9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Situation polyzentrischer Herrschaft

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2016. Die ordentlichen Zeiten des Kalten Kriegs sind längst vorbei  Heute sind wir in einer Situation, die 1914 viel mehr ähnelt, meint Christopher Clark in der NZZ. Die taz berichtet über Widerstand gegen das Totalverbot von Abtreibung in Polen. Das FAZ-Feuilleton empfiehlt Navid Kermani als Bundespräsidenten, auch weil er so religiös ist. Alle nicht öffentlich-rechtlichen Medien staunen über das neue Jugendangebot von ARD und ZDF. Alle Nicht-Printmedien staunen über Günther Oettinger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.09.2016 finden Sie hier

Europa

Kirsten Achtelik berichtet in der taz über den Widerstand von Polinnen gegen das geplante Totalverbot von Abtreibung. Unter anderem ist am Montag ein Aktionstag geplant: "Die Aktivistinnen hoffen, dass dieser Versuch, legale Schwangerschaftsabbrüche einzuschränken, ähnlich ausgeht wie in Spanien 2014. Auch dort hatte sich eine breite Bewegung gegen die von der rechtskonservativen Mehrheitsregierung betriebene Verschärfung des Abtreibungsgesetzes gebildet. Anders als von vielen Feministinnen angenommen, verhinderte nicht die breite Bewegung die Verschärfung sondern die innerparteiliche Opposition: Die vollständige Abschaffung der embryopathischen Indikation war in der Partei nicht mehrheitsfähig."
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Religion

Es ist gerade die Religiosität, die Paul Ingendaay an Navid Kermani so schätzt, den er im Aufmacher des FAZ-Feuilletons als möglichen Bundespräsidenten empfiehlt: "Es ist kein Zufall, verdient aber besondere Erwähnung, dass mit Kermani Religionsfragen wieder Einzug in deutsche Feuilleton-Debatten gehalten haben, und zwar auf einem Niveau oberhalb routinierter Tabuverletzungen durch Künstler (und des anschließenden Protests einer gekränkten Kirche). Damit befindet er sich nicht 'auf der Höhe der Zeit', sondern setzt ihr selbst die Markierung." Allgemein (aber nicht im Perlentaucher, hier) wurde bewundert, dass Kermani die Paulskirche zum Beten brachte.

Der Theologe Jan-Heiner Tück berichtet in der NZZ vom interreligiösen Weltgebetstreffen in Assisi, wo Vertreter verschiedener Religionen miteinander sprachen und aßen. Dass jedoch nicht gemeinsam, sondern getrennt gebetet wurde, findet Tück angemessen: "Denn dies hätte bedeutet, die Differenzen im Gottesverständnis als vorläufig zu betrachten - als ob vor dem Mysterium des großen Unbekannten jede Theologie zurücktreten müsse. Die Pointe des christlichen Offenbarungsverständnisses besteht ja darin, dass der Unbekannte sich selbst bekannt gemacht hat, dass er in der Person und Geschichte Jesu Christi ein für alle Mal nahegekommen ist. Gläubige Christen können nicht so tun, als habe diese Offenbarung nicht stattgefunden."
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Politik

Der Westen hat es zugelassen, dass Baschar al-Assad sein Land mit Hilfe der Russen und Iraner von neuem gleichschalten kann, schreibt Christian Böhme im Tagesspiegel. Auch Aleppo wird er bald zurückerobert haben:  "Alle wichtigen Städte des Landes wären dann wieder unter Kontrolle des Regimes. Assad hatte mehrfach klargemacht, dass er an einer politischen Lösung des Konfliktes nicht interessiert ist - auch weil er sich durch Moskaus massive Unterstützung militärisch im Vorteil sieht. 'Es gibt keine Aussichten für eine politische Lösung. Das letzte Wort muss auf dem Schlachtfeld gesprochen werden', sagte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah jüngst. Die Genfer Friedensgespräche sind inzwischen ausgesetzt."
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Kulturpolitik

Im Gespräch mit Rose-Maria Gropp und Jürgen Kaube von der FAZ scheint Philipp Demandt, der neue Direktor von Städel, Liebieghaus Skulpturensammlung und Schirn Kunsthalle in Frankfurt ganz froh zu sein, den großen Tanker der Staatlichen Museen zu Berlin verlassen zu haben:  "Ich habe das Gefühl, dass die Strukturen in Frankfurt so sind, dass man anders agieren kann - agiler, schneller ist. Die Taktung ist eine andere, das merkt man. Das habe ich allein schon in den vergangenen Wochen gemerkt, in der Kommunikation, in der Art des Zuarbeitens, in der Art der Projekte, die jetzt kommen."
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Geschichte

Unsere heutige global vernetzte Welt ist mit der Weltlage vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar, meint der australische Historiker Christopher Clark im Interview mit Peer Teuwsen in der NZZ: "Es gab im Kalten Krieg eine gewisse Stabilität, jedenfalls im Westen, auch wenn es ein Gleichgewicht des Schreckens war. Wir haben unter dem Schutz einer bipolaren Welt gelebt. Heute sind wir in einer Situation, die 1914 viel mehr ähnelt. Eine Situation polyzentrischer Herrschaft. Die Lage wird verwirrender, unvorhersehbarer, auch gefährlicher." Daraus lässt sich allerdings nicht unmittelbar das Bevorstehen eines Dritten Weltkriegs ableiten, schränkt Clark ein: "Die Geschichte ist keine Lehrmeisterin, leider. Sie gibt uns keine pauschalen Handlungsanweisungen. Sie ist eher wie das Orakel von Delphi. Die Geschichte bietet uns bloss geheimnisvolle, rätselhafte Erzählungen."

"In seiner Person verknüpfte sich für viele die Sehnsucht nach Führung mit der Sehnsucht nach Vergangenheit", erklärt Thomas Karlauf, der eine Biografie über das letzte Lebensdrittel von Helmut Schmidt geschrieben hat, die außerordentliche Beliebtheit des Altkanzlers im Gespräch mit Patrik Schmidt in der Welt: "Gleichzeitig arbeitete Schmidt aktiv mit an dem Bild, das sich die Deutschen von ihm machten. Er genoss das auch und wusste sehr genau mit den Erwartungen der Öffentlichkeit umzugehen. Er wägte zum Beispiel sehr genau ab, wann er zu Beckmann ging und wann zu Maischberger. Man denke auch an seine häufige Präsenz in der Bild-Zeitung. Im Umgang mit den Medien hat es Schmidt zu erheblicher Meisterschaft gebracht."
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Medien

Günther Oettinger betätigt sich als Politiker und als Lobbyist in Personalunion. Gestern kursierte seine Aufforderung an die Verleger, Online-Journalisten zum Rapport zu zitieren, die mit seinen Plänen für ein EU-Leistungschutzrecht nicht einverstanden sind (unser Resümee). Nun verteidigt er per Twitter die Besteuerung von Überschriften, weil die Nutzer bekanntlich meistens nicht drauf klickten. Hauke Gierow schreibt dazu bei golem.de: "Die Pressefreiheit und der Fortbestand journalistischer Angebote im Netz sind nicht gefährdet, weil Nutzer nicht jeden Link anklicken, den sie sehen. Folgte man Oettingers Argumentation, müsste demnächst ein Gesetz erlassen werden, das zum Kauf einer Zeitung im Kiosk verpflichtet, sobald man einen flüchtigen Blick auf die Überschriften der ersten Seite geworfen hat. Hoffentlich bringt ihn diese Aussage nicht auf dumme Gedanken."

Auch Markus Reuter von Netzpolitik findet einen Vergleich für Oettingers Beobachtung, dass Nutzer nicht alle Links anklicken: "Das ist so als würde man Zeitungsnutzer fragen, ob sie alle Artikel einer Print-Zeitung lesen würden - und das mehrheitliche 'Nein' der Befragten als Anlass dafür nimmt, in Zukunft nur noch Überschriften und Teaser in der Zeitung zu drucken. "

Selbst im Blog des Deutschen Journalistenverbands findet Ann-Maria Wagner Oettingers Äußerungen "bizarr".

Die Öffentlich-Rechtlichen starten ein neues Jugendangebot, um den eigenen Status zu betonieren. Christian Meier hat die Redaktion in Mainz für die Welt besucht: "Dieses nun lange genug als 'Angebot' fast schon diffamierte Programm heißt ab sofort Funk. Über Funk wird in Zukunft viel gesprochen werden, weil dahinter der Versuch des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems steht, Jugendliche und junge Erwachsene mit Web-Videos und -Serien zu erreichen, von denen es viele in die klassischen Sender vermutlich nicht geschafft hätten... Im Jahr stehen 45 Millionen Euro aus dem Topf des Rundfunkbeitrags zur Verfügung." Den Preis zahlen erwachsene Zuschauer, die künftig auf die Sender EinsPlus und ZDFkultur verzichten müssen, also zwei der wenigen Sender, wo nicht permanent "Mankell" läuft.

Es ist nicht so, dass Jugendliche nicht wissen, dass man auch ARD und ZDF einschalten kann, schreibt Katharina Riehl in der SZ dazu: " Sie tun es nur zu selten, im Schnitt sind nur etwa fünf Prozent der Zuschauer der beiden Sender zwischen 14 und 29 Jahre alt. Um diese Zahlen zu verbessern, müssten ARD und ZDF ihr Hauptprogramm interessanter machen für junge Zuschauer und mit weniger Donna Leon Quoteneinbußen riskieren. Da ist so ein Onlineangebot, ein Kindertisch im Netz, natürlich deutlich bequemer."

Der bizarre Streit zwischen Verlegern und der ARD um die "Presseähnlichkeit" der Tagesschau-App wird heute vorm Oberlandesgericht Köln entschieden, berichtet Anne Fromm in der taz: "Spannend wird, ob die Richter heute konkrete Lösungsvorschläge oder zumindest -ansätze unterbreiten werden. Zum Beispiel, wie viel Prozent des Angebots der App aus Video, Audio und Text bestehen darf.
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