Efeu - Die Kulturrundschau

Etwas furchtbar Gutgemeintes

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01.02.2020. Die Literarische Welt fragt: Was macht Jan Knopfs Müller-Parodie in der Heiner-Müller-Gesamtausgabe des Suhrkamp Verlags? Dass Alfred Bauer ein Nazi war, wusste man eigentlich schon immer, man wollte nur nicht drüber reden, meint der Filmwissenschaftler Armin Jäger in der Welt. Die Bauer-Geschichte muss man im Kontext sehen, wiegelt Rainer Rother von der Deutschen Kinemathek ab. Das Neue Deutschland würdigt die letzten voll souveränen Independentmusiker der Punkband EA80. Standard und nachtkritik amüsieren sich "Am Wiesnrand" mit Stefanie Sargnagel - bis ins Grab.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2020 finden Sie hier

Film

Dass der erste Berlinale-Leiter Alfred Bauer ein hochrangiger Nazi-Kulturfunktionär gewesen ist, wie jetzt der Zeit zugespielte Recherchen belegt haben (hier und dort unsere Resümees), hätte man auch ohne weiteres schon früher wissen können, sagt der Mainzer Filmwissenschaftler Armin Jäger in einem zur Sache immens lesenswerten Gespräch in der Welt. Die betreffenden Akten seien problemlos in den Archiven einsehbar. Und im Grunde genommen wusste man es eigentlich sogar: Goebbels' Einschätzung von Bauer als "eifrigem SA-Mann" tauchte bereits 1973 bei "Wolfgang Becker in seinem Buch 'Film und Herrschaft' in Fußnote 539" auf und zwar "drei Jahre, bevor Bauer die Leitung der Berlinale abgegeben hat. Und Felix Moeller hat 1998 in 'Der Filmminister' wiederum in einer Fußnote seine Arbeit in der Reichsfilmintendanz angemerkt." Woran haperte es also? "In Deutschland interessiert sich fast niemand wirklich für die Filmgeschichte von 1933 bis 1945. Wenn Sie sich die Literatur zum NS-Film ansehen, können sie die wichtigsten Werke problemlos auf zwei nicht allzu breiten Regalbrettern unterbringen. ... Und wenn wir die Berlinale selbst nehmen und ihre Retrospektiven - wann wurde da zum letzten Mal das Dritte Reich behandelt? 1979! Danach gerne Weimar und Filmexil, denn das sind angenehmere Themen."

Für Dlf Kultur hat Susanne Burg mit Rainer Rother von der Deutschen Kinemathek gesprochen, die nach den Zeit-Recherchen zumindest im Verdacht steht, Alfred Bauers Biografie jahrelang geschönt zu haben - so auch in einer ursprünglich für Ende Februar angekündigten Schrift über Bauer. Die Schärfe der Zeit-Aufdeckungen hält er für "richtig", ebenso die Entscheidung des Festivals, den nach Bauer benannten Preis bis auf weiteres auszusetzen. Die von der Kinemathek geplante Schrift sei in der Tat zu "wohlwollend" ausgefallen, räumt er ein. Die Frühgeschichte des Festivals müsse man aber nicht unbedingt umschreiben, wiegelt er dann doch ab: "Die Frage scheint mir eher zu sein: Müssen wir nicht die Person Alfred Bauer in den Kontext der Karrieristen stellen, die nach dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik auch in sehr vielen anderen Bereichen ihre Karriere fortsetzen konnten und auch Entscheidendes für die Bundesrepublik bewegt haben? Müssen wir nicht auf diese Geschichte etwas näher schauen?"

Weitere Artikel: "Wir haben den Artikel sehr ernst genommen", sagt der neue künstlerische Leiter der Berlinale Carlo Chatrian im ZeitOnline-Gespräch, das sich im folgenden dann vor allem mit dem eben vorgestellten Festivalwettbewerb beschäftigt. Dominik Kamalzadeh berichtet für den Standard vom Filmfestival Rotterdam. Arno Widmann (FR) und Bert Rebhandl (FAZ) gratulieren der Schauspielerin Barbara Sukowa zum Siebzigsten.

Besprochen werden Greta Gerwigs "Little Women" (Freitag), Terrence Malicks "Ein verborgenes Leben" (Jungle World, unsere Kritik hier), Gilles Legrands "Die Kunst der Nächstenliebe" (Freitag) und die Serie "Kominsky Method" mit Michael Douglas und Alan Arkin (Freitag).
Archiv: Film

Kunst

Olafur Eliasson, Symbiotic seeing, 2020. Sound in Zusammenarbeit mit Hildur Gudnardottir. Installationsansicht: Kunsthaus Zürich, 2020. Foto: Franca Candrian. © 2020 Olafur Eliasson


Olafur Eliasson ist nicht nur Künstler, sondern auch UNO-Klimaschutzbotschafter. Wie er das verbindet, kann man zur Zeit im Kunsthaus Zürich bewundern: "Es sind neue Skulpturen, Lichtarbeiten, es sind Werke, die die Schwerkraft des Wassers aufheben zum Beispiel. Wechsle die Perspektive, erlebe dich als Teil eines symbiotischen Systems, raunt das Werk" NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico gibt zu, dass sie sich diesem Ansinnen nicht entziehen kann: "Auf den Punkt bringt es die für Zürich realisierte begehbare Installation 'Symbiotic Seeing', die der Ausstellung ihren Namen gibt: Im Bührle-Saal betritt der Besucher einen intergalaktischen Raum. Oder er erlebt einen Tauchgang in der Ursuppe, nebulös verbunden mit organischen Molekülen. Der Sound dazu ist eine Ahnung von Werden, der Geruch erinnert an Cannabis..."

Weitere Artikel: In der taz stellt Waltraud Schwab den Kunstsammler Thomas B. Schumann vor, der fast 800 Bilder von Künstler*innen, die von den Nazis ins Exil getrieben wurden, in seiner Wohnung aufbewahrt - bis vielleicht doch noch mal ein Museum für Exilkunst gegründet wird. Katharina Rustler begutachtet für den Standard im Photoinstitut Bonartes kürzlich entdeckte Fotografien des Wiener Architekten Otto Wagner. Annegret Erhard berichtet in der taz von der Art Genève, im Tagesspiegel berichtet Eva Karcher.

Besprochen werden die große Jan-van-Eyck-Ausstellung im Museum der Schönen Künste in Gent (FR), die CTM-Ausstellung "Interstitial Spaces" im Kunstraum Kreuzberg (taz), eine Ausstellung zum 150. Geburtstag Ernst Barlachs im Hamburger Barlach-Haus (taz), drei Bremer Ausstellungen zur konkreten Kunst (taz) und eine Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Bunny Rogers im Kunsthaus Bregenz (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Eine schöne Posse erzählt Matthias Heine in der Literarischen Welt: Seit 2002 findet sich ein vom Germanisten Jan Knopf vor Urzeiten als Heiner-Müller-Parodie verfasster Text in der Heiner-Müller-Gesamtausgabe von Suhrkamp, die ihn allerdings als Originaltext Müllers ausweist - Folge eines "dreieinhalb Jahrzehnte laufenden Schelmenstücks, in dem die Handlung von Ignoranz, Arroganz und Intrigen vorangetrieben wurde. Seine absurde Pointe: Eigentlich wollte Suhrkamp den Text nie drucken - jedenfalls solange er noch von Jan Knopf war." Mittlerweile wurde der Text sogar schon von Exegeten aufgegriffen. "Das alles, obwohl Knopf den Suhrkamp Verlag mehrfach auf den Fehler hingewiesen hatte."

Der amerikanische Literaturbetrieb streitet um Jeanine Cummins' "American Dirt", der bei uns im April bei Rowohlt erscheint. Grund des Anstoßes, wie Hannes Stein in der Literarischen Welt schreibt: Eine weiße Autorin schreibt hier über Einwanderer aus Mexiko - das Buch sei klischeehaft und führe reale Probleme einem weißen Publikum als Genussangebot zu, lauten die Vorwürfe, die unter anderem die Schriftstellerin Myriam Curba laut gemacht hatte. Für Stein ist die Geschichte "ein neues Kapitel in dem harschen Streit über Cultural Appropriation, den die angelsächsische Welt schon seit Längerem führt. Darf ein Autor, darf eine Autorin aus einer dominanten Kultur über jemanden schreiben, der nicht dieser dominanten Kultur angehört? Kann so etwas gutgehen? Ist das nicht jedes Mal ein Akt des Paternalismus? Kommt dabei nicht zwangsläufig etwas furchtbar Gutgemeintes heraus?" Salon.com fasst die Fronten des Streits in einem Überblick detailliert zusammen.

Zu diesen Fragen passt auch ein ziemlich langer Essay der Schriftstellerin Isabelle Lehn imVerlagsblog Hundertvierzehn, in dem es unter anderem darum geht, "was es für Frauen bedeutet, wenn sie lesend von klein auf lernen, die Welt aus der Perspektive eines Mannes zu betrachten, weil nur diese Perspektive als künstlerisch relevant und gesellschaftlich gewichtig erscheint?"

Weitere Artikel: Eine nun bei der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann in Vechta eingelagerte Kiste mit knapp tausend Seiten aus den frühen Jahren des Schriftstellers legt überraschende Seiten offen, erklärt der Literaturwissenschaftler Markus Fauser in der FAZ: Die Dokumente zeigen Brinkmanns "grafische Fähigkeiten", belegen seine literarische Orientierungsphase und machen den Popliteratur-Pionier schlussendlich als heimlichen Hölderlinianer kenntlich - mehr zu Brinkmanns jungen Jahren auch bei literaturkritik.de. Für die taz unerhält sich Katharina Borchardt mit Julie Otsuka über deren Roman "Als der Kaiser ein Gott war". Gabriel S. Zimmerer plädiert in der NZZ dafür, die Schönheit der Poesie wissenschaftlich-mathematischer Texte mehr zu würdigen. In drei offenen Briefen verneigt sich Hans Christoph Buch in der Literarischen Welt vor dem russischen Formalisten Viktor Schklowski. Der Schriftsteller Thomas Hürlimann erzählt in der NZZ, wie er sich auf hohe See in eine Inderin verliebte, die ihm Jahre später als Fata Morgana wiederbegegnete. Dlf Kultur bringt eine Lange Nacht von Eva Pfister über Hans Fallada, die auch bislang eher nicht zentrale Facetten des Schriftstellers betont: So war er unter anderem auch "ein kompetenter Landwirt".

Besprochen werden unter anderem Bov Bjergs "Serpentinen" (FAZ, Dlf Kultur, außerdem sprach der Sender mit dem Autor), Maggie Nelsons "Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses" (taz), Christian Barons "Ein Mann seiner Klasse" (taz, Zeit, ein Autorengespräch beim Dlf Kultur), Jonathan Franzens Klimawandel-Essay "Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?" (taz) und Regina Porters "Die Reisenden" (FR).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Architektur

Blick von der Dachterrasse der School of Science and Sport am Brighton College. Foto: Oma / Laurian Ghinitoiu


Der Internatscampus der englischen Eliteschule Brighton College (mehr dazu hier) ist ein altes Gemäuer mit spitzen Giebeln, dass die OMA-Architektin Ellen van Loon an Harry Potters Hogwarth erinnerte. Dennoch hat sie auf dem Gelände eine supermoderne, über hundert Meter lange School of Science and Sport errichtet, gekrönt von einer Dachterrasse mit 50-Meter-Sprintstrecke und Blick aufs Meer. Das ganze Gebäude ist voll verglast, man kann überall rein- und durchgucken, erfahren wir. "Es ist eine Schule für heute und für die Zukunft", meint dazu van Loon im Interview mit der NZZ. "All die Kinder, die hier ausgebildet werden, benutzen Social Media. Sie wachsen in einer anderen Zeit auf als der, in welcher diese Typologien geschlossener Gebäude entwickelt worden sind. Das wollten wir in unserem Gebäude auch abbilden. ...  sogar die Wand zum Lehrerzimmer ist voll verglast! Die Erwachsenen haben vielleicht mehr Schwierigkeiten als die Kinder, sich daran zu gewöhnen."
Archiv: Architektur

Bühne

Szene aus Stefanie Sargnagels "Am Wiesnrand" im Volkstheater München. Foto: Arno Declair


Am Volkstheater München hatte Stefanie Sargnagels Stück "Am Wiesnrand" Premiere. Die Autorin verarbeitet darin mit Hilfe von fünf Flöhen ihre Erfahrungen beim Oktoberfest. Standard-Kritikerin Margarete Affenzeller hat sich in Christina Tscharyiski Inszenierung prächtig amüsiert, besonders gut hat ihr das Bühnenbild von Sarah Sassen gefallen: "Auf einem die Bühne füllenden weichen Hügel, der sich bald als imposanter und im Stil von Sargnagels Zeichnungen behaarter Bierbauch entpuppt (mit in Sprungweite befindlichem Brusthügel, Bühne: Sarah Sassen), tänzeln, krabbeln und springen die Flöhe in ihren Wamskostümen (Svenja Gassen) munter vor einer idyllischen Watzmann-Kulisse herum."

Dass die Besoffenen am Ende eingesammelt "und dann in eine Grube gekippt und zur Desinfektion mit Kalk bestreut werden" hat weder Affenzeller gestört noch nachtkritikerin Sabine Leucht, die sich ebenfalls glänzend unterhalten hat: "Das literarische Resumée von Sargnagels mehrtägigem Wiesn-Selbstversuch ist ein bissiges, funkelndes, ins Surreale schwappendes und dennoch maximal menschenfreundliches Pointen-Destillat."

Weitere Artikel: In der taz stellt Thomas Mauch das mit Texten von Heiner Müller zusammengeschnittene Musiktheaterprojekt "Wir sind das Volk - ein Musical" von Laibach vor, das nächste Woche im Hebbel Theater in Berlin zur Aufführung kommt. Arno Widmann unterhält sich für die FR mit der Schauspielerin Ruth Reinecke, die sich nach mehr als 40 Jahren vom Gorki-Theater verabschiedet, über ihr Metier, an dem inzwischen - wie überall - die neuen Medien kratzen: "Früher war das Theater der Ort, an dem sich Öffentlichkeit bildete. Heute stehen Theater eher am Rand der vielfältigen Möglichkeiten von Öffentlichkeit."

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Jaromír Weinbergers "Frühlingsstürme" an der Komischen Oper Berlin (nmz), das Musical "Les Misérables" nach dem Roman von Victor Hugo am Zürcher Theater 11 (NZZ), Verdis "Rigoletto" in München (nmz), Jette Steckels "Hamlet"-Inszenierung im Thalia-Theater (taz), Franziska Marie Gramss' Inszenierung von Ron Hutchinsons Filmbetriebs-Komödie "Mondlicht und Magnolien" am Schlosstheater Celle (nachtkritik), Schillers "Räuber" am Jungen DT in Berlin (taz), Zino Weys Inszenierung von Büchners "Woyzeck" in Stuttgart (FAZ) und Shakespeares "Timon in Athens" am Theatre for a New Audience im Polonsky Shakespeare Center in Brooklyn (Kathryn Hunter schlüpft hier nicht in eine Hosenrolle, sondern spielt Timon als Frau - "At times, Hunter seems to be having too much fun to be a hardline hater", meint in der NYRB Geoffrey O'Brien, der die Aufführung dennoch genossen zu haben scheint).
Archiv: Bühne

Musik

Die Punkband EA80 zählt seit den frühen Achtzigern zu den unbekannten Helden des hiesigen musikalischen Undergrounds. Dass sie kaum jemand kennt, ihre Fans sie aber umso glühender verehren, hat auch mit ihrer legendären Verweigerungshaltung zu tun (man besuche nur einmal deren seit Jahren buchstäblich nichtssagende Website). Jetzt haben sie eine für fünf Euro erhältliche CD-R mit Probeaufnahmen aus vierzig Jahren veröffentlicht - für Benjamin Moldenhauer im Neuen Deutschland Anlass einer Würdigung der letzten voll souveränen Independentmusiker: Die Band klingt "als wären Musik und Text keine Filter vorgeschaltet. Alles direkt in den Magen und ins Herz, ohne Angst vor Pathos, der aber nie glibschig wird, weil Dringlichkeit und Aggressivität Kitsch verhindern." Es "drängt der Eindruck sich auf, dass man hier so etwas wie die Quintessenz von Punk zu hören bekommt, in der Form wie er heute, wenn überhaupt, noch Sinn machen kann." Wir greifen wahllos rein:



Weiteres: Für die taz hat sich Jan Feddersen zum großen Wochenendgespräch mit André Heller getroffen. Besprochen werden 070 Shakes Debüt "Modus Vivendi" (Standard), das Solodebüt von K.I.Z.-Rapper Tarek Ebéné (ZeitOnline) und eine Neuauflage von Neneh Cherrys 1989 veröffentlichtem Album "Raw Like Sushi" (taz) und ein Konzert des Zafraan Ensembles mit dem Kammerensemble Neue Musik Berlin in der Berliner Musikbrauerei (nmz).
Archiv: Musik