9punkt - Die Debattenrundschau

Mehr Wunden versorgen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2015. Die IS-Milizen haben mit der Zerstörung Palmyras begonnen, der Baalschamin-Tempel ist gesprengt worden, berichten die Medien. Der Economist thematisiert die andauernde Sklaverei in muslimischen Ländern. Die SZ erzählt, was die DDR mit der Pille bezweckte. Die Flüchtlingskatastrophe sorgt nach wie vor für viele Debatten. Die NZZ fragt sich, warum wir mit beiden Gehirnhälften schlafen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.08.2015 finden Sie hier

Religion


Foto: Wikimedia Commons.

Die IS-Milizen haben die wichtigsten antiken Bauwerke in der syrischen Ruinenstadt Palmyra zerstört: den Baalschamin-Tempel, der im 2. Jahrhundert nach Christus errichtet worden war, berichtet Spiegel online unter Berufung auf den Direktor der syrischen Antikensammlungen, Maamoun Abdulkarim: "Bei der Explosion sei die sogenannte Cella des Tempels, ihr innerster heiliger Bereich, zerstört worden. Die umgebenden Säulen seien eingestürzt."

Die Versklavung religiöser Minderheiten, und besonders ihrer Frauen, durch die IS-Milizen kann sich nicht nur auf den Koran, sondern auf eine jahrhundertealte Praxis in der islamischen Welt berufen, die erst unter der Kolonisierung gestoppt wurde, schreibt der Economist: "Fast hundert Jahre lang war der Nahe Osten zumindest auf dem Papaier frei von Sklaven. "Menschen sind frei geboren, und niemand hat das Recht, sie zu versklaven, erniedrigen, unterdrücken oder auszubeuten", verlangte die Kairoer Menschenrechtserklärung von 1990. Frühe dschihadistische Gruppen folgten diesem Trend und stellten sich als Befreiungsbewegungen dar. Aber selbst wenn Sklaverei verurteilt wird, machen Beobachter auf die andauernde Knechtschaft aufmerksam. Der Global Slavery Index (GSI), dessen Zahlen von einer Australischen NGO und der Hull University erstellt werden, hält fest, dass in 14 Staaten über ein Prozent der Bevöllkerung versklavt sind, die Mehrheit davon islamische Länder."
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Gesellschaft

Harald Martenstein hat auch seine jüngste Begegnung mit einem Berliner Radfahrer nur knapp überlebt, wie er im Tagesspiegel erzählt: "Es ähnelt der Wespenplage. Ähnlich wie die Wespen haben auch Radfahrer kein Unrechtsbewusstsein und werden regelrecht wild, wenn man ihre Kreise stört. Ich habe einen Radfahrer interviewt, der unser Kind fast zu Brei gefahren hätte. Er sagte sinngemäß: "Was willst du Arschloch. Ich hab gerade zwanzig Flüchtlingen Essen gebracht." Da war ich froh, dass er nicht 1000 Flüchtlingen Essen gebracht hat, nach seiner Logik hätte er dann ja zur Belohnung den Regierenden Bürgermeister erschießen dürfen."

Der Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart erinnert in der SZ daran, dass auch die DDR vor fünfzig Jahren die Pille einführte (VEB Jenapharm erhielt dafür eine Goldmedaille der Leipziger Mustermesse!): "Die Empfängnisverhütung wurde nach außen propagandistisch als Ausdruck der Gleichberechtigung der Frau gepriesen. In Wahrheit war sie in der DDR primär gegen die kostenverschlingende Abtreibungspraxis gerichtet."
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Europa

Für die SZ ist Kathrin Cahlweit ins ungarische Szeged gereist, wo Tag für Tag trotz des berüchtigten neuen Grenzzauns Hunderte Flüchtlinge durchkommen: "Absurderweise, oder vielleicht auch gerade, weil die Ungarn der martialischen Rhetorik ihrer Regierung müde sind, wächst bei ihnen die Hilfsbereitschaft. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Szeged spucken Busse die Flüchtlinge aus, die den Zaun umrundet oder überwunden haben. Einige rennen sofort zur Straßenbahn, die sie für den Zug nach Budapest halten. Andere zu den Taxis, den Schleppern. Agnes Tóth-Szöke ist eine von etwa 70 Helfern, die Brot und Wasser austeilen, die linke Stadtregierung unterstützt die Aktion mit Wasser und Strom, ein Unternehmer hat Decken gespendet. "Jeden Tag kommen mehr, die helfen wollen", sagt Agnes Tóth-Szöke. "Mit dem Zaun werden es ja nicht weniger Flüchtlinge. Ich muss nur mehr Wunden versorgen.""

Dominic Johnson fragt in der taz, wie viele deutsche Flüchtlingsbürokraten eigentlich das "Handbook for Emergencies" des UNHCR gelesen haben, sozusagen die Bibel der praktischen Flüchtlingshilfe. "Durch seine 595 Seiten zieht sich ein Grundsatz: Flüchtlingshilfe wird mit den Betroffenen gemeinsam organisiert, also mit den Flüchtlingen. Das reicht von der Lagerverwaltung bis zur Ausgestaltung der Hilfe und der Sicherheit. Das Wohl der Flüchtlinge steht an oberster Stelle."

Asal Dardan ist einst selbst mit ihrer Familie aus dem Iran geflohen und in Deutschland aufgenommen worden. Die deutsche Hilfsbereitschaft erkennt sie in der Welt an: "Dennoch erkenne ich das Land, das die einzige Heimat ist, die ich habe, manchmal kaum wieder. Mich erstaunt die Kälte, der Mangel an Empathie, an Vorstellungskraft - die hässliche Fratze des Ressentiments. Ich kann nicht glauben, dass Menschen sich dagegen aussprechen, dass anderen Schutz vor Verfolgung und Gewalt gewährt wird."

Ein Gesetzesvorhaben, das Holocaust-Leugnung und andere extremistische Äußerungsformen unter Strafe stellen will, sorgt in Rumänien für Unmut, schreibt Joseph Croitoru in der FAZ, der den Publizisten Andrei Pleşu mit der Kritik zitiert, dass das Gesetz auch für Kommunisten und ihre Nachfolger im Geiste schwer zu ertragen sei. Außerdem macht er sich Sorgen um die Rezeption Ciorans und Mircea Eliades, die mit dem Faschismus sympathisierten: "Pleşus Vorbehalte und weitere Pressekommentare, die vor Zensur warnen, hält Crin Antonescu als Mitinitiator der Gesetzesnovelle für unverständlich. Keinesfalls könne dem Gesetz entnommen werden, dass die Schriften einstiger rumänischer Faschisten oder die ihrer Sympathisanten nicht gelesen werden dürften, sagte er gegenüber der Zeitung Gandul. Es handle sich bei dieser Anpassung an EU-Rechtsnormen vielmehr um das Verbot der öffentlichen Verbreitung klar definierter extremistischer Inhalte."

Der deutsch-russische Schriftsteller Boris Schumatzky verzweifelt in der NZZ an den "Putin-Verstehern" der deutschen Politik und erklärt ihnen noch einmal, was der Mann in seinem Land anrichtet: "Der russische Patriotismus, der sich einst ins Gewand einer romantischen Liebe zu heimatlichen Gefilden und Gehöften hüllte, zeigt sich heute offen als Liebe zur Gewalt. Die Gewalt bricht sogar dort durch, wo ich es am wenigsten erwartet hätte. Selbst viele Gegner Putins sind Teil dieser Welt der Gewalt geworden. Eine Moskauer Verlegerin von feinen Büchern hetzte neulich gegen eine junge Journalistin, eine Zynikerin aus der Generation Putin: "Wie ein alter Freund, einer der besten lebenden Dichter, in solchen Fällen sagt: Lasst uns sie zu sechst durchf . . . en!""
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Kulturpolitik

In einer lesenswerten Analyse fasst Stefan Weiss im Standard die sehr eigentümliche Geschichte der Kulturpolitik in Österreich nach dem Krieg zusammen, die sich am besten in den Worten des Politologen Michael Wimmer wiedergeben lässt: "Das Wesentlichste war und ist, dass Österreich eine kulturelle Infrastruktur erhalten muss, die ursprünglich für eine mitteleuropäische Großmacht und nicht für einen Kleinstaat hergestellt wurde."
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Ideen

Der Biochemiker Gottfried Schatz erzählt in der NZZ wieder einmal eine interessante Geschichte aus seinem Fach. Die Wissenschaft weiß nämlich immer noch nicht, warum Menschen schlafen. Das ist unökonomisch und gefährlich: "Meeresbewohnende Säugetiere und Vögel schlafen abwechselnd mit nur einer Gehirnhälfte. Wale und Delphine können so auch während des Schlafes zum Atemschöpfen auftauchen und einige Vögel wahrscheinlich auch während des Fluges schlafen. Dabei öffnen diese Tiere nur das Auge, das mit der jeweils wachen Gehirnhälfte verbunden ist. Schlafende Delphine richten es gegen das Innere des Rudels, vielleicht um zu verhindern, dass einzelne Mitglieder es verlassen und in Gefahr geraten."

(Via Boingboing) Neue Erkenntnisse über den Ursprung der Sprache bietet dieses Video einer Katze, die nicht länger gebadet werden will und dies in klaren Worten artikuliert:

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