Efeu - Die Kulturrundschau

Neues Muster der Liebe

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21.11.2019. In der Zeit steht Peter Handke da und kann nicht anders. Und Deutschland ist schuld am Jugoslawienkrieg. Die Filmkritiker bewundern Cate Blanchett in ihrem großen Solo als Architektin Bernadette. Die FAZ wandert durch Christian Boltanskis Gedächtnisräume. Hyperallergic stellt die letzte lebende surrealistische Malerin vor: Sylvia Fein, die gestern hundert Jahre alt wurde. Die taz erinnert sich an das wilde Istanbuler Nachtleben der Neunziger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.11.2019 finden Sie hier

Literatur

"Jugoslawien hat für mich etwas bedeutet. Und wenn man mir jetzt mit Serbien kommt, ist man unredlich. Ich bin wegen Jugoslawien hin", erklärt Peter Handke im großen, unsinnigerweise hinter einer Paywall versteckten Gespräch, das Ulrich Greiner (butterweich und als Fan) für die heutige Ausgabe der Zeit mit dem Schriftsteller geführt hat. Es ist Handkes erste ausführliche Wortmeldung im deutschsprachigen Raum in der Nobelpreis-Kontroverse. Und er weicht kein Jota von seiner bisherigen Position ab. Die Serben sind die einzigen Opfer, der Westen ist an allem Schuld. Als Grund für seine Parteinahme für Serbien führt er an, dass die Berichterstattung in den Neunzigern "monoton, einseitig" gewesen sei. "Ein Journalist hat mir geschrieben, was in meinem Buch stehe, sei plausibel und erlaubt, aber ich müsse auch die andere Seite zur Kenntnis geben. Aber vordem war ausschließlich dieser andere Teil berichtet und kommentiert worden. ... Es ging um Gerechtigkeit für Serbien. Wie konnte Deutschland Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina anerkennen, wenn auf dem Gebiet mehr als ein Drittel orthodoxe und muslimische Serben lebten? So entstand ein Bruderkrieg, und es gibt keine schlimmeren Kriege als Bruderkriege. Mitterrand hat Jugoslawien zugunsten der deutsch-französischen Freundschaft preisgegeben. Wie viele Serben haben in Kroatien, in der Krajina gelebt! Und die sollten plötzlich im eigenen Land ein minderwertiges Volk sein?" (Dass die Serben den "Bruderkrieg" vor der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens längst angefangen hatten, scheint Handke nicht mehr in Erinnerung zu sein. Mehr dazu, aber auch zur Rolle der deutschen Medien und insbesondere der Rolle der FAZ kann man in diesem Artikel von FAZ-Autor Michael Martens zum 20. Jahrestag der Anerkennung lesen.) Weitere Auszüge aus dem Gespräch liefert die Agentur APA beim Standard.

Alida Bremer, Autorin des Perlentaucher-Essays, der die Diskussion um Handke maßgeblich vorangetrieben hat, antwortet auf Facebook auf Handkes Deutschland-Behauptung: "Mit einer weiteren abwertenden Geste wird die Chronologie und die gesamte historisch-politische Forschung schon wieder verworfen: Deutschland habe durch Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens und Herzegowinas die Kriege verursacht. Dass vor drei Tagen - am 18. November - der Jahrestag der barbarischen und verbrecherischen, grausamen Zerstörung der kroatischen Stadt Vukovar war, dass viele Vermisste aus Vukovar immer noch vermisst sind (sie wurden auf einer Schweinefarm verscharrt oder in den Fluß geworfen oder irgendwohin verschleppt und dort in eine Grube gestopft), und dass diese Tragödie drei Monate vor der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens geschah, das heißt dass die Anerkennung erfolgte, als der Krieg in Kroatien schon die schlimmsten Opfer gefordert hatte, wissen weder der Fragende noch der Antwortende dieses Gesprächs, und es interessiert sie auch nicht."

Das ist "nicht besonders erhellend oder gar neu", kommentiert Gerrit Bartels das Interview im Tagesspiegel. Auch werde von Greiner vieles nicht einmal angeschnitten, was in den letzten Wochen die Debatte befeuerte: "Etwa das Gespräch, das Handke mit den kruden, am rechten Rand operierenden Ketzerbriefen geführt hat (in dem er gesagt haben soll: 'Den Müttern von Srebenica glaube ich kein Wort.'). Oder sein Besuch bei einer internationalen Konferenz in Belgrad anlässlich des 20. Jahrestages der Nato-Angriffe auf Serbien, wo der Schriftsteller eine skurrile Rede hielt. Immerhin äußert sich Handke zu seinem Besuch bei Slobodan Milošević im Gefängnis in Den Haag und dessen Beerdigung. Er streitet ab, jemals Sympathien für den einstigen Präsidenten Serbiens gehabt zu haben (was sich in seiner Schrift 'Rund um das große Tribunal' anders liest). Im Freitag plädiert Mladen Gladic dafür, das von Alida Bremer an die Öffentlichkeit gebrachte Ketzerbriefe-Interview mit Handke bis auf weiteres "weniger als Schlüssel zu Handkes angeblicher Relativierung eines Genozids zu sehen denn als Apokryphe".

Weitere Artikel: "Wann immer ich auf Reisen bin und morgens in die Duschkabine eines Hotelzimmers in Stuttgart, Basel oder Castrop-Rauxel trete, denke ich an Terézia Mora", gesteht Rainer Moritz in der NZZ. Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls hat Hartmut Finkeldey für Tell-Review nochmal Thomas Rosenlöchers "Die verkauften Pflastersteine" und Radjo Monks "Blende 89" aus dem Regal geholt. Im Dlf unterhält sich Gisa Funck mit Rüdiger Safranski über dessen Hölderlin-Biografie.

Besprochen werden Emma Braslavskys "Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten" (SZ), Martin Walsers "Mädchenleben" (Tagesspiegel), Franz Doblers "Ein Schuss ins Blaue" (FR) und Rachel Cusks "Lebenswerk" (FAZ). Die Zeit erscheint heute noch einmal mit einer kleinen Literaturbeilage.

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Film

Solo für Cate: Richard Linklaters "Bernadette"

In Richard Linklaters "Bernadette" (nach dem Bestseller von Maria Semple) spielt Cate Blanchett die Titelfigur als "komplizierte, aber nicht unbedingt komplexe Figur", erklärt Ekkehard Knörer im Perlentaucher: Sie ist eine Architektin, der ein prestigereiches Projekt kurz vor Vollendung abgerissen wurde und seither als wandelnde Lebenskrise ihren Alltag bewältigt. "Verunreinigung und Unreinheit, Bricolage statt Einheitlichkeit sind, darum ist er so schön, die Bauprinzipien von Richard Linklaters Film. ... Der Film hat Launen, könnte man sagen, wie seine Heldin. Manche sind entzückend, andere seltsam, einige verblüffend konventionell, manches riecht nach Drehbuchdoktor, bei wieder anderen weiß man nicht recht. Bändigen aber lässt sich nicht nur Bernadette nicht, bändigen lässt sich auch dieser Film nicht. Wer darin nicht Richard Linklaters Handschrift erkennt, der hat diesen Regisseur nicht kapiert." Und FAZ-Kritiker Bert Rebhandl freut sich: "Für die Schauspielerin Cate Blanchett ist die Rolle der Bernadette schon aus dramaturgischen Gründen ein großes Solo."

Weiteres: Andreas Hartmann empfiehlt in der taz das Berliner Festival "Around the World in 14 Films", das die besten Festivalfilme des Jahres zu zeigen verspricht. In der Welt spricht Julie Delpy über ihren Film "My Zoe".

Besprochen werden die Stephen-King-Verfilmung "Doctor Sleep" (FR, Tagesspiegel, NZZ, SZ), Lisa Azuelos' auf DVD erschienener Film "Ausgeflogen" (taz), Hans Petter Molands gleichnamige Verfilmung von Per Pettersons Roman "Pferde stehlen" mit Stellan Skarsgård (taz), Gavin Hoods Whistleblower-Drama "Official Secrets" mit Keira Knightley (taz), Noah Baumbachs Scheidungsdrama "Marriage Story" (FR, Standard), Reetta Huhtanens "Die Götter von Molenbeek" (Perlentaucher), Helvécio Marins' "Querência" (taz), Teona Strugar Mitevskas "Gott existiert, ihr Name ist Petrunya" (Standard), der Dokumentarfilm "Land des Honigs" (SZ) und der Animationsfilm "Die Eiskönigin 2" (Tagesspiegel, Presse), zu dem die FAZ ihre Videokritik online gestellt hat, für die sich Dietmar Dath eigens in Schale geworfen hat:

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Bühne

In der letzten "Spielplan-Änderung" plädiert der Schauspieler Fabian Hinrichs auf einer ganzen FAZ-Seite dafür, George Byrons Stück "Sardanapal" wieder auf den Spielplan der Theater zu setzen: "Wenn Sardanapal sein auch heute noch überzeugendes Programm praktischer Vernunft anbietet, eines, das man gar nicht groß genug schreiben und fett genug drucken kann, nämlich 'EAT, DRINK, AND LOVE; THE REST IS NOT WORTH A FILLIP', wendet er sich, vollkommen vorbildlos, gegen die Wiederholung des Bisherigen: gegen das ewige Muster des materiellen Wachstums und der Eroberung für ein neues Muster der Liebe, der Toleranz, des Genusses, des Hier und Jetzt, der Naturverbundenheit, der Einbettung des Menschen in einen größeren Naturzusammenhang."

Besprochen werden Simon Stones Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" an der Staatsoper in München (taz, Standard), die Uraufführung von Chaya Czernowins Oper "Heart Chamber" an der Deutschen Oper Berlin (Zeit), Jules Massenets Oper "Don Quichotte" beim Opernfestival im irischen Wexford (FAZ) und Sebastian Nüblings Adaption von Navid Kermanis "Das Buch der von Neil Young Getöteten" fürs Thalia Theater in Hamburg (SZ, Zeit).
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Kunst

In der FAZ verneigt sich Barbara Catoir vor dem Künstler Christian Boltanski, dem das Pariser Centre Pompidou eine große Retrospektive zum Fünfundsiebzigsten ausgerichtet hat: "Darauf zielt die Kunst von Boltanski. Er schuf immer wieder neue Gedächtnisräume für die ermordeten Juden und hält damit etwas wach, das mit zunehmender Distanz zum Geschehen dem Vergessen anheimgegeben ist. Das geschieht mit einfachsten Mitteln - Fotografien, Objekten, Licht und Geräuschen - etwa mit rechteckigen Blechdosen, die er wie Bausteine zu Wänden, Altären, Türmen stapelt. Zum anderen mit kleinen Schreibtischbürolampen, die punktuell Porträtfotografien Verstorbener beleuchten, mit Tüchern, schwarzen und weißen, die etwas zu- oder verdecken. In einer Installation mit lichtdurchlässigen Vorhängen sind ihnen je ein Augenpaar aufgedruckt 'als Zeugen' oder, was näher liegt, als der schemenhafte Abdruck Jesu auf dem Schweißtuch der Veronica."

Weitere Artikel: Bridget Quinn stellt in Hyperallergic die surrealistische Malerin Sylvia Fein vor, die, im gleichen Jahr geboren wie André Breton und Philippe Soupault, gestern hundert Jahre alt wurde - immer noch alive and kicking, malt sie, macht Olivenöl und gibt Interviews. Hella Kaiser besucht für den Tagesspiegel das Städtchen Aschersleben, wo Neo Rauch aufwuchs und dem er das Grafikstiftung Neo Rauch spendierte. In China sind hunderte deutsche Kunstwerke - u.a. von Markus Lüpertz, Anselm Kiefer und Renate Graf - im Wert von rund 300 Millionen Euro verschwunden, berichtet Fabian Kretschmer in Monopol: Ein Hochstapler soll sie erschwindelt haben. Im Interview mit der Zeit kritisiert Hito Steyerl die Türkei-Politik Deutschlands, den kapitalistischen Kunstmarkt und den Einfluss von Mäzenen auf die Museen.

Besprochen werden eine Nolde-Ausstellung im Leopold Museum in Wien (Standard), die Ausstellung "Weaving beyond the Bauhaus" im Art Institute of Chicago (Hyperallergic), eine Ausstellung zum Leben, Forschen und Wirken der Humboldt-Brüder im Deutschen Historischen Museum (Berliner Zeitung) und die Aussstellung "Da Artemisia a Hackert" im italienischen Caserta (SZ).
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Musik

Michelle Demishevich erinnert sich in der taz an das wilde Istanbuler Nachtleben der 90er, das erst vom Drogenhandel und dann vom schleichenden Islamismus zunichte gemacht wurde: "In Beyoğlu war das Angebot damals zweigeteilt. Es gab Hetero-Bars und Gay-Bars. Zu dieser Zeit wurden trans Frauen nicht in den Heteroläden diskriminiert, sondern für gewöhnlich in den Gay-Bars. An der Tür von Gay-Clubs stand: 'Kein Eintritt für Transvestiten.' Die berühmtesten schwulen Schriftsteller, Intellektuellen, Dichter und Künstler der Türkei störten sich nicht daran und amüsierten sich jede Nacht in diesen Clubs. In diesen Gay-Bars, in denen trans Frauen nicht erwünscht waren, zogen sich die berühmten schwulen Männer Frauenkleider an und vergnügten sich mit jungfräulichen Typen."

FKA Twigs zählt im Popkosmos der Gegenwart zur Galaxie der Fluiden, schreibt Florentin Schumacher in einem von der FAS online nachgereichtem Porträt der britischen Popkünstlerin. Für ihn steht sie damit in einem größeren Zusammenhang: "Fluide Substanzen verändern kontinuierlich ihre Form, ständig sind sie bereit (und willens), sich zu wandeln. Feste Körper dagegen verformen sich nur, wenn mehr oder weniger starke Kräfte von außen auf sie wirken. Man braucht nicht viel Phantasie, um das auf die gegenwärtige Popmusik zu übertragen. Die Fluiden heißen Frank Ocean und Anohni, und die interessante Frage ist, ob das ständige Wandeln ihrer Songs, die Lust am Neuen, Unbekannten, an dem, was sich 2019 noch an Unerhörtem schaffen lässt, etwas damit zu tun hat, dass ein bisexueller Sänger und eine Transperson wissen, wie fragil und wandelbar selbst Sexualität und Geschlecht sind, scheinbare Letztgültigkeiten einer Identität." Eine Hörprobe aus ihrem neuen Album, auf das wir in der Kulturpresseschau zuletzt schon häufiger verwiesen.



Außerdem: Arno Raffeiner fasst für die NZZ-Leser die Debatte um Simon Reynolds' umstrittenen "Conceptronica"-Aufsatz (unser Resümee) zusammen - in seinem Blog hat Reynolds im übrigen einige der an seinem Text geübten Kritikpunkte aufgegriffen. Für die taz porträtiert Julia Lorenz die Soundkünstlerin Jasmine Guffond, die beim heute in Berlin beginnenden "Right the Right"-Festival im Haus der Kulturen der Welt auftritt. Am Freitag wird in Berlin erstmals der International Music Award verliehen, mit dem der Rolling Stone versucht, die nach dem Ende des Echo entstandene Lücke zu füllen, meldet Nadine Lange im Tagesspiegel. Die Zeit kommt heute nicht nur mit einer Literatur-, sondern auch mit einer Musikbeilage. Den Aufmacher widmet Volker Hagedorn der wachsenden Präsenz von Countertenören auf den Bühnen.

Besprochen werden ein Rio-Reiser-Liederabend von Jan Plewka (taz), Till Lindemanns Solo-Album "F&M" (Standard), ein Auftritt von Abdullah Ibrahim (taz), das neue Tindersticks-Album (SZ) und ein englisches Buch über David Bowies Lieblingsbücher (Guardian).
Archiv: Musik