9punkt - Die Debattenrundschau

Das Nichtstun, der trostlose Alltag

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2015. In der Welt diagnostiziert Zafer Senocak mit Blick auf den Islam "Obdachlosigkeit in der eigenen Kultur".  Im NYRBlog fragt Alma Guillermoprieto, ob die mexikanischen Behörden zu blöd oder zu korrupt waren, Joaquin Guzmán zu bewachen. Ebendort schreibt Timothy Snyder über die Ukraine als Prüfstein des europäischen Universalismus. Sieben Tote in sieben Wochen: Nicht nur auf dem Weg nach Europa, sondern auch in Europa selbst kommen Flüchtlinge ums Leben, berichtet Libération.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2015 finden Sie hier

Europa

Nicht nur auf dem Weg nach Europa kommen Flüchtlinge ums Leben, sondern auch in Europa selbst. Über sieben Tote in sieben Wochen berichtet Haydée Sabéran, die Lille-Korrespondentin von Libération, aus Calais. Sie sterben beim Versuch, durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen: "Am 7. Juli ist Getnet, ein Äthiopier, aus einem Güterwaggon gefallen und an einem Bruch der Halswirbel gestorben. Anfang Juli ist eine im fünften Monat schwangere Eriträerin aus einem Lastwagen gefallen. Samir, das Kind, mit dem sie schwanger war, hat nicht überlebt und ist auf dem "carré des anges" des Friedhofs von Calais beerdigt worden, berichtet La Voix du Nord."

Griechenland offenbart die politische Krise der Europäischen Union, schreibt Timothy Snyder im Blog der NYRB, an der Ukraine zeige sich eine tiefergehende Gefahr: "Der Kern und das explizite Ziel des russischen Krieges in der Ukraine ist die Zerstörung der Europäischen Union als universalistisches Projekt, dem auch die Ukraine beitreten könnte. An seiner Stelle möchte Moskau einen Rivalen für die EU aufbauen, die sogenannte Eurasische Union. Dem eurasischen Projekt geht es weniger um die universale Anerkennung von staatlichen Souveränen und bürgerlichen Rechten als vielmehr um eine russische Hegemonie über Territorien, die russische Politiker historisch für sich reklamieren, wie die Ukraine."
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Religion

Eine "Obdachlosigkeit in der eigenen Kultur" diagnostiziert Zafer Senocak in der Welt mit Blick auf den Islam. Das Symptom hat gefährliche Folgen: "Die islamische Kultur hat ihre Demut verloren, da sie einer permanenten Demütigung ausgesetzt ist. Zur Unheilbarkeit des muslimischen Komplexes gehört der feste Glaube an eine Verschwörungstheorie. An der eigenen Misere sind grundsätzlich nur andere schuld. Die USA, der Westen oder auch Israel sind beliebte Ausflugsziele der muslimischen Paranoia. Nirgendwo wird die Brüchigkeit solcher Thesen so offensichtlich wie in der Türkei."
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Kulturpolitik

Uwe Rada besucht für die taz Breslau, das nächstes Jahr zusammen mit San Sebastián europäische Kulturhauptstadt wird. Pudelwohl fühlt er sich in der Bar Barbara, jener legendären Milchbar in der Świdnicka-Straße, die in den achtziger Jahren Zentrum der Kunstguerilla Orange Alternative war: "Joanna Męczyńska gehört zu jener jungen Generation von Breslauern, die ihre Stadt noch nicht aufgegeben hat. "Viele gehen weg, nach Warschau oder Berlin", sagt sie, "weil auch in Polen die Jugendarbeitslosigkeit steigt." Anders als für den Breslauer Stadtpräsidenten Dutkiewicz, der mit der Kulturhauptstadt 2016 die Zahl der Touristen verdoppeln will, ist das kommende Jahr für Męczyńska auch ein Test dafür, ob sich die Stadt verjüngt und die alten Eliten bereit sind, den Jungen Platz zu machen."

Im Standard meldet Stefan Weiss, dass nun auch britische Künstler eine Protestkampagne gegen TTIP gestartet haben, mit Vivienne Westwood als Galionsfigur.
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Gesellschaft

Das Misstrauen in Politik, Medien und Institutionen wächst in den USA seit fünfzig Jahren, doch heute belassen es die Skeptiker nicht mehr bei der Abwendung von der Öffentlichkeit, sondern tun etwas gegen die Dysfunktionalität, meint in der SZ Ethan Zuckerman vom Center for Civic Media am MIT: "Wir müssen anerkennen, dass die Programmierer, die Verschlüsselungs-Software wie Tor, PGP und Textsecure geschaffen haben, genauso politisch aktiv sind wie jemand, der am Programm einer politischen Partei arbeitet. Das gilt auch für Unternehmer, die lieber bessere Elektroautos bauen, als für eine höhere CO2-Steuer zu kämpfen. Wenn die Menschen den Glauben an die Institutionen verlieren, versuchen sie nicht mehr so sehr, Wandel durch neue Gesetze herbeizuführen, sondern indem sie Technologien und Geschäftsideen entwickeln."

In seiner taz-Kolumne ärgert sich Ilija Trojanow, dass die Resilienz mittlerweile als Allheilmittel in jeder politischen und privaten Lebenslage angepriesen wird: "Sie entspricht in etwa der Taktik von Muhammad Ali in seinem Kampf gegen George Fore­man 1974 in Kinshasa: Halte alle Schläge aus! Egal wie sehr George oder das Schicksal oder der Spätkapitalismus auf dich eindreschen. Das lateinische Wort "resilire" bedeutet "abprallen, zurückfedern" (also genau so wie Muhammad Ali). Gewiss, wer schon in einem Ring mit dem Schläger Fore­man steht, der ist um jede Resilienz dankbar. Aber man könnte ja auch die Frage stellen, was er überhaupt im Ring zu suchen hat."
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Geschichte

Welt-Autor Berthold Seewald nimmt aus einer Dresdner Ausstellung über den Beginn der der Novemberrevolution von 1918 auf Kriegsschiffen der Kaiserlichen Marine die Erkenntnis mit: "Es war nicht die Brutalität des Krieges, die die Matrosen radikalisierte, sondern das Nichtstun, der trostlose Alltag in einer militärischen Hierarchie, die die Hohlheit der wilhelminischen Klassengesellschaft bis zum Exzess vorführte."

Die Historikerin Karina Urbach fordert im FR-Interview mit Sebastian Borger Zugang für Historiker in die Königlichen Archive in Großbritannien, die bisher von den Höflingen strikt abgeschirmt werden: "Mich interessieren ja nicht die Erbkrankheiten und Sexgeschichten. Hier geht es um politische Geschichte. Die Königsfamilie gehört zum konstitutionellen Fundament des britischen Staates. Die Royals waren und sind sehr viel politischer als man denkt. Im Übrigen wird das Royal Archive teilweise aus Steuergeldern finanziert. Dann sollten Wissenschaftler auch den entsprechenden Zugang erhalten."
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Medien

Charlie Hebdo wird zum ersten "Solidarischen Presseunternehmen", berichtet Alexis Delcambre in Le Monde. Dabei handelt es sich um einen offiziellen neuen Status: "Das ist auch ein Sieg des ermordeten ehemaligen Charlie-Chefs Charb, der für diesen Status kämpfte. Der Fonds "Presse et pluralisme" erlaubt es, Presseunternehmern steuerlich absetzbare Spenden zukommen zu lassen und weitet Hilfen für Zeitungen mit geringen Werbemitteln auch auf Medien mit wöchentlichem Erscheinungsrhythmus aus. Diese Maßnahmen sollen prekäre Titel und damit den Pluralismus schützen."

Außerdem: In der FAZ porträtiert Gina Thomas den britischen Kulturminister John Whittingdale, der die BBC refomieren will. Silke Burmester arbeitet in ihrer taz-Kolumne an einem Phrasen-TÜV.
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Kulturmarkt

(Via heise.de) "Immer mehr Verlage kippen das harte Digital Rights Management", meldet der buchreport: "Die deutschen Töchter der Holtzbrinck Publishing Group werden ab August ihre E-Books mit "weichem Kopierschutz" anbieten. Die digitalen Bücher von Droemer Knaur, Kiepenheuer & Witsch, den Rowohlt Verlagen und der S. Fischer Verlage kommen künftig mit digitalen Wasserzeichen in den Handel. Ende Juni hatte Bonnier den Abschied vom "harten" DRM gemeldet." (Zu Bonnier gehören Piper und Ullstein.)
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Politik

Nach der Flucht von Joaquin Guzmán, genannt Chapo, kann Alma Guillermoprieto im Blog der NYRB nicht abschätzen, ob die mexikanischen Behörden zu blöd oder zu korrupt waren, um den berüchtigten Drogenboss zu bewachen. "Auch nicht, wie viel von den oft widersprüchlichen offziellen Verlautbarungen gelogen ist und ob Guzmans Verschwinden nach Art des fantastischen Mr. Fox etwas mit dem im Juni gestellten Auslieferungsantrag der USA zu tun hat. Wenn dem so wäre, müsste man allerdings den Tunnel wegerklären, an dem angeblich seit mindestens einem Jahr gebaut wurde." Andererseits: "Millionen von Mexikanern glauben, dass es keinen Tunnel gibt, dass die paar Fuß, die die Reporter jeweils am Eingang von Guzmáns Gefängnisdusche und am Ausstieg eine Meile weiter inspizieren durften, nur Täuschung sind."

Hier noch ein Tweet aus Bayern:

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