9punkt - Die Debattenrundschau

Und die Ehrenloge frei halten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2016. New York Times und Le Monde bringen die empörende Meldung vom Tod der Fotografin Leila Alaoui im Alter von 33 Jahren - sie war bei einem islamistischen Attentat in Ouagadougou verletzt worden. Im britischen Magazin Standpoint ist die britische Feministin Julie Bindel entsetzt über die Kapitulation vieler Feministinnen vor dem Frauenbild des Islams. In der FAZ sagt Gilles Kepel, was er von Olivier Roy denkt. Und in Atlantic ist Ta-Nehisi Coates ziemlich sauer über Bernie Sanders, der die Forderung nach Reparationen für die Folgen der Sklaverei in den USA ablehnt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.01.2016 finden Sie hier

Medien



Die Fotografin Leila Alaoui, die bei einem islamistischen Anschlag in Ouagadougou vor einigen Tagen verwundet wurde, ist im Alter von 33 Jahren gestorben, berichtet Dan Bilefsky in der New York Times. Wir bringen hier einen Screenshot von ihrer Website, auf der sie unter anderem die großartige Porträtreihe "The Moroccans" präsentiert - Porträts, die in der Ausstellung in Lebensgröße gezeigt werden und die sie in einem mobilen Studio aufgenommen hat. In Le Monde berichtet Raoul Mbog, dass Alaoui in Westafrika recherchierte, um für Amnesty International eine Dokumentation über Gewalt gegen Frauen in Westafrika zu drehen.

Vor den Landtagswahlen scheint die AfD nicht viel Chance auf Fernsehdebatten zu haben, meldet turi2: "Der SWR knickt unter dem Druck der Regierungsparteien ein und lädt keine kleinen Parteien zur 'Elefantenrunde'. Die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) und Amtskollege Winfried Kretschmann (Grüne) aus Baden-Württemberg hatten mit Boykott gedroht, falls AfD-Vertreter im Studio sitzen... SWR-Intendant Peter Boudgoust sagt, er habe den angedrohten Boykott mit 'zusammengebissenen Zähnen' akzeptiert."

Petra Sorge erklärt bei Cicero.de, warum sie diese Entscheidung für richtig hält: "Wo ist eigentlich das Problem? Die beiden AfD-Spitzenkandidaten bekommen am großen Wahlabend im jeweiligen Regionalfenster 10 Minuten Interviewzeit, und das in einer guten Programmschiene (21:15 bis 21:45 Uhr). Debatte wird hier weder abgewürgt noch verschwiegen." Und FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld fragt die Damen und Herren aus den Regierungsfraktionen, "warum sie die AfD fürchten wie der Teufel das Weihwasser".

Weiteres: Am Rande der dld-Konferenz in München hat sich Sissi Pitzer vom Bayerischen Rundfunk mit Jeff Jarvis über die Zukunft des Journalismus unterhalten. In der NZZ schildert Matthias Müller die immer härtere Gangart, die China gegen missliebige ausländische und inländische Journalisten einlegt.
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Gesellschaft

Integration war lange Zeit in keinem der politischen Diskurse in Deutschland angesagt, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog: "Es ist noch nicht lange her, dass die Forderung, Einwanderer mögen bitte Deutsch lernen und sich der Gesellschaft gegenüber öffnen, von den Multikulturalisten der einfältigen oder böswilligen Art als Ungeheuerlichkeit und als eine Art Staatsrassismus abgelehnt wurde - alles nachzulesen bei Claudia Roth, Katrin Göring-Eckardt und auch Cem Özdemir. Hier liegen große Versäumnisse, die Genannten und ihr Umfeld täten gut daran, schnell von ihrem hohen Sockel herunterzusteigen. Aber es gilt eben auch: Die deutschen Institutionen (die christlichen Kirchen eingeschlossen!) und der Staat haben ebenfalls weithin versagt."

Im britischen Magazin Standpoint ist die britische Feministin und Autorin Julie Bindel entsetzt. wie viele Feministinnen heute Frauenrechte propagieren, gleichzeitig aber vor dem Frauenbild des Islam kapitulieren. In Frankreich, lernt sie, ist das auch nicht anders. "Sie war schockiert", erzählt ihr Ana Pak, eine iranische säkulare Feministin, die nach Frankreich floh, nachdem sie im Iran mehrere Male wegen ihrer Proteste gegen die Theokratie verhaftet worden war, "als ich feststellen musste, dass die französische Linke vor den Islamisten kapitulierte und dass ich schon bald als islamophob bezeichnet wurde, weil ich mich dieser Doktrin widersetzte. Ich hatte nie aufgehört, gegen die Islamisten zu arbeiten und zu kämpfen, erst im Iran und dann in Frankreich. Im Iran gehörte ich zur Linken, aber die Linke hat ihre raison d'être verloren. Sie benutzt in ihren Kampagnen jetzt die gleichen Wörter wie die Islamisten."

In der SZ erinnert die französische Journalistin Cécile Calla daran, dass es vor allem Frauen in den Banlieues sind, die leiden: "In diesen tristen Hochhaussiedlungen, wo vor allem Zuwanderer und Franzosen aus den ehemaligen Kolonien Nordafrikas wohnen, wo Arbeitslosigkeit, Bildungsferne und fehlende Infrastruktur das Leben prägen, waren und sind junge Frauen immer wieder Opfer von Gruppen junger Männer. Das Martyrium eines dieser Opfer, Samira Belill, die mit 14 Jahren von mehreren jungen Männern in ihrer Cité vergewaltigt wurde, löste 2002 einen Schock aus, ebenso der Tod der 17-jährigen Sohane Benziane, die bei lebendigem Leib verbrannt wurde."

Neulich zirkulierte überall die Meldung der NGO Oxfam, dass die 62 reichsten Personen der Welt so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Menschheit. Bastian Brinkmann hat die Zahlen für sueddeutsche.de geprüft und schreibt: "Die Zahl ist mit ziemlicher Sicherheit falsch. Denn die Methodik des Berichts ist an dieser Stelle gewagt. Oxfam bedient sich beim Vermögensbericht der Bank Credit Suisse. Demnach besitzt das reichste ein Prozent der Menschheit nach Abzug aller Schulden genauso viel Vermögen wie die übrigen 99 Prozent. Dann greifen die Oxfam-Analysten zur Reichenliste des Wirtschaftsmagazins Forbes - und zählen von Platz eins ausgehend die Milliarden zusammen." Das Blöde ist nur, so Brinkmann, dass die beiden Studien methodisch überhaupt nicht zu vergleichen sind - der Artikel zitiert bereits die Antwort von Oxfam auf die Rercherche, die die Stichhaltigkeit der Kritik in Zweifel stellt.
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Politik

Can Dündar, der Chefredakteur von Cumhüriyet, sitzt seit November für Berichte im Gefängnis, nach denen der türkische Geheimdienst MIT Waffen an islamistische Rebellen in Syrien geliefert haben soll. Im Interview mit dem Guardian zeigt er sich auch aus seiner Zelle heraus schön angriffslustig - diesmal gegen die EU: "Wir haben die Europäische Union immer als einen Anker angesehen, ein Vorbild, das die demokratische Standards in der Türkei auf ein internationales Niveau heben würde, nicht als einen Unterstützer von Diktatoren... Wenn die EU jetzt, um den Zustrom von Flüchtlingen zu stoppen, die Türkei in ein riesiges Konzentrationslager verwandelt und darüber hinwegsieht, wie Erdogan die Demokratie, die Menschenrechte, die Pressefreiheit und den Rechtsstaat herabsetzt, dann verwirft die EU ihre grundlegenden Prinzipien, um ihren kurzfristigen Interessen zu wahren."

In Tunesien tritt jetzt eine jener Phasen der Enttäuschung ein, die wahrscheinlich noch die besten Revolutionen gefährden, erzählt der Politologe Mohamed Limam im Interview mit Christina Omlin von Qantara.de: "Was positiv ist: Das politische System hat sich in diesen fünf Jahren wirklich demokratisiert. Es gab friedliche Regierungswechsel, über weite Strecken transparente Wahlen, es existiert heute ein pluralistisches Parteiensystem. Von diesem politischen Systemwechsel hat die Bevölkerung aber erwartet, dass sich ihr tägliches Leben verbessern würde. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Kaufkraft nimmt ab, die Arbeitslosigkeit zu, die Sicherheitslage verschlechtert sich seit Monaten spürbar. Die Leute sind nicht nur enttäuscht, sie haben die Nase voll von allem was mit Politik zu tun hat."

Richtig sauer ist der gefeierte schwarze Essayist Ta-Nehisi Coates bei Atlantic über den linken demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders, der Reparationen an Schwarze wegen des historischen Verbrechens der Sklaverei aus pragmatischen Gründen ablehnt (die Chancen einer solchen Idee im Kongress seien nichtig): "Für all jene, die sich dafür interssieren, wie die Linke ihre verschiedenen Radikalismen hierarchisiert, ist Sanders' Antwort erhellend. Das Schauspiel eines sozialistischen Kandidaten, der die Idee der Reparationen als 'spalterisch' ablehnt (es gibt wohl kaum ein politisches Label, das für die Amerikaner spalterischer ist als das des 'Sozialisten') wird nur von Sanders' unglaubhaftem Posieren als Pragmatiker übertroffen. Sanders' Feststellung, dass die Chance für Reparationen im Kongress 'nichtig' sei, trifft auch für viele andere Forderungen seiner Strömnung zu."

Weiteres: In der SZ beklagt der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar den religiösen Wahnsinn der nationalistische Hindu-Partei von Premierminister Narendra Modi.
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Europa

Ziemlich düster klingt, was der Islamforscher Gilles Kepel im Interview der FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel im politischen Teil (dem eigentlichen Debatten-Feuilleton der Zeitung, wie wir seit kurzem wissen) über sein Heimatland sagt: "Frankreich wird von einer Aristokratie aus hohen Beamten regiert, die sich aus der Steuerkasse alimentiert. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, das Wirtschaftswachstum springt nicht an. Die gut ausgebildeten Kinder der Mittelschicht wie auch meine eigenen verlassen das Land, wenn sie es können, und bereichern lieber Großbritannien oder Amerika." Und hier noch eine Aussage Kepels zu seinem Kollegen Olivier Roy, der nicht den Islam zu den Ursachen der Radikalisierung zählt: "Olivier Roy bietet den politischen Eliten die Thesen, die ihre eigene Faulheit rechtfertigen."

Weitere Artikel: Im Feuilleton der FAZ finden sich einige "Maximen zur Freiheit und zur Sicherheit" des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Paul Kirchhof.
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Geschichte

"Es gibt keinen Skandal." Mit diesen Worten stellte gestern auf einer Pressekonferenz in München Intendant Nikolaus Bachler erste Ergebnisse des von ihm initiierten Forschungsprojekts "Bayerische Staatsoper 1933-1963" vor. In der SZ bittet Johan Schloemann zu differenzieren: Gewiss, es gab "so gut wie keine Versuche, eine direkt erkennbare Nazi-Propagandakunst zu installieren", meint er. "Die Kollaboration funktionierte anders: Man musste als Künstler kein Nazi sein, um dem Naziregime zu helfen. Nachdem die Wagnerfreunde - mit dem Staatsoperndirigenten Hans Knappertsbusch als treibender Kraft - 1933 den unzuverlässigen Republikaner Thomas Mann aus München vertrieben hatten, musste man sich kaum die Finger schmutzig machen. Die hervorragend ausgestattete Weltklasseoper sollte einfach nur mit handwerklich gediegenen, aber natürlich Avantgarde und Moderne ausschließenden Aufführungen dem Ruhm Deutschlands und der deutschen Kunst dienen. Und die Ehrenloge frei halten."

Außerdem: In der NZZ bespricht Ulrich M. Schmid die Stalin-Biografie des russischen Historikers Oleg Chlewnjuk.
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