9punkt - Die Debattenrundschau

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26.04.2017. In Le Monde kann es der Historiker Pascal Ory kaum fassen: Ein Zentrumsmann könnte Präsident in Frankreich werden. Aber es könnte ihm ergehen wie Matteo Renzi, fürchtet Politico.eu. Sigmar Gabriel wird nicht von Benjamin Netanjahu empfangen. Dabei fühlt er stark mit Israel, erklärt er in der Berliner Zeitung, denn "Sozialdemokraten waren wie Juden die ersten Opfer des Holocaustes". Der Freitag fürchtet, dass linke und rechte Identitätspolitik verwandter sind, als ihnen klar ist. Und die FAZ staunt über die brummende Musikindustrie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.04.2017 finden Sie hier

Europa

Auch Matteo Renzi wurde einst durch eine begeisterte Wählerschaft ins Amt getragen. Seine Geschichte sollte eine Mahnung für Emmanuel Macron sein, meint Mujtaba Rahman bei politico.eu. "Renzis Sieg - und die Unterstützung von Italienern, die sich nach Wandel sehnten - gaben ihm politisches Kapital für eine Programm ökonomischer Reformen, das für die Maßstäbe seines Landes weitreichend und kühn war und schnelle Erfolge bringen sollte. Doch was es nicht lieferte, war eine zusammengeschweißte reformorientierte Mehrheit im Parlament, und so erlahmte der Schwung sehr schnell."

Der Historiker Pascal Ory kann es in Le Monde kaum fassen. Mit Emmanuel Macron ist erstmals in Frankreich einem Mann des Zentrums ein Sieg gelungen - und das in einem Land, das durch sein Mehrheitswahlsystem bei der Präsidentschaftswahl auf klare Konfrontation von rechts und links angelegt ist. Selbst Giscard d'Estaing sei verglichen damit nur eine Figur der reorganisierten Rechten gewesen. Jetzt fordert Ory von Macron Reformen: "Ein Präsident Macron müsste also das Wahlrecht in einem klar proportionalen Sinne reformieren - und dies auch auf munizipaler Ebene - um in die Dauer einzuschreiben, was bisher nur das Ergebnis einer glücklichen Verkettung der Ereignisse ist, und dies obwohl der Macronismus nur die abgemilderte Form der westlichen Desillusionierung ist, der bislang nur zu Populismus führte."

Großer Ärger um Außenminister Sigmar Gabriel, den Benjamin Netanjahu auf dessen Israelreise nicht empfangen will, weil er auch regierungskritische NGOs besuchen wollte. In einem Text in der Berliner Zeitung rechtfertigt sich Gabriel - und verdoppelt die Dosis Peinlichkeit. Die Sozialdemokraten, schreibt er, seien schließlich historische Israel-Freunde: "Diese pro-israelische Einstellung wurde zum Markenzeichen der deutschen Sozialdemokratie. Sozialdemokraten waren wie Juden die ersten Opfer des Holocaustes. Die einen waren Opfer politischer Verfolgung, die anderen des Rassenwahns."

Etwas mehr Sensibilität wünschte sich in der SZ der Historiker Stephan Lehnstaedt auch im deutschen Umgang mit den Polen, selbst wenn deren Geschichtspolitik unter Kaczyński nationaler werde: "In keinem Land gab es so viele Judenretter wie in Polen. Und mit Ausnahme der Sowjetunion nirgendwo so viele nichtjüdische Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus. Die polnische Regierung leitet aus diesen Tatsachen Selbstbewusstsein ab und begründet damit politische Ansprüche in der Gegenwart. Umso ärgerlicher ist es für Warschau, westlich der Oder auf weitgehende Ignoranz zu stoßen, denn in Deutschland und Europa zentriert sich das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg auf den Holocaust. Die eigenen Helden und Opfer treten damit in Konkurrenz zu 'fremden' Juden - selbst wenn drei Millionen polnische Juden im Holocaust ermordet wurden. In dieser Lesart finden weder das eigene Leid noch der Beitrag für die Freiheit des Westens Anerkennung.
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Ideen

Im Freitag setzt sich Leander F. Badura mit dem "Blockwartdenken" einer angeblichen Linken auseinander, die permanent nach Spuren "kulturelle Aneignung" und Zurschaustellung "weißer Privilegien" fahndet: "Der Vorwurf der kulturellen Aneignung fügt sich passgenau in das Konzept des Ethnopluralismus ein - einer Lieblingsidee der Neuen Rechten, die besagt, dass jede 'Volksgruppe' eine eigene Kultur habe und gefälligst auch bei dieser bleiben solle. Das ist nicht nur historisch betrachtet Unsinn, es entspricht auch eins zu eins dem Kulturbegriff alter und neuer Rechtsradikaler. Bevor die Nazis einst dazu übergingen, die Juden systematisch zu vernichten, wiesen sie ihnen gesonderte Plätze zu. Manche jüdische Komponisten und Musiker durften zwar noch arbeiten - aber nur Werke spielen, die von Juden komponiert worden waren. Die deutsche Kultur sollte 'rein' gehalten werden."

Wo der Wahnsinn kultureller "Reinheit" hinführt, beobachtet Veronika Hartmann für die NZZ gerade in der Türkei: "Was Präsident Erdogan als 'richtige' Kunst und Kultur betrachtet, erklärte er ebenfalls ausführlich: 'Ein Kulturverständnis ohne Moral führt uns höchstens in die Entartung', sagte er und fügte hinzu: 'Das Ziel von Kunst und Kultur besteht darin, dass der Mensch geistige und moralische Reife erlangt.' Als dabei hinderlich betrachtet er den 'Kulturimperialismus' aus dem Westen und findet, dass die Türkei sich auf ihre nationalen und einheimischen Werte besinnen sollte: 'Wenn man heute bei einer Person auf Istanbuls Straßen nicht mehr anhand der Körpersprache, der Kopfbedeckung, der Schuhe und der Kleidung erkennt, welcher Kultur sie angehört, dann bedeutet dies, dass wir uns im Würgegriff kultureller Dürre befinden.'"
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Kulturpolitik

Wenig Freude empfindet Manuel Brug in der Welt über die zusätzlichen Millionen, die die Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters für die Hauptstadtkultur locker gemacht hat. Da werden nur die Satten gestopft, meint er: "In diesem Land wird die Schere zwischen den angeblichen Eliten und den Bedürfnisbefriedigern in der Provinz weiter auseinanderklaffen. Dort stehen Häuser wie das Theater Hagen oder die Dauerbaustelle Rostock am Abgrund, in Berlin aber wird geprasst. Und deshalb regt sich auch keiner so wirklich über die Fehlplanung hinsichtlich der Staatsopernrenovierung mehr auf. ... Einnahmeausfälle - offenbar egal".
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Internet

Adrienne LaFrance bekennt in Atlantic ihre große Skepsis gegenüber Jimmy Wales' Idee einer Wikitribune (unser Resümee): Professionelle Journalisten sollen dort recherchieren, freiwilllige, und unbezahlte Mitarbeiter sind für das Fact checking zuständig. Wales betreibt gerade Crowdfunding für die Journalisten. Die Crux für LaFrance : "jemand, der für seine journalistische Arbeit bezahlt wird, verkehrt nicht auf gleicher Ebene mit jemand, der unbezahlt ist. Und unbezahlte journalistische Arbeit würde professionellem Journalismus schaden. Der Unterschied zwischen einem Profi und einem Amateur muss nicht in der Begabung liegen, aber er ist messbar in der Zeit und in anderen Ressourcen, die gebraucht werden, um einen Job zu machen."

Der Verband der Zeitschriftenverleger hat sich gestern scharf gegen das von der Bundesregierung geplante "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" ausgesprochen, das soziale Medien zur Feststellung und Löschung von Fake News verpflichten soll, berichtet Markus Reuter bei Netzpolitik. In der Erklärung heißt es: "Statt eines unausgegorenen Gesetzes, das vor der Wahl durch den Bundestag getrieben werden soll, sollten alle Kräfte an der konsequenten Durchsetzung des bereits geltenden Rechtes arbeiten." Hierzu werde von den Verlegern ein Fünfpunkteplan formuliert, am rätselhaftesten klinge dieser: "Es geht nicht nur darum, rechtswidrige Veröffentlichungen zu bekämpfen. Umgekehrt muss auch verhindert werden, dass Quasi-Monopolisten wie Facebook nach eigenem Gutdünken bestimmte rechtmäßige Inhalte nicht veröffentlichen. Deshalb müssen solche marktbeherrschende Plattformen allen rechtmäßigen Inhalten diskriminierungsfreien Zugang gewährleisten."

Erinnert sich noch jemand an das große Klagen der Musikindustrie, die ihr Geschäftsmodell durch die Digitalisierung und die angebliche Kostenlosmentalität ihrer Kunden ruiniert sah? Da konnte man sich den Mund fusselig reden, dass einfach nur kundengerechte Angebote fehlten, es nützte nichts. Und heute? Da schluckt selbst die FAZ: "Die Einnahmen der Musiklabels aus dem Streaminggeschäft sind im vergangenen Jahr weltweit um 60 Prozent nach oben geschnellt. Damit konnten die Musikabonnements die Einbußen aus dem mittlerweile stark schrumpfenden Geschäft mit Musikdownloads und den seit vielen Jahren bröckelnden CD-Verkäufen mehr als wettmachen."

Außerdem: FAZ-Redakteurin Hannah Bethke bezweifelt im Feuilleton, dass das Internet zu mehr Demokratie führt.
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