9punkt - Die Debattenrundschau

Einfach nur aufschreiben

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2016. Die New York Times kritisiert den Ausnahmezustand in Frankreich. In der SZ beschwert sich Martin Mosebach über Deutschland, das Leuten wie ihm nur Verdruss bereitet. Digidays zeigt, dass Facebook immer weniger Klicks zu Medien schickt. Politico.eu schildert, wie das normale Leben in kurdischen Regionen der Türkei geschleift wird. Richard Herzinger fordert in der Welt ein Ende des "Tatorts".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.01.2016 finden Sie hier

Medien

Lauren Provost unterhält sich für die Huffpo.fr mit dem Grafiker Joachim Roncin, der am 7. Januar um 12.52 Uhr ein Tweet absetzte, mit dem er sich eigentlich nur persönlich solidarisieren wollte:


Nie hätte er gedacht, dass dieses Tweet zum Symbol würde, sagt Roncin. Auf die Frage, ob er ein Leser von Charlie Hebdo war, antwortet er: "Gar nicht. Ich kannte Charlie, aber ich kaufte das Blatt nicht jede Woche. Aber bei uns zuhause, bei meinem Vater lag es immer rum. Ich habe früher Hara Kiri gelesen. Für mich wurde vor allem diese Epoche wachgerufen. Diese Möglichkeit, über alles zu lachen, und alles durch Lachen in Frage zu stellen."

Sehr interessant schreibt Ricardo Bilton bei Digiday über den Wachstumsrückgang bei den größten Internetmedien in den USA (So ist Business Insider nach 80 Prozent Wachstum im Jahr 2014 im Jahr 2015 nur noch um 10 Prozent gewachsen - auf allerdings absolut umwerfende 40 Million Unique visitors im Monat). Bilton konfrontiert das mit einer anderen, fast noch erstaunlicheren Statistik: "Der Wachstumsrückgang vieler Medien passiert zu einem Zeitpunkt, da Facebook den Traffic, den es zu Medien sendet, reduziert. Die Klicks durch Links von Facebook zu den 30 Top-Medien sind laut SimpleReach von Januar bis Oktober 2015 um 32 Prozent gesunken."

Ein Ende des "Tatort"-Overkills fordert Richard Herzinger in der Welt, und vor allem sieht er die Selbstreferenzialität vieler neuerer "Tatorte" als Krisensymptom. Der von Feuilletonisten gezogene Vergleich mit Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" greift für ihn gerade nicht: "Zudem folgt Pirandellos Aufstand der imaginären Figuren, die ein reales Leben einfordern, dem Impetus des Einbruchs der Lebenswirklichkeit in die Scheinwelt des Theaters. Bei den 'Tatort'-"Avantgardisten" verhält es sich andersherum: Indem sie sich mit selbstverliebter Ironie über ihre eigenen wie die Eitelkeiten des TV-Geschäfts lustig machen, setzen sie ihr geschlossenes Insider-Universum an die Stelle einer für die Allgemeinheit relevanten und nachvollziehbaren Außenwelt."

Michael Hanfeld erklärt unterdessen in der FAZ, warum er er eine restreferenzielle Schleife im Till-Schweiger-"Tatort" vom Sonntag - die Entführung der Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers - fragwürdig findet.
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Politik

Im weltpolitischen Hexensabbat des Nahen Ostens weiß man nicht mehr, wohin man zuerst gucken soll. Saudi-Arabien? Iran? der Schlächter Assad? Daesh? Asli Aydintasbas schickt einen Brief aus der Türkei an politico.eu und bickt auf einen weiteren annähernd kaum wahrgenommenen Konflikt - den der türkischen Regierung mit der PKK, mit Auswirkungen auf die ganze Bevölkerung: "Im letzten Monat hat der türkische Erziehungsminister SMS an über 3.000 Lehrer an öffentlichen Schulen gesandt und sie aufgefordert, die ruhelosen kurdischen Städte zu verlassen. Schulen werden geschlossen und Tausende von Schülern haben keine Zugang zu Erziehung."

Stephen Kinzer rät ebenfalls in politico.eu, dass die USA nicht Saudi-Arabien gegenüber dem Iran bevorzugen sollten. Richard Herzinger begründet in seinem Blog genau das Gegenteil: Die aktuelle Bevorzugung des Irans (der noch mehr Menschen hinrichtet als Saudi-Arabien) führe dazu, dass Saudi-Arabien und seine Verbündeten "glauben, ihre Gegenwehr nun ganz allein in die eigenen Hände nehmen zu müssen. Entsprechend massiv und aggressiv schlagen sie jetzt um sich".
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Stichwörter: Iran, PKK, Saudi-Arabien, Türkei

Kulturpolitik

Die unglückliche "Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung" rührt sich nicht bei der aktuellen Flüchtlingskrise. Felix Ackermann, Historiker an der Europäischen Humanistischen Universität in Wilna, einer weißrussischen Exiluniversität, bedauert das in der FAZ: "Es war eine wichtige Leistung von Erika Steinbach, das Thema Zwangsmigration in der Berliner Republik zu verankern... Doch jeder konkrete Ansatz muss sich daran messen lassen, ob er in der Lage ist, die deutsche Erfahrung im europäischen beziehungsweise globalen Gedächtnis zu verorten, und daran, ob es ihm gelingt, diese historische Erfahrung in der Gegenwart verständlich zu machen."
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Internet

Im NZZ-Folio-Interview mit Peter Glaser erklärt Kathrin Passig, warum sie seit Jahren ein Techniktagebuch betreibt, um den digitalen Wandel sozusagen live zu begleiten: "Bevor man kritisiert, muss man ja erst mal dokumentieren. Sonst kritisiert man versehentlich einen Sachverhalt, den man sich nur ausgedacht hat. Das ist mir beim Schreiben fürs Techniktagebuch viel klarer geworden: wie schwer es ist, einfach nur aufzuschreiben und nicht allzu viel zu behaupten."
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Gesellschaft

In der taz unterhält sich Nicholas Potter etwas gefühlig mit der amerikanischen Autorin Leslie Jamieson über Empathie, Schmerz und Selbstbekenntnis. Über die Anschläge von Paris etwa sagt sie Sachen wie: "Ich hatte so viel Mitgefühl mit den Opfern, gleichzeitig hatte ich aber das Gefühl, dass das nichts Neues war, außer dass es das erste Mal in Paris war."

Elisabeth Wellershaus berichtet in der NZZ vom Festival "African Futures", das bereits im Oktober im Johannesburger Goethe Institut Künstler zusammenbrachte, die Tradtion und Moderne recht zukunftsfreudig miteinander verbanden. Zum beispiel der Choreograf Faustin Linyekula: "Auf dem Podium spricht er begeistert von einem neuen Projekt, einer Säuberungsanlage für Trinkwasser. 'Ab nächstem Jahr wird es in unserem Performance-Space auch Wasservorräte geben', sagt er. Und damit vermutlich eine Menge an neuem Publikum, das sich erstmals mit zeitgenössischer Kunst auseinandersetzen wird. Auch der schwule Heiler und Performer Albert Ibokwe Khoza betreibt Basisarbeit in Sachen Verständigung. Weisses und schwarzes Publikum in Soweto provoziert er mit seiner Mischung aus Nacktheit, Sangoma-Ritualen und Konzept-Performance."

Außerdem: In der Welt schlägt Wolf Lepenies vor, dass Europa den "Prozess der Zivilisation" à la Elias mit Iniativen in der Klimapolitik neu (aber CO2-frei) befeuert.
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Europa

Wie problematisch der Ausnahmezustand in Frankreich werden kann, beschreiben die Redakteure der New York Times in einem Leitartikel: "Der geltende Ausnahmezustand gibt der französischen Regierung außergewöhnliche Vollmachten, inklusive dem Recht, Hausdurchsuchungen ohne entsprechende Weisung durchzuführen, Vereine zu schließen und das Recht auf Versammlungsfreiheit einzuschränken - all das ohne juristische Aufsicht. Einzelne mögen Klagen einreichen, aber erst nach den Vorfällen."

In der SZ-Serie "Was ist deutsch?" leidet heute Martin Mosebach an Deutschland, das auch dem Konservativen nur Klage und Verdruss entlockt: "Kommunismus und Nationalsozialismus, Auto und Telefon, Penicillin und Computer, Fernsehen und Atombombe, industrielles Bauen und Autobahn, und schließlich sogar der industrielle Massenmord sind ohne federführende deutsche Mitwirkung nicht zu denken. In Europa ist Deutschland das Land, das die Verbindung zu seiner Vergangenheit am vollständigsten gekappt hat. Es ist das modernste aller europäischen Länder. Der Fortschritt ist deutsch. Wer sich dem Rhythmus des Fortschritts nicht beugen will, der ist hier fehl am Platz. Was bedeutet das für mich?"

Götz Aly echauffiert sich in der Berliner Zeitung über die ukrainische Geschichtspolitik und die "Google-Welt", die alte Chauvinisten zu Nationalhelden stilisieren: "All das sind Früchte von Demokratie und Freiheit. Wer sich einbildet, der souveräne Volkswille führe geradewegs zu aufgeklärter Einsicht, hat aus der Geschichte nichts gelernt."
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