9punkt - Die Debattenrundschau

Konsequent Anführungszeichen benutzen!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2019. Zwei Tage danach wird das ZDF-Interview mit Björn Höcke, das dieser abbrach, eher zwiespältig diskutiert. Die taz sieht darin zwar Journalismus fürs Lehrbuch - bezweifelt aber, dass es der AfD schadet. Spiegel online sieht den vom Interviewer riskierten Crash eher als sterile Inszenierung. Grundsätzlicher analysiert die FAZ die Auswirkung der AfD auf die übrigen Parteien. Le Monde schildert den Fall der marokkanischen Journalistin Hajar Raissouni, der wegen "Unzucht" und einer angeblichen Abtreibung Gefängnis droht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.09.2019 finden Sie hier

Medien

Der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke hat ein Interview mit dem ZDF abgebrochen (unser Resümee). Der Interviewer David Gebhard hatte ihm Videos von Parteigenossen vorgespielt, die er hatte raten lassen, ob bestimmte Aussprüche von Höcke oder von Adolf Hitler sind. Die Situation schaukelte so hoch, dass Höckes Pressesprecher einschritt und verlangte, das Interview neu zu führen. Gebhard lehnte ab. Nichts wird im deutschen Netz und den Medien mehr diskutiert.

Alexander Nabert von der taz ist begeistert: "Das vom ZDF veröffentliche und ungeschnittene Video ist ein wichtiges Dokument, ein Lehrstück. Gebhard lässt sich an keiner Stelle beirren, bleibt hartnäckig, hat gut recherchiert, ist schlagfertig, lässt sich nicht auf Provokationen ein... Dieses Interviewfragment kann nicht nur als Unterrichtsmaterial für den Politikunterricht, sondern auch für Seminare an Journalistenschulen hilfreich sein." Einen Haken gebe es allerdings: "Björn Höcke ist kein normaler Politiker", darum sei der Vofall für ihn keineswegs ein Schaden. Und "die Rechtsextremen wissen, wie sie selbst aus Interviewsituationen, in denen sie nicht gut wegkommen, politisches Kapital schlagen können".

Spiegel-online-Kolumnist Stefan Kuzmany hält die Selbstinszenierung des Interviewers  allerdings nicht für lehrbuchhaft, sondern für steril: "Gedacht offenbar als Entlarvung ist das ZDF-Interview bis dahin nur ein weiteres Dokument des fruchtlosen Versuchs, den Rechten per Sprachkritik beizukommen. Schaut her, wir haben herausgefunden: Höcke klingt ja wie Hitler! Das allerdings wussten wir bereits."

Stefan Winterbauer wirft Medien bei Meedia vor, Höcke teilweise tendenziös zu ziteren: "Dass zahlreiche Medien und auch der Deutsche Journalisten-Verband die Höcke-Zitate 'massive Konsequenzen' und 'wissen nicht, was kommt' aus dem Zusammenhang reißen und eine diffuse Drohung Höckes gegen das ZDF, den öffentlichen Rundfunk, die Medien, die Demokratie oder was auch immer daraus ableiten, ist aber eben auch nicht fair und Wasser auf die Mühlen jener, die dem Medienbetrieb extrem kritisch gegenüberstehen."

Mit Unbehagen beobachtet in der Berliner Zeitung Harry Nutt, wie rhetorisch aufgerüstet die Diskussion um das Höcke-Interview ist: "Das Gespräch ist zu einem viralen Hit geworden, weil es hinreichend Stoff für die emotionalen Verwertungsketten der politischen Lager bietet. Bei aller Aversion gegen den unsympathischen Herrn Höcke zeigt es aber auch, dass die Versuche, einen wie ihn auf offener Szene demaskieren wollen, nicht wirklich erfolgreich sind - wie dramaturgisch geschickt sie auch immer angelegt gewesen sein mögen."

Sollen bei Springer nach dem Einstieg des Investors KKR nun doch Stellen abgebaut werden? Gregory Lipinski bündelt bei Meedia verschiedene Berichte und Gerüchte zum Thema: "Erst vor wenigen Tagen hatten Berichte die Springer-Belegschaft verunsichert, wonach der Bild-Zeitung eine Verkleinerung der Redaktion um 20 Prozent drohe. Noch deutlicher solle der Personalabbau bei der Welt-Gruppe erfolgen, an der Verlegerin Friede Springer und Vorstandschef Döpfner weiter festhalten wollen."
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Europa

Cem Özdemir aus der Führungsspitze der Grünen verdrängt, Aydan Özoguz als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung abgelöst und überhaupt: "Kein einziger der Minister und Ministerinnen der jetzigen Regierung besitzt einen Migrationshintergrund, kein einziger Staatssekretär und nur acht Prozent der Abgeordneten im Bundestag, obwohl in unserem Land 25 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund haben. Wie lange kann das gut gehen", fragt die Migrationsforscherin Naika Foroutan auf Zeit online. Bedeutet der Abgang der beiden Politiker, dass Migranten "als Zielgruppe nicht relevant sind? Manchmal reicht der Verdacht, um sich abzuwenden: Die SPD verliert scharenweise Menschen mit Migrationshintergrund, die ihr über Jahrzehnte ihre Stimme gaben. Das neue deutsche Wir, das plural und inklusive Migranten und Migrantinnen gedacht werden sollte, rückt durch die politische Diskursverschiebung in immer weitere Ferne. Welches politische Gesicht steht heute eigentlich in der ersten Reihe für die Migrationsfrage?"

Grundsätzlich denkt Paul Ingendaay in der FAZ über die AfD und die Auswirkung auf ihre politische Konkurrenz nach. Da alle "Altparteien" (so die hämische Bezeichnung der AfD) nur noch damit bschäftigt sind, "klare Kante" (so die papierne Rhetorik ihrer Gegner) zu zeigen, sei die Folge, "dass die selbsternannten 'demokratischen Parteien' ihre eigenen Konturen bis zur Unkenntlichkeit verwischen und schon deshalb an demokratischem Elan einbüßen: Sie schrauben ihre Ansprüche in den Bundesländern auf das Ziel herunter, Regierungen mit AfD-Beteiligung zu verhindern. Damit lassen sie nicht nur zu, dass der politische Gegner sie unwiderruflich verändert, sondern überspielen eigene Verluste beim Wahlvolk mit frischer Aggression, die sie als inhaltliche Programmatik ausgeben."
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Gesellschaft

In der SZ plädiert Laura Weißmüller dafür, die Spielregeln im Straßenverkehr der Großstädte zu verändern und den privaten Autoverkehr weitgehendst zu verbannen. Denn jedes Auto steht im Schnitt 23 Stunden pro Tag nur rum und belegt zehn Quadratmeter Platz: "Wer aktuell in München eine Wohnung sucht, weiß, was ein solcher Raum wert ist. Und wie nötig er gebraucht wird: für Fahrrad-Highways und Brücken nur für Fußgänger und Fahrradfahrer wie in Kopenhagen. Für lebenswerte öffentliche Räume und Parks wie in Barcelonas Superblocks, wo ganze Viertel autofrei sind. Oder für Wohnbauten, die den eklatanten Mangel an bezahlbaren Wohnungen endlich erfolgreich bekämpfen könnten. Die lebenswerte Stadt ist ja keine ferne Utopie, von der sich nur auf pastellfarbenen Computerzeichnungen träumen lässt. Es gibt viele Beispiele, wie sie funktionieren kann."

Das historische Museum in Amsterdam schafft den Begriff "Goldenes Zeitalter" ab. Er bezeichnet jene Phase im 17. Jahrhundert, in der die Niederlande die größte Machtfülle und Pracht entfalteten. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte kritisierte das und sagte, man solle die dunklen Seiten benennen, "aber nicht das Etikett entfernen". Ulrich Gutmair gibt ihm in der taz recht: "Der Begriff ist keine adäquate Beschreibung. Klüger als die Begriffsstürmer ist allerdings Mark Rutte. Denn auch Begriffe haben ihre Geschichte, werden selbst irgendwann zu historischen Artefakten. Es gibt seit jeher eine einfache Methode, damit umzugehen: konsequent Anführungszeichen benutzen!"
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Politik

Marokko gilt als religiös relativ gemäßigtes Regime, in dem der König darüber wacht, dass der Islamismus keine Punkte macht. Dem steht der Fall der Journalistin Hajar Raissouni entgegen, die wegen "Unzucht" festgenommen wurde, angeblich weil sie nicht eheliche Liebesaffären hatte und eine Abtreibung durchführen ließ. In Le Monde schreibt die Migrationsforscherin Mehdi Alioua aus Rabat über den Fall: "Hajar Raissouni riskiert nicht nur bis zu zwei Jahre Gefängnis und befindet sich derzeit in Untersuchungshaft, als ob sie eine Gefahr für die Gesellschaft wäre, sie musste sich auch erniedrigenden gynäkologischen Untersuchungen unterziehen, die im Rahmen der Ermittlung durchgeführt wurden, die fast alles über ihre Privatsphäre enthüllte. Es ist ein echter Alptraum! Wir sind im 21. Jahrhundert eingeschlafen und im 19. Jahrhundert benommen aufgewacht!" In Marokko soll es 600 bis 800 illegale Abtreibungen täglich  geben, so Alioua weiter - und zwar, eben weil sexuelle Beziehungen vor der Ehe tabu und die Menschen darum nicht über Verhütung informiert sind.
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