9punkt - Die Debattenrundschau

Putin kommt! Putin kommt!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2014. In der Wiener Zeitung beschreibt Maria Lipman die russische Ideologie, während Slate.fr die Ideologie des "Islamischen Staats" analysiert. Die FR erzählt, wie das Deutsche Reich einst den Dschihad anstachelte. Noch ein Referendum? Die schottische Frage ist noch nicht erledigt, meint die Welt. Und Bloomberg präsentiert die Grafik des Tages: Die Aktie von Apple ist inzwischen mehr wert als der ganze russische Aktienindex.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.11.2014 finden Sie hier

Europa

(Via ilpost.it) Screenshot aus einem Video bei Bloomberg mit der Grafik des Tages: Die Aktie von Apple ist mehr wert als der gesamte russische Aktienindex, die beiden Kurven haben sich jüngst überschnitten.




Die zur Zeit am Wiener Institut für die Wissenschaft des Menschen forschende russische Politologin Maria Lipman beschreibt im Interview mit der Wiener Zeitung die von Wladimir Putin immer aggressiveer betriebene russische Ideologie: "Sie beinhaltet das Bild Russlands als Großmacht - das gab es auch schon früher, aber wird nun mit mehr Nachdruck hervorgehoben; eine sehr harte antiwestliche Linie; die Nichtannahme alles Fremden, das uns unähnlich ist; aber auch sozialer Konservatismus. Die Arbeit des Staates innerhalb dieser Ideen- und Symbolsphäre, und das ist wichtig, stützt sich auf bereits in der Gesellschaft vorhandene Vorstellungen, auf Sichtweisen, die von der Mehrheit geteilt werden." Gesetze wie das gegen Homosexualität werden in Umfragen regelmäßig von 80 Prozent der Bevölkerung begrüßt.

Bei einer Konferenz des Goethe-Instituts in Tiflis erlebte Thomas Thiel in der FAZ, wie prekär die Lage in den ehemaligen sowjetischen Republiken geworden ist. Zum Beispiel in Georgien unter seinem neuen Präsidenten: "Nicht wenige glauben, dass der undurchsichtige Iwanischwili das Land heimlich in die Arme Russlands zurückführen will, aus denen es sich unter Saakaschwili in schweren Kämpfen gelöst hat. Saakaschwilis Modernisierungskurs hatte sicher auch etwas Blindes, aber er hat dem Land einen kämpferischen Willen zur Autonomie gegeben, der überall spürbar ist. Die Sorge, ob die junge Demokratie Putins Machthunger standhalten wird, teilt Georgien mit vielen ehemaligen Sowjetrepubliken."

In der FAZ graust es Kerstin Holm zudem vor dem tschetschenischen Rapper Timati, der sich als abstinenter und antiwestlicher Musterschüler geriert.

Die schottische Frage ist keineswegs erledigt, meint Thomas Kielinger in der Welt mit Blick auf die neue Parteichefin der Scottish National Party (SNP) und kommende Ministerpräsidentin in Edinburgh, Nicola Sturgeon: "Sollte die Mehrheit der Briten 2017 in dem versprochenen In/Out-Referendum zur EU sich für einen Auszug aus Europa entscheiden, kündigt Nicola Sturgon schon jetzt ein neues Plebiszit zur Unabhängigkeit an."
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Kulturpolitik

Wenig Chancen räumen in der SZ Jörg Häntzschel und Catrin Lorch einem Gutachten ein, das Cornelius Gurlitt - im Auftrag seiner Erben - paranoiden Wahn und damit die Unfähigkeit zu freier Willensbildung attestiert. Allerdings würden Häntzschel und Lorch durchaus begrüße, wenn das Erbe des NS-Kunsthändlersohns gerichtlich geklärt würde: "Ein Gutachten, das man nicht zur Kenntnis nimmt, muss man nicht entkräften. Wenn man vorschnell Ziele formuliert, statt auf öffentliche Prozesse zu setzen und Widersprüchliches zu thematisieren, agiert man nicht demokratisch, sondern technokratisch. In diesem November 2014 sieht es so aus, als versäume man die Gelegenheit, das letzte Kapitel Nachkriegszeit in aller Aufrichtigkeit und Ausdauer fertig zu schreiben."
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Geschichte

Arno Widmann erinnert in der FR daran, wie das Deutsche Reich einst versuchte, die Osmanen während des Ersten Weltkriegs zum Dschihad anzustacheln: "Der Dschihad-Aufruf des Kalifen sollte die Muslime in Russland, in den französischen und englischen Kolonien mobilisieren. Die deutschen Experten würden die Dschihadisten mit Geld und Waffen versorgen. Das Reich würde mit Hilfe der Osmanen die englische Vorherrschaft über die Welt beenden."

In der taz berichtet Stefan Reinecke von einer Tagung in Jena, die sich noch immer am Antikommunismus als undemokratischem Ungeist abarbeitete. Am Ende versucht Reinecke die dialektische Versöhnung: "Vielleicht lässt sich im Rückblick lernen, wie Demokraten mit ihren Feinden umgehen sollten. Arthur Koestler, der mit "Sonnenfinsternis" ein Glanzstück antistalinistischer Literatur schrieb, urteilte mal, dass die reaktionären Antikommunisten aus "den falschen Gründen recht hatten", während die Liberalen, die im Sowjetreich nicht den Todfeind sehen wollten, aus "den richtigen Gründen Unrecht" hatten. Am Ende zählte eben nur die Logik - dafür oder dagegen."
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Religion

Eric Leser von Le Monde versucht in einem längeren Essay auf Slate.fr die Ideologie des "Islamischen Staats" (Daech) zu entschlüsseln: "Daech behauptet schlicht, unbesiegbar zu sein. "Getötet werden ist ein Sieg", sagt der Sprecher der Grupee, Abo Muhammad al-Adni, "ihr kämpft gegen ein Volk, das keine Niederlage kennt. Den Sieg erringt es im Tod." Die Kämpfer der Organisation opfern sich nicht nur aus religiöser Überzeugung, sie treiben einen Kultur des Märtyrer-Todes, denn sie werden direkt ins Paradies eingehen. Und das glauben sie wirklich." (Vielleicht sollte man sie einfach mal informieren, dass das Käse ist!)
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Überwachung

Fast totales Versagen wirft Constanze Kurz in der FAZ der Datenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff vor: "Die Bilanz ihres ersten Amtsjahres ist desaströs: Sie blieb in allen Diskussionen zurückhaltend und konnte in bald einem Jahr im Amt keinerlei Akzente setzen, was schon fast als Leistung anzusehen ist, da doch jede Woche eine neue heikle Datenproblemlage die Gemüter bewegt." Hier ihr sehr bescheidener Internet-Auftritt.

Eine echt tolle Bilanz zieht Laura Poitras im SZ-Interview mit Willi Winkler aus der amerikanischen Politik seit George Bush: "Wenn wir an die vergangenen dreizehn Jahre denken, dann haben die USA kein anderes Land mehr geschwächt als sich selbst."
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Medien

Die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender lieben Interviews mit berühmten Diktatoren, die gern als große Staatsaktion inszeniert werden (unvergessen: Claus Kleber vom ZDF und Achmadinedschad), nun also Putin beim großen Günther Jauch. Michael Hanfeld bringt es in der FAZ auf den Punkt: "Seit Freitag hatte die ARD die Geschichte angeheizt: Putin kommt! Putin kommt! Putin kommt! Das große Interview! Am Sonntag! Bei Günther Jauch! Dem Reporter Hubert Seipel wurde vom Kreml ein Interview gewährt! In Wahrheit war es genau umgekehrt: Das erste deutsche Fernsehen! Bot dem russischen Präsidenten! Die einmalige Gelegenheit!"

Auch in Deutschland kommt jetzt "Native Advertisment" an, eine Form der Werbung, die wie redaktioneller Inhalt aussieht (so wie einst die Tai Ginseng-Anzeigen in der Hör zu), schreibt Daniel Bouhs in der taz: "Der US-Import Buzzfeed setzt wie kein anderes Portal auf Native Advertising. Klassische Werbebanner haben auf dem Portal nicht nur ausgedient, sondern spielen bereits seit dem Start des deutschen Ablegers vor einem Monat überhaupt keine Rolle. Konsequent ist auch dies: Buzzfeed betreibt in London eine eigene Agentur, die für Werbekunden Native-Kampagnen produziert, die beim Publikum bestmöglich ankommen."

Jetzt erst entdeckt: Konstanze Fassbinder portätiert in der NZZ die kosovarische Journalistin Jeta Xharra, die ihr Handwerk bei der BBC gelernt hat und mit ihrem Politmagazin "Jeta në Kosovë" das Land aufmischt: "Mit ihrer Arbeit will Xharra die Zivilgesellschaft stärken. Dass das gefährlich sein kann, hat sie 2009 erfahren müssen. Mehrere Tage dauerte die Hetzkampagne der Zeitung Infopress gegen sie. Sie und ihr Team wurden als serbische Spione und Verräter beschimpft. Zuvor hatte Xharra in ihrer Sendung unter anderem berichtet, wie die Regierung die Medien mittels Werbeeinschaltungen beeinflusse und sich kritischer Journalisten entledige. Die Sendung müsse abgesetzt werden, forderte die Zeitung."
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