9punkt - Die Debattenrundschau

Zarter Ruch von Verwahrlosung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2015. In der NZZ spricht der syrische Autor Sadiq al-Azm über den Hass auf die Moderne. In der Zeit versucht Hans Ulrich Gumbrecht dem entsetzten Europäer Donald Trump zu erklären. Politico.eu erzählt Mordsgeschichten aus dem Leben der Rebekah Brooks. In der FAZ ruft Hermann Parzinger mit Blick auf Palmyra: "Baut die Tempel wieder auf!"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.09.2015 finden Sie hier

Europa

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Stichwörter: Police

Gesellschaft

Alles retro, oder was? In der Zeit denkt Ingeborg Harms über aktuelle Nostalgien nach: "Man sollte solche Tendenzen nicht als Flucht abtun. Sie leisten intensive Arbeit in der Vernetzung sozialer Biotope. Mitten in der Leistungsethik, im Atheismus, in der allgemeinen Überwachung und Kapitalisierung bauen sie unter dem Deckmantel der Nostalgie Konsumresistenzen auf. Wo das jeweils neueste Medium zur Nachricht geworden ist, verwandeln sie es in ein Medium ihrer Liebhabereien zurück, nutzen WhatsApp wie eine Postille und sammeln Erfahrungen mit fremden Menschen, um für die wirklich politischen Fragen gewappnet zu sein."
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Stichwörter: Atheismus, Mitgefühl, Nostalgie, Retro

Religion

Der syrische Denker Sadiq al-Azm, seit 2012 im Exil in Deutschland, versucht im Interview mit der NZZ die islamistische Ideologie zu erklären und ihre Anziehungskraft auch auf junge Menschen aus dem Westen: "Es gab immer eine Kritik an der europäischen Moderne, die aus dem konservativen, rechten Spektrum kam - Spengler oder Heidegger. Sie alle sagen, dass es etwas Hohles an der europäischen Moderne gebe. Kein Heldentum. Es gibt nur noch Antihelden anstelle von Helden. T. S. Eliot hat die Moderne in seinem berühmten Gedicht ein "wüstes Land" genannt. An einer anderen Stelle nennt er moderne Menschen "the hollow men, the stuffed men". Vielleicht macht dies junge westliche Menschen empfänglich für fundamentalistische Ideologien."
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Politik

Im Aufmacher des Zeit-Feuilletons versucht Hans Ulrich Gumbrecht dem entsetzten Europäer Donald Trump zu erklären, potenzieller Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Alles, was den Mann hierzulande suspekt macht, lieben in Amerika gerade die Underdogs und die untere Mittelschicht: seine große Klappe, seine Pleiten und Gewinne, seine Ehen und Skandale. Trump, so Gumbrecht, gelingt es immer wieder, den Unterschied zwischen Realität und Realityshow zu neutralisieren. Und genau das mache ihn zu einer "Gefahr für die Menschheit": "Denn er müsste ja erst Präsident werden, um zu lernen, dass es Dimensionen einer komplexen Wirklichkeit gibt, in denen die Konsequenzen des eigenen Handelns irreversibel werden - anders als seine Bankrott-Krisen und irreversibel für die Menschheit."
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Medien

Anne Fromm unterhält sich in der taz mit der unabhängigen kubanischen Bloggerin Elaine Díaz, für die sich seit der Öffnung Kubas im Grunde nichts verändert hat: "Ich denke, die Medien werden der letzte Bereich sein, den die Regierung öffnet. Sie wollen das Monopol auf Meinungsbildung und die Verbreitung ihrer Ideologie behalten, deswegen halten sie an den Staatsmedien fest. An die große Öffnung der kubanischen Presse glaube ich sowieso nicht. Ich glaube eher, dass immer mehr Räume entstehen werden, in denen unabhängige Journalisten publizieren können."

Im Leben der Rebekah Brooks, die von Rupert Murdoch wieder in einer Spitzenposition seines Konzerns installiert wurde, geht es zu wie ein einem Kolportageroman. Peter Jukes erzählt in Politico.eu, dass die News of The World unter Brooks in mindestens vier Mordfällen eine Rolle spielen. "Bestürzenderweise waren ihre Journalisten auch dabei, als die vierte Morduntersuchung im Jahr 2002 behindert wurde. Sie arbeiteten mit den Verdächtigten, um den Leiter der Soko zu überwachen und sowohl sein Telefon, als auch sein Bankkonto, das er gemeinsam mit seiner Frau führte, zu hacken. Als Brooks von Scotland Yard mit Beweisen konfrontiert wurde, tat sie nichts, um ihr Team zu stoppen."

Die Krautreporter richten eine Paywall ein, um ihre Existenz zu retten. Georg Altrogge gesteht in Meedia, dass er sein Abo nicht verlängern wird. Aber er hat tröstende Wort zum Thema Paywall: "Das massenhafte Scheitern von Paywall-Strategien bedeutet nicht, dass bezahlter Content eine Wunschvorstellung der Branche bleiben muss." Altrogge zitiert auch Volker Schütz von Horizont, der die Perspektiven der Krautreporter nicht so rosig sieht: "Der nächste Schritt in die Bedeutungslosigkeit ist programmiert."
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Geschichte

Annegret Held erzählt in der taz die wilde Geschichte eine Vorfahrin aus Westfalen, die so arm war, dass es sie nach England verschlug: "Die Drehleiermädchen in ihren geschnürten Leibchen, mit ihren "Rhinelander"-Tänzen und dem zarten Ruch von Verwahrlosung erweckten offenbar auf allen Jahrmärkten ähnliche Begehrlichkeiten und riefen gewiefte Mädchenhändler auf den Plan. Der Übergang zur Prostitution war fließend. Man nannte die Mädchen frei nach ihrem Instrument "Hurdy-Gurdy-Girls" und ließ sie in den Londoner Hafenkneipen als Attraktion des Abends tanzen: "German Hurdy-Gurdy-Girls are coming to town!""
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Stichwörter: Prostitution

Internet

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fordert im Tagesspiegel nicht einfach eine Zensur der Hasskommentare bei Facebook, sondern eine "Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone, die Verwandlung der digitalen Gesellschaft in eine "redaktionelle Gesellschaft" (Cordt Schnibben), die sich, neben dem privaten Vergnügen, an den Leitmaximen aufklärerischer Informationsvermittlung orientiert. Das hieße in der Konsequenz, dass ein normatives Verständnis der Entstehung von Öffentlichkeit an den Schulen und Universitäten gelehrt werden müsste, das auf der Höhe der Zeit ist." Naja, und das würde sicher auch viel Arbeit für Medienwissenschaftler schaffen.
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Kulturpolitik

"Baut die Tempel wieder auf!", ruft Hermann Parzinger von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Blick auf Palmyra in der FAZ. Und er schlägt vor, dass verbleibende Kunstschätze in Syrien vorerst in Sicherheit gebracht werden: "Rettung kann dann nur heißen, dass die internationale Fachwelt aus Archäologen, Museumsmitarbeitern und Kulturpolitikern ein Einvernehmen mit dem Herkunftsland darüber erzielt, wie bedrohte Kulturgüter im Sinne zeitlich befristeter Safe-Haven-Regelungen vorübergehend außer Landes gebracht werden können. Und solche Gedanken sollte man sich tunlichst schon jetzt machen, weil die vorübergehende Rettung der in Damaskus versammelten Kunstwerke eine gewaltige logistische Herausforderung darstellen würde."
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