9punkt - Die Debattenrundschau

Foucault nannte das Diskurspolizei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2018. Leise Hoffnung nach den Midterm-Wahlen: Die Demokraten sollen sich das Konfetti aus dem Haar schütteln und jetzt bloß keinen Mist bauen, meint die New York Times. In der FR spricht Yehuda Bauer über die Zeit, als die Palästinenser noch keine Palästinenser waren. Die FAZ giftet gegen Bundesjustizministerin Katarina Barley, die das Leistungsschutzrecht in Frage stellte. Und Amazon verdient laut Handelsblatt jeden fünften Euro im deutschen Buchmarkt (off- und online zusammengenommen).
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.11.2018 finden Sie hier

Politik

Die Demokraten kontrollieren nach den Midterm-Wahlen den Kongress, die Republikaner haben ihre Mehrheit im Senat noch erhöht. Die New York Times kommentiert das zwiespältige Ergebnis nüchtern: Demokraten sollten sich das Konfetti aus dem Haar schütteln und keinen Mist bauen: "Mit dem Repräsentantenhaus in der Kontrolle der Demokraten, geben die nächsten zwei Jahre ihnen die Gelegenheit zu zeigen, dass es ein besseres Modell der Politik gibt, dass der Kongress in der Lage ist, mehr für die Amerikaner zu tun, als Steuern für die Reichen zu senken und die Gesundheitsversorgung aller anderen zu bedrohen."
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Stichwörter: Midterm-Wahlen 2018

Gesellschaft

Die Vorsitzende von Pro Familia Hamburg, Kersten Artus, hat den Namen des Mannes öffentlich gemacht, der seit einiger Zeit Abtreibungsärztinnen wegen des Informationsverbots mit Klagen überzieht. Er heißt Yannic Hendricks, berichtet Juliane Loeffler in Buzzfeed. Hendricks hatte unter anderem unter Pseudonym Interviews gegeben (unser Resümee) und seine Aktionen als sein "Hobbby" bezeichnet. Nun klagt Hendricks wegen der Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte gegen Artus: "'Meine Auffassung ist, dass dieser Mann kein Recht auf Anonymität hat, weil er eine Person des öffentlichen Lebens ist und das Thema selber hochpusht', sagte Artus gegenüber BuzzFeed News. 'Da ist das Private dann eben politisch, da kann er sich nicht vor wegducken. Ich bin auch Journalistin und lasse mir den Mund nicht verbieten.'"

Die Debatte über die Kolumnistin Margarete Stokowski und ihre Entscheidung, nicht in der Buchhandlung Lehmkuhl zu lesen, weil dort in einem Regal auch Bücher der neuen Rechten stehen, geht weiter. Der Blogger (buzzaldrins.de) und Buchhändler Linus Giese unterstützt Stokowskys Position in der taz: "Für mich als Buchhändler gibt es einen Unterschied zwischen der Erfüllung eines Kundenwunsches und dem aktiven Präsentieren rechter Literatur. Ohnehin treffen wir dauernd aus tausenden Neuerscheinungen eine Auswahl. Für einen unserer Kunden, der an einem Film über die AfD arbeitet, bestelle ich Bücher, die ich selbst bedenklich finde - die er aber für seine Arbeit braucht. Deshalb müssen die Titel aber noch lange nicht im Buchladen stehen." Ähnlich sieht es Thorsten Jantschek in einem Kommentar für Dlf Kultur.

Marc Reichwein fasst sich in der Welt angesichts der Stokowski-Debatte an den Kopf: Soviel schöne Werbung für die Rechten! Und an die Adresse der Spon-Kolumnistin schreibt er: "Margarete Stokowski will für eine freie, offene, feministische Gesellschaft stehen. Mit ihrer Absage steht sie eher für betreutes Denken. Du sagst mir, was du liest (oder zum Lesen empfiehlst), und ich sage dir, ob du das darfst, wenn du noch mit mir sprechen willst. Foucault nannte das Diskurspolizei."

Künstliche Intelligenz wird Jobs vernichten, aber keineswegs alle, meint der KI-Forscher Toby Walsh im Gespräch mit Chris Köver in Netzpolitik: "Arbeit wird wieder altmodisch aussehen. Ein Beispiel: Einer der jüngsten Berufe auf dem Planeten ist der des Uber-Fahrers. Dieser Job wird sehr bald wieder verschwinden, Uber testet schon selbstfahrende Wagen. Einer der ältesten Berufe der Menschheit hingegen ist der des Zimmermannes. Diese altmodischen Jobs, die Kunstfertigkeit erfordern, werden bleiben. Wir werden Dinge schätzen, die von Menschenhand gemacht sind."
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Ideen

Im Interview mit der FR spricht der israelische Holocaustforscher Yehuda Bauer über das Dritte Reich, Antisemitismus damals und heute und die Flüchtlingspolitik heute. Problematisch findet er, wie Flüchtlinge trotz ihrer Unterschiedlichkeit heute einheitlich gelabelt werden: "Auch hier bei uns existieren sehr viele verschiedene ethnische Gruppen, von einer Einheit kann man nur sehr bedingt sprechen. Nehmen Sie die Palästinenser. Es gibt sie seit 1912. Das war das erste Mal, dass Palästina in einer Zeitung in Haifa erwähnt wurde. Bis dahin war das, was jetzt Palästina ist, ein Teil Syriens. Wenn überhaupt, haben sich die Bewohner als Südsyrer identifiziert. Dann kamen die Kolonialisten, Franzosen und Engländer, erst jetzt entstand Palästina, das Volk der Palästinenser. Es ist ganz neu. Das heißt aber nicht, dass es kein Volk ist. Es ist natürlich ein Volk. ... Wenn eine große Gruppe von Menschen sagt, wir sind ein Volk, dann sind sie ein Volk. Bleiben wir bei den Palästinensern. Die Masse der Bevölkerung stammt von Bauern ab: Griechen, Juden, Römern, die das Land bevölkerten. Da man weniger Steuern zahlen musste, wenn man Moslem war, trat man zum Islam über. Mit den Juden war es ähnlich."

In der NZZ blickt der Philosoph Reinhard K. Sprenger skeptisch auf die Weltverbesserer. Er hält es mehr mit den "Helden der Negativität", die lieber Übel beseitigen, als Gutes schaffen wollen: "Diejenigen, die dem zustimmen, orientieren sich an einer negativen Realität, von der sie sich abgrenzen wollen. Das hat sehr praktische Vorteile: Die Aufforderung, etwas nicht zu tun, umgeht die Versuchung, etwas 'einzig Richtiges' absolut zu setzen. Sie behauptet keine allein denkbare Wahrheit. Sie bekennt sich zur Mehrdeutigkeit: Im Wahren ist immer auch etwas Falsches, im Vernünftigen immer auch etwas Unvernünftiges, in der Freiheit immer auch etwas Zwang. Eine negative Ethik hat also kein Ziel - außer Schaden zu vermeiden. Sie will keinen Endzustand erreichen, kein Paradies auf Erden. Es ist gerade der Gegenentwurf zum Perfektionsideal, zur breitbeinigen Basta!-Politik, die überall ins Kraut schießt."

Die Digitalisierung bedeutet einen gewaltigen Umbruch. Das muss man - bei aller Kritik im Detail - positiv sehen, meint in der NZZ der Philosoph Andy Clark. "Wir leben jetzt in einer Welt, "die mehr durch Möglichkeit, Durchlässigkeit, Wandel und Verhandelbarkeit geprägt ist denn durch veraltete Vorstellungen oder fest umrissene Wesenheiten und Fähigkeiten. Diese Welt erschließt bemerkenswerte Potenziale, auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene. Teilen und Gruppensolidarität sind nun einfacher denn je zuvor, und die Kartografierung neuer Gemeinschaften anhand ihrer Verbindungen und Spuren im Internet führt dazu, dass viele zuvor verborgene Demografien auf gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Ebene wahrgenommen und respektiert werden."

Außerdem: In der Welt erklärt Gusti Yehoshua Braverman, Vorsitzende der Diaspora-Abteilung der World Zionist Organization, warum Antizionismus Antisemitismus ist.
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Medien

FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld kann den Schaum vorm Mund mal wieder nicht bremsen. Die SPD-Justiziministerin Katarina Barley hat sich ausgerechnet auf einem Zeitungsverlegerkongress schüchtern gegen ein Leistungsschutzrecht für Presseerzeugnisse ausgesprochen: "Damit legt ausgerechnet die Vertreterin der Bundesregierung, die das Leistungsschutzrecht in Deutschland beschlossen hat, die Axt an eine gleichgelagerte Lösung für die EU, die im Europäischen Parlament nach einem harten Kampf inklusive eines von Lobbyvertretern der Digitalkonzerne gesteuerten Shitstorms (der an dieser Stelle in allen Einzelheiten dargelegt wurde) ausgehandelt worden ist."
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Kulturmarkt

(Via turi2) Eine Studie der Universität Sankt Gallen zeigt, wie stark die Marktmacht Amazons unter anderem bei Büchern ist. Das Handelsblatt stellt die Studie vor: "Weltweit setzte das Unternehmen zuletzt schon fast 180 Milliarden Dollar um. In Deutschland waren es nach eigenen Angaben 17 Milliarden Dollar - fast viermal so viel wie die Warenhausketten Karstadt und Kaufhof zusammen. Bei Büchern geht laut der Exklusivstudie fast jeder fünfte Euro über Amazon, bei Elektroartikeln sowie Sport und Freizeit sind es 16 Prozent Marktanteil, bei Baumarkt und Garten vereint Amazon immerhin ein Zehntel des Gesamtmarkts auf sich - wohlgemerkt aller Umsätze, also sowohl online als auch im Laden."
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Stichwörter: Amazon, Buchmarkt, Handelsblatt