Efeu - Die Kulturrundschau

Theatralisch, aber nicht laut

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26.04.2017. ZeitOnline spricht mit Jonathan Littell über seine Doku "Wrong Elements", die sich mit Ugandas Kindersoldaten befasst. Die SZ lernt mit Pierre Klossowski, an den profanen Eros zu glauben. Die NZZ feiert den Jazzpianisten Jean-Paul Brodbeck, der soulige Hitze in die deutsche Innigkeit brachte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2017 finden Sie hier

Film


Dominic Ongwen unterschreibt seine Übergabe an die Afrikanische Union. Foto: Neue Visionen

In seinem ersten Dokumentarfilm "Wrong Elements" befasst sich der Autor Jonathan Littell mit dem Schicksal der Kindersoldaten aus Uganda, die jahrelang im Auftrag von Joseph Kony mordeten. Für ZeitOnline hat Felix Stephan ein ausführliches Gespräch mit dem Schriftsteller über dessen Film geführt. Unter anderem geht es darum, warum er sich darin mit den Tätern und nicht mit den Opfern des Konflikts beschäftigt: "Das vielleicht faszinierendste Beispiel ist Dominic Ongwen. Er wurde nach eigenen Angaben als 14-Jähriger entführt; vielleicht war er auch erst neun oder zehn Jahre alt. Er stieg dann in den Reihen der LRA auf, bis er zum Führungsstab gehörte. Ongwen ist die ultimative Fallstudie." Dass auch die ugandische Armee Kriegsverbrechen beging, ist juristische dagegen nicht relevant: "Der Internationale Gerichtshof in Den Haag argumentiert ganz offiziell, dass die Entscheidungen der ugandischen Armee getroffen worden waren, bevor der Gerichtshof überhaupt gegründet wurde, weshalb sie außerhalb seiner Zuständigkeit lägen. Heute ist der einzige, der wegen der grauenhaften Verbrechen, die während dieses Krieges begangen wurden, vor Gericht steht, Dominic Ongwen."

Nach Ekkehard Knörers gestriger Lobeshymne, rät nun auch taz-Kritiker Toby Ashraf nach der Sichtung von "Der traumhafte Weg" dringend dazu, sich "von der Eigenwilligkeit einer Angela Schanelec in jedem Fall verführen zu lassen." Auch Dietmar Dath ist in der FAZ hin und weg: "Freiheit der Empfindung, selten, schön."

Im Freitag gratuliert Michael Girke dem Filmkritiker Helmut Färber zum 80. Geburtstag: "Sein Filmschreiben ist immer auch Erinnerungsarbeit gewesen, Bewusstmachung des Gespräches, das Filme und Menschen über Zeiten hinweg miteinander führen. ... Seine Sprache ist von Cuts durchsetzt, macht so beständig ungesehene, unvermutete Zusammenhänge sichtbar." Als Hommage an Färber zeigt das Berliner Kino Brotfabrik heute Abend Kenji Mizoguchis "Sansho Dayu" aus dem Jahr 1954 als 35mm-Kopie.

Weitere Artikel: Für den Standard interviewt Sven von Reden den Regisseur Lucas Belvaux, dessen dessen beim Filmfestival Crossing Europe in Linz gezeigter Film "Chez Nous" implizit davon handelt, wie sich die Mitte der französischen Gesellschaft für den Front National zu begeistern beginnt. Geri Krebs resümiert in der NZZ das Dokumentarfilmfestival Visions Du Reel in Nyon. Christine Stöckel stellt in der taz Barbara Fickert vor, die auf ihrem Blog die Tonspuren der Film-Audiodeskriptionen für Blinde bewertet.

Besprochen werden Monja Arts Debüt "Siebzehn" (Standard), James Gunns Comic-Blockbuster "Guardians of the Galaxy Vol. 2", der laut Andrey Arnold von der Presse "das Beste ist, was unsere Blockbusterkino-Galaxie zu bieten hat", und die Serie "Sneaky Pete" (Freitag).
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Kunst

Für die SZ besucht Jörg Heiser die Ausstellung zum Intellektuellen-Künstler Pierre Klossowski im Berliner Schinkel Pavillon und erlebt in Schund und Lüsternheit den Ausweg aus der Gewalt: "Im ungelenken, profanen Eros findet Klossowski Glauben. Dies ist kein naives Modell sinnlicher Spiritualität, sondern der Auseinandersetzung mit Nietzsche und de Sade abgerungen. Bei letzterem diagnostizierte er 1933 einen umgekehrten Ödipus-Komplex, also Mutterhass. Den Mut zur abgründigen Perversion rettet Klossowski für sich, indem er das Grauen und die verbrecherische Gewalt bei de Sade in Zärtlichkeit und Witz verwandelt." (Bild: Pierre Klossowski: Les barres parallèles, 1976)

Weiteres: In Köln ist die Art Cologne gestartet. Im Interview mit dem Monopol Magazin verrät ihr Direktor Daniel Hug, warum er nach Berlin expandieren will, die Art Basel aber bitte nicht nach Düsseldorf kommen sollte: "Wenn die Schweizer nun aber überall in der Welt Ableger gründen, dann haben sie eine solche Macht über den Kunstmarkt, dass das viel regionale Kultur verdrängt. Das ist auch eine Form von Kolonialismus."

Besprochen wird die Markus-Lüpertz-Ausstellung im Leipziger Museum für bildende Künste (die laut Andreas Platthaus in der FAZ überhaupt nicht schwerdeutsch daherkomme).
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Bühne

Im Standard hilft Ronald Pohl mit einem kleinen Leitfaden durch das Werk von Heiner Müller, dessen Aktualität der Band "Für alle reicht es nicht" behauptet: "Unglück: Ist das A und das O in der Müller'schen Welt. Gegen den Kapitalismus, die Bestie 'mit der Blutbahn der Banken', setzt die in Rätseln redende Sphinx mit der Davidoff-Zigarre auf die Unduldsamkeit der Unterdrückten."

In der taz porträtiert Sascha Ehlert die Berliner Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Nora Abdel-Maksoud, die uns mit subversiven Stücken vor "unendlichem Spaß und lähmender Sattheit" erretten will.
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Musik

In der NZZ porträtiert Ueli Bernays den Jazzpianisten Jean-Paul Brodbeck, dem es auf seinem neuen Album "Extra Time" mitunter gelingt, "die deutsche Innigkeit mit einem swingenden Twist aufzuwühlen und der fiebrigen Romantik soulige Hitze zu verleihen." Zu tun hat das mit Brodbecks spezifischer Musikalität, erfahren wir: "In seinem Spiel dient seine Fingerfertigkeit und Anschlagskultur stets der harmonischen Fügung und der Melodie, die trotz kompositorischen Vorgaben oft den Charakter spontaner Expressivität bewahren." Hier eine Hörprobe aus dem neuen Album:



Besprochen werden das Berliner Konzert von The Jesus and Mary Chain ("brachial laut", freut sich Andreas Busche im Tagesspiegel), das neue Album von Feist (Welt), das neue Album der Les Amazones d'Afrique (Freitag) und der Auftakt des Berliner "Intonations"-Festivals (Tagesspiegel).
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Stichwörter: Jazz, Brodbeck, Jean-Paul, Feist, Twist

Literatur

In Deutschland liefern sich diverse Verlage ein wildes Kopf-an-Kopf-Wettrennen darum, wer Walt Whitmans vor kurzem entdeckten, gemeinfreien Roman "Life and Adventures of Jack Engle" als erster veröffentlicht, berichtet die NZZ. Das hat auch Folgen für die von dtv für 2018 angekündigte Übersetzung des Whitman-Experten Jürgen Brôcan: "Das Projekt, teilt der enttäuschte Übersetzer mit, sei einstweilen auf Eis gelegt."

Heikel findet es Erhard Schütz im Freitag, wenn nun allerorten in der Literaturgeschichte nach Romanen geforscht wird, die Trumps Triumph vorhergesagt haben sollen. Keines der einschlägig genannten Werke von George Orwell, Herman Meville, Philip Roth und Sinclair Lewis kriege das Phänomen Trump und dessen politische Rhetorik wirklich zu fassen. "Romane sind nun einmal weder Orakel noch Handlungsanweisungen. Wenn sie, und gerade die orakelnden, satirischen oder kontrafaktischen, etwas sind, dann Mittel zur Differenzschärfung und nicht zur Deckungssuche. ... Diejenigen, die jetzt wieder in Romanen nach Vorausbildern suchen, vertrauen der Kraft der Literatur, wie ja diese Romane selbst es taten; die Welt des Trumpismus aber liegt diesseits", schreibt Schütz: "Während Nero noch Verse verfasste, sogar Stalin, Gaddafi immerhin Erzählungen, vergnügt sich Trump mit Twittern - von nichts zu erreichen, das mehr als 140 Zeichen oder ein Argument hat."

Weiteres: Der SWR bringt eine Hörspieladaption von Aslı Erdoğans Roman "Die Stadt mit der roten Pelerine". Willi Winkler schreibt in der SZ zum Tod von Robert Pirsig. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat einen Mitschnitt von Jens Balzers Vortrag "Superhelden - Gesellschaftsbilder eines populären Genres" online gestellt.



Besprochen werden Margaret Atwoods "Die steinerne Matratze" (NZZ), E. C. Osondus "Dieses Haus ist nicht zu verkaufen" (NZZ), der von Thilo Diefenbach herausgegebene Band "Kriegsrecht - Neue Literatur aus Taiwan" (Tagesspiegel), Jakob Noltes "Schreckliche Gewalten" (Tagesspiegel), Laurent Binets "Die siebte Sprachfunktion" (FR), der neue "Lucky Luke"-Band (Freitag), Ziemowit Szczereks "Mordor kommt und frisst uns auf" (SZ) und Lotta Lundbergs "Sternstunde" (FAZ).
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Architektur


I.M. Peis Kennedy Library in Boston

In der NZZ gratuliert Jürgen Tietz dem Architekten Ieoh Ming Pei, der heute tatsächlich hundert Jahre alt wird und Museen mit perfekt harmonischen Proportionen schuf. Dezeen zeigt in einer Bilderstrecke seine ikonischen Bauten. In der SZ äußert sich Gottfried Knapp auch kritisch: "Im Museum für Islamische Kunst in Doha im Emirat Katar hat Pei eine fast religiöse Übersteigerung geometrischer Grundformen erreicht."


John Pawsons Atrium für das Design Museum London.

Und Marion Löhndorf (NZZ) feiert Londons neues Design Museum, das in dem von Rem Koolhaas und John Pawson umgebauten Commonwealth Institute an der Kensington High Street Quartier bezogen hat: "Dieses Atrium, Herzstück des Museums, ist theatralisch, aber nicht laut. Es ist riesig und doch intim. Die Treppenaufgänge sind ähnlich dramatisch wie der Schwung des Daches über dem Atrium, und doch sind sie gezügelt." Der Guardian sah das bei der Eröffnung allerdings etwas anders, wie Löhndorf einräumt. Rowan Mooer schrieb: "It should come with a label: Atrium, John Pawson, oak, white paint and glass, Late Capitalist Period."
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