9punkt - Die Debattenrundschau

Tigersprung in die rosarote Zukunft

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2020. Die neue Karte der EU muss ab heute ohne die größte der britischen Inseln auskommen. Ian McEwan packt im Guardian seine Zelte und begibt sich auf den Rückweg, damit Britannien in 15 Jahren dort ankommt, wo es bis gestern war. Britische und deutsche Medien leisten bittere Manöverkritik. Die SZ legt ein Wort für Plastik ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2020 finden Sie hier

Europa

"Es ist vollbracht", ruft sarkastisch Ian McEwan im Guardian zum gestern Nacht vollzogenen Brexit: "Wir müssen unsere Zelte packen, womöglich zum Klang der Kirchenglocken, und hoffen, dass wir in einem 15-jährigen Rückweg wieder dahin kommen, wo wir bis gestern mit all unseren Handelsabkommen, Sicherheitsverträgen, und Vereinbarungen zu Gesundheit, wissenschaftlicher Zusammenarbeit und tausend anderen nützlichen Dingen waren." Und er konstatiert: "Der Ausgang aus Europa wurde von Corbyn offen gehalten, damit Johnson hindurchgehen konnte."

Amüsant, wie heute der Guardian seine Leser von jenseits des nunmehr so tiefen Grabens begrüßt: "wir lassen es nicht zu, dass der Brexit zwischen uns steht...", begrüßt die Zeitung ihre Leser aus Kontinentaleuropa am Ende der Guardian-Artikel, "und wir hoffen, dass Sie ebenso denken. Britannien mag die EU verlassen, aber der Guardian fühlt sich Europa weiter verpflichtet und wird Ideen und Interessen, die wir teilen, doppelt ernstnehmen. Unser unabhängiger, auf Fakten basierender Journalismus wird Britannien über Europa und Europa über Britannien informieren." Und erbittet eine Unterstützung "ab 1 Euro".

Die Boulevardzeitungen (und nicht das böse Internet) spielten eine zentrale Rolle beim Brexit. Zeit online lässt die letzten drei Jahre seit dem Referendum in einer Parade von Titelblättern vorbeiparadieren. 


Auch die Liberaldemokraten tragen eine Mitschuld, weil ihre Vorsitzende Jo Swinson den Vorschlag Boris Johnsons für Neuwahlen zustimmte, schreibt Julia Smirnova bei libmod.de in einer bitteren Manöverkritik: "Ohne Unterstützung der Opposition konnte er keine Neuwahlen ausrufen und steckte damit in der gleichen Sackgasse wie zuvor Theresa May. Viele Anhänger des zweiten Referendums hofften, dass sie ihr Ziel erreichten, wenn das Chaos nur lange genug andauerte und Johnson geschwächt würde. Swinson hoffte hingegen darauf, dass ihre Partei als klar pro-europäische Kraft bei Neuwahlen viele zusätzliche Sitze im Parlament gewinnen würde: bei den Europawahlen im Mai waren die Liberaldemokraten noch zweitstärkste Kraft geworden. Doch im Dezember scheiterten sie am britischen Wahlsystem, das den beiden großen Parteien Vorteile verschafft. Jo Swinson verlor in ihren Wahlkreis und trat zurück."

taz-Brexiteer Dominic Johnson hat eine Erklärung, warum gerade in Deutschland die Stimmung gegen den Brexit so stark sei: "Deutschland hat nie dekolonisiert. (...) Vielleicht ist das ein Grund, dass in Deutschland wie kaum irgendwo sonst der Brexit auf so viel Häme und Hass trifft, auf allgemeine Ablehnung und Geringschätzung. Deutschland hat nie selbst akzeptiert, dass andere Länder sich dem einmal oktroyierten deutschen Willen entziehen können; es wurde immer von außen dazu gezwungen, in verlorenen Kriegen. Postkoloniale Selbstreflexion ist kein Teil der deutschen Geschichte und gehört in Deutschland nicht zur eigenen Lebenserfahrung." Uns war gar nicht bewusst, dass wir Britannien kolonisiert hatten!

Der Traum vom Brexit wird jetzt auf den Granit der Realität beißen, und die Remainer tun gut daran, die nun kommende Realität an diesem Traum zu messen und die Brexiteers zur Verantwortung zu ziehen, meint Ian Dunt in seinem Blog politics.co.uk: "Das muss getan werden. Es ist eine Pflicht, kein Ziel. Der Schaden, der uns zugefügt werden soll, muss als Folge der Entscheidung für Brexit und der Art und Weise, wie er durchgeführt wird, identifiziert werden, sonst lassen wir zu, dass die Regierung und die rechte Presse jemand anderen dafür verantwortlich machen. Und das werden sie tun."

Der Aufstieg der Rechtspopulisten ist offenbar doch nicht so unaufhaltsam wie sie und manche ihrer auf sie fixierten Gegner gern behaupten, konstatiert Christian Jakob in der taz. In einigen Ländern Europas wie etwa Italien, Österreich oder Dänemark sind sie sogar in der Krise: "Der Befund ist uneinheitlich. Man könne bei den europäischen Rechtspopulisten heute 'weder von einem endlosen Aufwärtstrend noch von einem generellen Abschwung sprechen', sagt der Mainzer Parteienforscher Kai Arzheimer. Zwar seien die Gründe für das Entstehen eines rechtsradikal-populistischen Potenzials überall ähnlich, etwa die Bildungsexpansion, der Niedergang der Industriearbeiterschaft, Migration oder die Globalisierung, sagt Arzheimer. 'Das hat die Parteien der Mitte geschwächt.' (...) Doch welche Stellung die Populisten künftig einnehmen werden, darauf hätten 'länder- und parteienspezifische Faktoren starken Einfluss'."

Die 16-jährige französische Schülerin Mila hat Morddrohungen erhalten, weil sie in einem Instagram-Video gesagt hat, dass sie den Islam hasst, berichtet Anne-Catherine Simon in der Wiener Presse.  Selbst  der Vorsitzende der offiziellen Vertretung französischer Muslime (Conseil français du Culte Musulman), Abdallah Zekri, drohte, "wer Hass sät, wird Sturm ernten." Simon zitiert Le Monde, die mit dem Anwalt der Schülerin gesprochen hat: "Viele Drohungen, so der Anwalt, seien von Schülern ihres eigenen Gymnasiums gekommen. Mila selbst dazu: 'Ich kann keinen Fuß mehr in mein Gymnasium setzen und ich kann nicht einmal das Gymnasium wechseln, weil ganz Frankreich hinter mir her ist.' Die Schulbehörden erklärten, das Mädchen sei in Sicherheit, es werde physisch und psychologisch betreut. Mila hat inzwischen, unter anderem gegenüber der Zeitung Libération, ihre Äußerung verteidigt: 'Anders als sie (ihre Angreifer, Anm. d. Red.) habe ich niemanden beleidigt oder bedroht oder zur Gewalt gegen jemanden aufgerufen', sagte sie." Das Video kann man hier sehen, hier der Bericht von Libération mit dem Wortlaut des Videos. In der FAZ berichtet Michaela Wiegel über die Geschichte. Die Twitter-Kampagne für Mila organisiert sich unter dem Hashtag #JeSuisMila.
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Ideen

In der NZZ diagnostiziert Reinhard Mohr eine wachsende Kluft zwischen den deutschen Bürgern und ihren Repräsentanten. Die Lebenswelt der einen hat mit der Rhetorik der anderen nichts mehr zu tun, meint er. Zuletzt ist ihm das aufgefallen beim  großen Konklave der SPD im Dezember in Berlin: "Irritierend ist allein schon die Sprache, mit der in all den Reden der Zustand der Republik beschrieben wird. Vor lauter Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Elend und Armut fühlte man sich an Venezuela oder Burkina Faso erinnert - nicht an das wirtschaftsstärkste Land Europas, das seit Jahrzehnten von Sozialdemokraten mitregiert wird. Noch erstaunlicher der dialektische Tigersprung in die rosarote Zukunft: Wie bunte Fasnachtsbonbons prasselten die Vorschläge auf die 600 Delegierten nieder: höhere Steuern für Reiche, höherer Mindestlohn, höhere Renten. Plötzlich schien das Paradies auf Erden zum Greifen nah. Die Leute müssten halt nur noch SPD wählen."
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Kulturpolitik

Nicht nur dass in Frankfurt in dieser Woche ein Wolf von einem Auto überfahren wurde (ehrlich, mehr hier).Die Stadt verliert auch außerdem die Internationale Automobilausstellung. Und die Stadtverordnetenversammlung hat nun tatsächlich den Abriss von Oper und Schauspiel Frankfurt beschlossen. Die knappe Meldung dazu in der FAZ beginnt mit dem Satz: "Das war keine gute Woche für Frankfurt."
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Kulturmarkt

Der Mann von Welt Florian Illies ist bekanntlich nach einem Jahr als Rowohlt-Chef getürmt. Nun probiert der Holtzbrinck-Verlag, zu dem Rowohlt wie auch Fischer oder Kiepenheuer und Witsch gehört, ein anderes Modell: die Verlagsmanagerin Nicola Bartels, die von Randomhouse kommt. Dort sind die Verlage nur noch Labels, schreibt SZ-Literaturredakteurin Marie Schmidt. Die Holtzbrinck-Verlage waren dagegen von Verlegern geprägt. Ein nurmehr historisches Modell? "Heute dagegen, sagte Nicola Bartels kürzlich in einem Interview, müsse es für Lektoren darum gehen, 'bei potenziellen Buchprojekten zwischen der eigenen Perspektive und der Nachfrage durch die Zielgruppe zu unterscheiden'. Allem Anschein nach ist es also das, was eine Verlegerin heute besonders glaubwürdig macht: betont uneitler Marktrealismus. "
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Gesellschaft

Gerhard Matzig legt in der SZ ein Wort für Plastik ein, das nicht nur ein Müllproblem, sondern trotz allem auch ein Stoff der Zukunft sei: "Es ist aber auch so, dass Plastik nicht nur völlig überflüssigerweise die einzelne Cocktailtomate umhüllt, als gäbe es kein Morgen - Kunststoffe sind mittlerweile Baustoffe der gesamten Zivilisation: Das reicht vom künstlichen Kniegelenk über das Smartphone bis zum ultraleichten Öko-Vehikel. Vor allem aber gibt es keinen Grund, den Kunststoff als Hort des Bösen zu verdammen, denn das Plastikproblem ist eher durch eine rationale Politik als durch irrationale Gestik zu lösen."
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Stichwörter: Plastik, Plastikmüll, Smartphones

Medien

Da Journalismus ein Problem mit dem Geschäftsmodell hat, werden immer mehr journalistische Projekte über Stiftungen finanziert. Daniel Bouhs fragt in der taz, wie sich das auf die Unabhängigkeit auswirkt und nennt eine Studie der Medienwissenschaftlerin Anna Driftschröer: "Sie hat sowohl Journalist*innen interviewt, die von Stiftungen finanziert werden, als auch Vertreter*innen von Stiftungen. Das Ergebnis ist zwiespältig. Einerseits hätten die Stiftungsvertreter*innen berichtet, dass sie mit den geförderten Redaktionen 'in einem eher engen Kontakt stehen'. Andererseits hätten die Journalist*innen allesamt erklärt, 'bisher keine Erfahrungen gemacht zu haben, dass Förderer versuchten, die redaktionellen Inhalte oder die Art und Weise der Berichterstattung zu beeinflussen oder gar vorzugeben'."

Außerdem: Die Berliner Zeitung installiert mit Matthias Thieme einen zusätzlichen Chefredakteur, der eine "Digital First"-Politik verwirklichen soll (mehr hier). Mit-Herausgeber Michael Maier erklärt in einem Brief an die Leser, warum er das Internet als eine Chance für den Journalismus sieht.
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