber unter einer Bedingung: Ihre Werke mussten vom Trianon-Vertrag handeln, der vor hundert Jahren abgeschlossen wurde, ein Ereignis, das in Viktor Orbans nationalistisches Arsenal gehört. 'Inhaltlich war das ein reines Propagandading', sagt Fanni Nánay, eine Budapester Festivalorganisatorin, 'wirklich ein Skandal'."
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