9punkt - Die Debattenrundschau

Der Ton wird schärfer

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2019. Deutschland diskutiert über seine Befindlichkeit, und mit der steht es nicht zum besten. Überall werden Umfragen zitiert. 27 Prozent aller Deutschen seien antisemitisch eingestellt, hat laut SZ eine Studie herausgefunden. Und laut einer andere Studie, über die Zeit online berichtet, wollen 60 Prozent der Deutschen "endlich einen Schlussstrich" unter die Vergangenheit ziehen. In der Welt ruft Slavoj Zizek zur Unterstützung der Kurden auf. Das Börsenblatt berichtet über die rasante Konzentration im Buchhandel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.10.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Soll man mit Rechtspopulisten reden? Nein, schreiben im Tagesspiegel Shimon Stein, Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheit Studien, und der Historiker Moshe Zimmermann: "Das ist eben die Zwickmühle der Demokratie: Um wehrhaft zu sein, muss sie Freiheiten einschränken, die sonst als Waffen von ihren Feinden missbraucht werden. Die Bereitschaft zum Dialog, zum Meinungsaustausch, verwenden Populisten als Waffe. Populisten, die 'das System' unterwandern wollen, benutzen die Dialogbereitschaft der Vertreter des 'Systems', um die Grundbegriffe der Demokratie neu zu besetzen - und somit ihr Weltbild zu verbreiten. Man täuscht die 'authentische Demokratie', das 'authentische Volk', die 'authentische Freiheitsliebe' vor und schafft somit eine neue Auslegung der Verfassung, des Grundgesetzes, des Anstandes. Der Dialog wird zum Köder, zur Einladung für die Umwertung der Grundwerte der Demokratie."

Ebenfalls im Tagesspiegel erinnert Malte Lehming die Linke nachdrücklich an das Recht auf freie Meinungsäußerung: "Immer mehr Deutsche beklagen ein repressives Meinungsklima. In der jüngsten Shell-Studie meinten 68 Prozent der Zwölf- bis 27-Jährigen, dass man 'nichts Schlechtes über Ausländer sagen kann, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden'. Laut dem Autor der Studie hat eine Mehrheit der Jugend das Gefühl, dass zu sehr mit Denkverboten operiert wird. Eine Allensbach-Umfrage ermittelte, dass 41 Prozent der Deutschen der Ansicht sind, dass die 'Politische Korrektheit' übertrieben wird. 35 Prozent sagen, freie Meinungsäußerungen seien nur noch im privaten Kreis möglich."

Laut einer anderen repräsentativen Umfrage des Jüdischen Weltkongresses (WJC) hegen"27 Prozent aller Deutschen und 18 Prozent einer als Elite kategorisierten Bevölkerungsgruppe antisemitische Gedanken", meldet Stefan Kornelius indes in der SZ.

"Jetzt erst recht sollten Juden in Deutschland ihren Anspruch deutlich machen, im Land zu bleiben, aber als selbstbewusste Juden", schreibt der Soziologe Nathan Sznaider in der NZZ: "Das muss nicht unbedingt heißen, dass Juden sich bewaffnen sollten, um sich gegen ihre Angreifer zu wehren. Aber es soll auch nicht heißen, blind auf die staatlichen Institutionen und auf den guten Willen der Mehrheitsgesellschaft zu vertrauen."

Und noch eine Umfrage über diese trüben Zeiten: Die Forschungsorganisation "More in Common" legt eine Studie zur Seelenlage der Deutschen vor, deren Ergebnisse beunruhigend klingen. Allerdings sind die Methoden der Organisation, über die sich Christian Bangel von Zeit online mit der "More in Common"-Chefin für Deutschland Laura-Kristine Krause unterhält, umstritten - die Organisation ist in mehreren Ländern tätig und hat auch in den USA eine "ermüdete Mitte" diagnostiziert. Zu Deutschland sagt Krause: "Die Zutaten, die in Großbritannien, Frankreich und den USA, also den anderen More-in-Common-Ländern, zu einer toxischen politischen Atmosphäre geführt haben, die gibt es in Deutschland auch. Sie liegen auf dem Tisch, aber sagen wir: Sie sind noch nicht im Topf. Der Ton wird schärfer, es gibt wenige gemeinsame Informationsquellen, und die Menschen werten diejenigen ab, die sie nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft sehen."

Ganz besonders betrüblich liest sich vor allem ein Befund der Studie: 60 Prozent der Deutschen meinen angeblich, es solle "endlich ein Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit" bezogen werden - der Politologe Yascha Mounk kommentiert ihn in einem Twitter-Thread.

In unserer differenzierten, vielfach durch Machtteilung abgesicherten Gesellschaft ist ein konzertiertes Handeln gegen eine globale Herausforderung den Klimawandel kaum möglich, schreibt Armin Nassehi in der Zeit: "Selbst bei Konsens über Grundziele, wie sie in Resolutionen vereinbart werden, reagieren die unterschiedlichen Instanzen der Gesellschaft nach ihren je eigenen Regeln und Erfolgskriterien. Politik ohne Machtchance ist ebenso unmöglich wie ökonomisches Handeln ohne Markterfolg. Die Funktionsstelle fürs Ganze gibt es nicht, und wo man sie einzurichten sich anschickt, werden die Standards der Moderne unterlaufen."

Vielleicht ist die Bewegung "Extinction Rebellion", die vor allem auf Panik setzt, deshalb intellektuell so dürftig. So schildert sie jedenfalls die taz-Redakteurin Katharina Schipkowski nach Lektüre der Schrift "Common Sense for the 21st Century" des Mitbegründers Roger Hallam: "Mit einem gesellschaftlichen Prozess, in dem kritisch denkende Menschen zusammen Pläne diskutieren und Strategien entwickeln, hat das nicht viel zu tun. Auch nicht mit der Annahme, dass mehrere Köpfe mit unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen schlauer sind als ein einzelner."
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Internet

Hasskommentare im Netz sollen künftig schneller von Algorithmen erkannt und gemeldet werden, schreibt Adrian Lobe in der SZ, gibt aber zu bedenken: Algorithmen besitzen kein Kontextwissen. "Nach Recherchen der Investigativ-Plattform The Intercept hat Facebook 'geschützte Kategorien' wie Gender, Rasse und Religion sowie ungeschützte Kategorien gebildet, die den tausenden menschlichen Prüfern als Handlungsanleitung für die Identifizierung von Hasskommentaren an die Hand gegeben wurden. Der Satz 'Wir sollten alle Muslime ermorden' ist in dieser Logik ein Fall von Hassrede. Der Satz 'Wir sollten alle armen Leute ermorden' dagegen nicht. Weil 'arme Leute' keine geschützte Kategorie darstellt. Wenn nun KI-Systeme mit den - stereotypen und sprachphilosophisch schwierigen - Regeln trainiert werden, würden Hassparolen durchgehen und Werturteile zensiert."
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Politik

Schon Karl May prägte mit seinem Buch "Durchs wilde Kurdistan" das Bild der Kurden als das des "barbarisch Anderen der europäischen Kultur", schreibt Slavoj Zizek in der Welt, um dann vor allem die Linke zu kritisieren, die sich daran störe, dass die Kurden sich auf den militärischen Schutz durch die USA verlassen mussten: "Es ist unsere Pflicht, den Widerstand der Kurden gegen die türkische Invasion in vollem Umfang zu unterstützen und die schmutzigen Spielchen, die westliche Kräfte mit ihnen treiben, rigoros zu verurteilen. Während die unabhängigen Staaten um sie herum langsam aber sicher in einer neuen Form des Barbarentums versinken, sind die Kurden der einzige Hoffnungsschimmer in der Region. Diesen Kampf kämpfen wir nicht nur für die Kurden, sondern auch in unserem eigenen Interesse, denn es geht darum, welche Art von globaler Ordnung hier im Entstehen begriffen ist. Wenn wir die Kurden im Stich lassen, wird sich eine neue Ordnung etablieren, in der es keinen Platz mehr für das emanzipatorische Erbe Europas gibt."
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Kulturmarkt

Die Konzentration im Buchhandel wächst rasant, berichten Christina Schulte und Michael Roesler-Graichen im Börsenblatt. Nachdem sich Thalia die Mayersche einverleibt hat, kauft der Konzern mit Vorliebe kleinere, inhabergeführte Buchläden: "Wirft man einen Blick auf die Buchhandelslandschaft, vor allem auf die Altersstruktur vieler erfolgreicher Buchhändler, lässt sich schon jetzt absehen: Die Filialisten werden sich noch einige Perlen einverleiben können. Buchhändler berichten von jahrelanger erfolgloser Suche nach einem Nachfolger, wenn es keine Lösung in der Familie gibt oder Mitarbeitern das notwendige Kapital fehlt, um sich in die Buchhandlung einzukaufen. Für die Filialisten ist es da ein Leichtes, in die Bresche zu springen."
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Medien

Der frühere Spiegel-Journalist Claas Relotius geht mit dem Medienanwalt Christian Schertz gerichtlich gegen Juan Morenos Buch "Tausend Zeilen Lüge" vor, er wirft Moreno "Falschdarstellungen" in mehr als 20 Stellen vor: Moreno behaupte etwa, Relotius habe 40 Preise erhalten, es seien allerdings nur 19 Preise und zwei weitere Auszeichnungen gewesen, meldet die Berliner Zeitung mit dpa.

In der Welt kommentiert Christian Meier: "Es wirkt ironisch, sogar zynisch, wenn sich der Mann, der dem 'Spiegel' und dem deutschen Journalismus insgesamt einen Glaubwürdigkeitsschaden größten Ausmaßes zugefügt hat, sich nun via Anwalt zum Medienethiker aufspielt (und die 'Zeit' in diesem Fall mit einem Text freundlich sekundiert). 'Morenos Buch müsste blütenweiß sein', sagt Christian Schertz. 'Ist es aber nicht.' Er habe persönlich mit Zeugen gesprochen, 'alle Punkte gegengecheckt'. Und hier kommt, trotz der bitteren Ironie, eine ebenso bittere Wahrheit. Das Buch muss in der Tat blütenweiß sein. Der Text darf allerdings auch nicht ohne Fairness und ohne Augenmaß kritisiert werden, allein mit dem Ziel, das gesamte Buch unglaubwürdig zu machen."

Stefan Niggemeier kritisiert in den Übermedien allerdings dennoch eine als Pointe gemeinte und darum wichtige Episode: Relotius habe behauptet, er lasse sich in einer Klinik behandeln - und wurde angeblich ganz woanders auf dem Fahrrad gesichtet. Lügt er also immer noch? Moreno kann die Sichtung Relotius' auf dem Fahrrad nicht beweisen, so Niggemeier: "Sollte sie tatsächlich nicht stimmen, würde das nicht die Substanz von Morenos Buch und seiner Schilderungen von Relotius bedrohen. Es würde nur eine Schmuckschleife abreißen, die er am Ende noch draufgebunden hat. Moreno hätte sie einfach weglassen können. Aber sie hat das Paket scheinbar so perfekt gemacht. Und es sind ja nicht nur Journalisten, die solche Schleifen lieben, sondern auch Leser."
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