Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Mai 2023

Ich komme mir nur selbst entgegen

31.05.2023. Die FAZ bewundert in Tübingen, wie sich Daniel Richter aus dem Gefängnis der Abstraktion befreite. Die SZ erklärt, wer sich hinter dem niederländischen Kollektiv Kirac verbirgt, das Michel Houellebecq vorführte. Die Welt rät, Ludwig Tieck zu lesen. Der Filmdienst feiert die Wiederentdeckung von Djibril Diop Mambétys senegalesischem Klassiker "Touki Bouki". Große Trauer herrscht über den Tod des großen Schauspielers Peter Simonischek, der Grandiosität mit Grazie verband und nur als Toni Erdmann zum Virtuosen der Peinlichkeit wurde.

Ich als Ganzes war nichts mehr

30.05.2023. Die Fimfestspiele in Cannes haben nicht die  versprochenen Entdeckungen gebracht, aber immerhin das Kino wiederhergestellt, bilanziert der Tagesspiegel. Die Goldene Palme für Justine Triets Gerichtsdrama "Anatomie eines Falls" reißt die Kritiker nicht vom Hocker: Die Welt sieht darin ein Zeichen gegen den politisierten Zeitgeist, ZeitOnline hätte aber lieber Sandra Hüller ausgezeichnet gesehen. Außerdem: Bei den Wiener Festwochen lassen sich die Nachtkritik und Standard widerstandlos in die Rätselwelten der Susanne Kennedy entführen. Die SZ nimmt erleichtert auf, dass sich das Berliner Theatertreffen von seiner verrätselten Konzeptkunst-Hermetik verabschiedet.

Lieber nicht wissen, was genau da passiert

27.05.2023. Zwischen all der Filmkunst in Cannes erkennt der Tagesspiegel mit Ken Loachs "The Old Oak" über syrische Flüchtlinge in einer englischen Bergarbeiterstadt, was Kino eben auch sein kann. Erst auf den zweiten Blick bemerkt die SZ das Grauen des Krieges hinter den formschönen Metallzylindern in einer Dresdner Ausstellung mit Ukrainischer Kunst von 1912 bis in die Gegenwart. Die FAZ tanzt sich frei, wenn Kirill Serebrennikow Barockmusik, 68er-Proteste und Parolen der "Letzten Generation" auf die Bühne des Hamburger Thalia Theaters bringt. Die taz  erweitert mit dem Zirpen und Glucksen von Jan St. Werner in Baden-Baden ihre Wahrnehmung.

Ein Kirschblütenfeuerwerk der Ideen

26.05.2023. In Cannes begutachtet die FR mit Wim Wenders meisterhaft gebaute öffentliche Toiletten in Japan. Die SZ amüsiert sich im Münchner Residenztheater, wo Stefan Bachmann Pirouetten tanzt auf Lion Feuchtwangers Romans "Erfolg". Hyperallergic stellt den chinesischen Künstler Liu Xiaodong vor. Die taz erliegt dem Geist unbedingter Lebensbejahung der Musikerin Kate NV. Und: die Filmkritiker trauern um den Regisseur Kenneth Anger, dieser Verkörperung aller unamerikanischen Umtriebe.

Auf der Bühne 110 Prozent

25.05.2023. Reinstes Kinoglück erlebt der Filmdienst in Cannes mit Wes Andersons "Asteroid City": tolle Stars, tolle Farben, Außerirdische - kurz, ein schwelgerisches Kino der puren Schaulust. Den Tagesspiegel erinnert der Film eher an hübsch ondulierte Zuckerwatte. Qantara lernt in der Ausstellung "Hot Cities" des Vitra Design Museums, wie arabische Architektur ihre Bewohner vor der Sonne schützt. Die Welt feiert die Entdeckung der amerikanischen Künstlerin Sheila Hicks endlich auch in Deutschland. Und: Die große Tina Turner ist gestorben, die Musikwelt trauert.

Einfach mal gar nichts

24.05.2023. Angesichts zahlloser Peinlichkeiten fürchtet die SZ um den Kern des Berliner Theatertreffens. Cannes bleibt das Festival alter Männer, seufzt die Welt. Sie können es halt, meint die FR und feiert Aki Kaurismäkis Film "Fallen Leaves", der von der Liebe zweier Arbeitsloser erzählt. Die FAZ erzählt, wie französische Restauratoren in Mossul die Schäden beheben, die der IS anrichtete. Mit der "Relief"-Schau im Städel dringen FAZ und FR zudem in die dritte Dimension der Malerei vor. The Quietus feiert die Rückkehr der britischen Folkmusikerin Shirley Collins.

Ein Funke emotionale Tiefe

23.05.2023. Höchst beglückt melden die Filmkritiker aus Cannes weitere Highlights im Wettbewerb, taz und Tagesspiegel sehen Sandra Hüller in Höchstform. Die NZZ geht mit George Benjamins markerschütternde Oper "Lessons in Love and Violence" auf Höllenfahrt. Die FAZ lernt bei Yoshitomo Nara in der Wiener Albertina, dass angry girls gute Laune machen. Die SZ bewundert die Noblesse der Geigerin Erica Morini.

Sandra Hüllers Kühle

22.05.2023. In Cannes überwältigt Jonathan Glazer mit seinem bösen Auschwitz-Film "The Zone of Interest" die Filmkritiker. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman des britischen Schriftstellers Martin Amis, der die Premiere nicht mehr erlebte: Er starb vor wenigen Tagen. Zu seinem Tod äußert sich unter anderem Salman Rushdie. Die FR trauert unterdessen der Tanzstadt nach, die Frankfurt einst war. Der Tagesspiegel würdigt den nigerianischen Architekten Demas Nwoko, der in Venedig den Goldenen Löwen erhielt.

Das Prekäre des balkanischen Daseins

20.05.2023. Fast einhelliges Lob für die Architekturbiennale von Venedig, die Lesley Lokko mit Schwerpunkt Afrika kuratierte. Der Standard hätte sich nur einen noch radikaleren Umbau gewünscht. Salman Rushdie dankt in einem ersten Auftritt seinen Rettern - der Guardian dokumentiert. Im Van Magazin spricht der Dirigenten David Chin über seine Liebe zu Bach und die Lage der Klassik in seiner Heimat Malaysia. Die FAZ stellt Chaza Charafeddines libanesisches Fotoarchiv, das den krassen Bruch  jungen Libanesinnen in den Sechzigern und heute zeigt. Die Literaturkritiker trauern um Dževad Karahasan. In Cannes lief der neue Indiana Jones.

Ein blonder Gott

19.05.2023. Die Welt bewundert Elfriede Jelineks Genialität in gleich vier Wiener Aufführungen an einem Abend. Simon Rattle wünscht sich in der SZ ein Konzerthaus für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die NZZ durchwandert ein Meer der Tränen in einer Ausstellung der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo. In Cannes erkennt der Tagesspiegel Wim Wenders und Anselm Kiefer als gutes Match. Und: Die Filmkritiker trauern um den gefährlich und gefährdet schönen Helmut Berger.

Budgets wie für einen Actionfilm

17.05.2023. Die Filmfestspiele in Cannes starten mit Maïwenns Historiendrama "Jeanne du Barry" mit Johnny Depp als müdem König Ludwig XV. Der Tagesspiegel erkennt die Ironie darin, ZeitOnline fordert eine Palastrevolte gegen die Leitung des Festivals. Abseits der Croisette wird den Filmkritiker durchaus mulmig bei Ulrich Seidls Film "Sparta". Die Berliner Zeitung huldigt der Diva und Muse Tilla Durieux. In der NZZ verliert Wolfgang Joop die Lust am Fashion-Irrsinn.

Realistisch in Teilweisigkeit

16.05.2023. Heute beginnen die Filmfestspiele in Cannes mit einem Großaufgebot an Regiestars im Wettbewerb. Sogar Frauen sind diesmal vertreten, staunt die taz. Hollywoods  Streamingverfechter sehen auf einmal ganz schön alt aus, meint die SZ. Das deutsche Kino allerdings auch, grämt sich der Tagesspiegel. Die FAZ überlegt, was an Milo Raus "Re-enactment "Antigone in the Amazon" fassungslos macht. Die Welt fragt, was die Leitung des Berliner Theatertreffens eigentlich zu sagen hat. In der taz fürchtet Dmitry Glukhovsky, dass sich Repression und Lügen in Russland auch nach Putin halten werden.

Jene Lust am Untergang

15.05.2023. Sibylle Lewitscharoff ist gestorben. Die Literaturkritiker würdigen eine hoch intellektuelle und begnadet exzentrische Schriftstellerin, die den Weg aus der trotzkistischer Kadergruppe zum frommen Pietismus nahm. FAZ und Nachtkritik erleben in Bochum einen komödiantischen "Macbeth". Der Tagesspiegel bewundert die unelitäre Fotografie von Daido Moriyama. Und der ESC erregt Ratlosigkeit und Gähnen im Feuilleton.  

Schweigt, lächelt und lauscht

13.05.2023. Auch die Schwarmintelligenz ist lernfähig, konstatieren Tagesspiegel und SZ bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises. Die FAS porträtiert die Leiterin der kommenden Architekturbiennale von Venedig, Lesley Lokko, die Afrikas Rolle in der Welt stärken will. Die FR tastet sich im Städel Museum durch Philipp Fürhofers brennende Spiegelwälder. Die entsetzte FAZ lernt bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen von einer tibetischen Schauspieltruppe, wie chinesische Polizisten foltern. Der Tagesspiegel fragt: Brauchen wir beim Theatertreffen wirklich noch zusätzlich zehn Lektionen in Sachen Responsibility, Solidarity, Herstory, Transfeminist, Diversity, Reflection oder Emptiness? Die taz feiert den Global Pop.

Immun gegenüber '-ismen' aller Art

12.05.2023. Heute abend wird der Deutsche Filmpreis verliehen: Die FR fordert endlich eine unabhängige Jury, die einen undotierten Ehrenpreis vergibt, statt den jetzt amtierenden Selbstbedienungsladen. Außerdem beginnt heute das Theatertreffen: Der Tagesspiegel nimmt das zum Anlass, über das schlechte Verhältnis von Theater und Kritik nachzudenken. In Paris wurde Miriam Cahns Gemälde "Fuck Abstraction!" von einem Rechtsaußen mit Farbe überschüttet. Wenigstens war sie violett, meint die FAZ. Das Van Magazin feiert Mieczsylaw Weinbergs Oper "Der Idiot" am Musiktheater an der Wien.

Erectur Ejectus

11.05.2023. Leicht überfodert wirken die Filmkritiker nach Ari Asters "Beau is Afraid" mit Joaquin Phoenix als angstgestörten, mittelalten Amerikaner mit Mutter-Komplex und sexueller Ladehemmung: Bisschen viel Freud für SZ und FR, zu viele Peniswitze für die taz. Die Welt hört Singeli, eine sehr nervöse Musik aus dem tansanischen Daressalam. Der Freitag macht sich Sorgen um den ESC. Die NZZ amüsiert sich königlich mit Birgit Minichmayr und Stephanie Reinsperger über alte weiße Männer. Die FAZ besucht einen neuen Ausstellungsraum in der Pariser Banlieue: den Hangar Y.

Grün Reden und grau Bauen

10.05.2023. In der taz erinnert der türkische Künstler Viron Erol Vert an jenen fatalen Moment, als Recep Tayyip Erdogan die Wirkung der Kunst verstand. Die taz empfiehlt auch dringend die Ausstellung zu ukrainischer Kunst im Dresdner Albertinum. Die SZ würde nach Eröffnung des Hamburger Architektursommers am liebsten einen Baustopp verhängen, und zwar für immer. In der NZZ betont Sergei Gerasimow, dass es die russischsprachigen Städte im Osten der Ukraine waren, die die russische Armee aufhielten. Und die taz windet sich bei Roger Waters' Konzert in Hamburg, das auf billigsten Plätzen über hundert Euro kostete.

Technologie schlägt Diskurs

09.05.2023. Die FAZ begrüßt, dass Simbabwes Oberstes Gericht die Verurteilung der Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga kassiert hat. taz und Nachtkritik erleben die Verbindung von Monteverdi und Joan Didion beim "Ja, Mai"-Festival in München. Der Guardian blickt hingerissen in das offenherzige Gesicht des Franz von Assisi. Die WAZ rechnet vor, wie ein Theater auf 100 Prozent Auslastung kommt. ZeitOnline wippt zu den Klängen von Grimes' KI-Avataren.

Wie schön die Wirklichkeit sein könnte

08.05.2023. Die taz erkundet mit der Kunstschau "RuhrDing" die männliche Tristesse von Essen-Steele. Nach einer ganz klassischen "Phädra" in Florenz fragt die FAZ, wo  Deutschland mit seinem postdramatischen Theater eigentlich international steht. Die FAS recherchiert zur Recherche über Til Schweiger und stößt auf die exklusive Partnerschaft von SZ und Constantin Film. In der FAS geißelt auch der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Mykhed den Imperialismus der russischen Kultur.

Irgendwo in dieser neuartigen Weirdness

06.05.2023. Die FAS entdeckt in den KI-Bildern des finnischen Künstlers Roope Rainisto das kollektive Unbewusste unter der trivialen Oberfläche. Bei einem Goldesel wie Til Schweiger schaut die Branche gern mal weg, konstatiert die SZ. Theater wird in Russland zum Verbrechen, meint der Standard nach der Verhaftung der Theaterregisseurin Schenja Berkowitsch und der Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk. Jetzt machen alle mit Karl Lagerfeld, was sie wollen, graut es der SZ nach einer Ausstellung in New York.  Und Berthold Seeliger hört in der Jungen Welt den einzig legitimen Nachfolger von Charles Mingus: William Parker.

Diese Attitude der diskursiven Weltverbesserung

05.05.2023. Nachtkritik und FAZ erleben einen fast perfekten, atmosphärisch dichten Auftakt der Ruhrfestspiele mit "Drive your plow over the bones of the dead" der englischen Theaterkompanie Complicité. Da ertragen sie auch gern, wenn ein kindlicher Kohlhaas ihnen ein blutiges Wildschweinherz auf den Tisch knallt. Popsänger Ed Sheeran hat seinen Plagiatsprozess gewonnen, freut sich die SZ. Sonst wäre es vorbei gewesen mit dem Pop. Die taz erinnert an Burkhard Seiler, der 1979 "den einflussreichsten Schallplattenladen des alten West-Berlin" gründete. Der Tagesspiegel betrachtet in der Berliner Kunstbibliothek unheimliche Phänomene aus dem Jahr 1665.

Hundert schwarze Augen

04.05.2023. Die Filmkritiker schwärmen von Angela Schanelecs "Music". Artechock fragt fassungslos, warum die BKM (Vorsitz: Claudia Roth) ausgerechnet diesem Film keine Verleihförderung gönnt. Monopol unterhält sich in Darmstadt mit einer ganzen Armada reizender Entitäten von Marco Schuler. Die SZ verknallt sich in den neuen Anbau des American Museum of Natural History. Außerdem unterhält sie sich mit dem russischen Science-Fiction-Bestseller-Autor Dmitry Glukhovsky über die Diktatur, die Russland heute ist. Die FAZ bewundert an der Oper Lyon die hinreißende Sopranistin Corinne Winters in Janáčeks "Katia Kabanova".

Wunder der Gegenwart

03.05.2023. In der NZZ überlegt Regisseur Stas Zhyrkov, wie das ukrainische Theater an seine einstige Avantgarde anschließen könnte. Mit ihrem großen Streik stemmen sich Hollywoods Drehbuchautoren auch gegen die Aussicht, durch KI überflüssig zu werden, weiß die SZ. Die Fotografen sind eh schon in Schockstarre, ergänzt Boris Eldagsen in der Welt. Die Musikkritiker trauern um Folkmusiker Gordon Lightfoot, der seine Melodien so enorm samtig hintupfen konnte.

Ein wenig giftig insgesamt

02.05.2023. Im barocken Flirren momentaner Gefühle schwelgen FR und FAZ mit Barrie Koskys Inszenierung von Händels "Hercules". Im Freitag preist Alexandru Bulucz die Lyrik seiner österreichischen Kollegin Anja Bachl. Die Literaturkritiker möchten der guten Laune nicht trauen, mit der sie aus Leipzig zurückkehren. Der Standard steht im Zentralarchiv vor dem digitalen Dilemma der Filmgeschichte. Die fetten Serienjahre sind vorbei, konstatiert die Welt. In der FAS erklärt der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov, dass in ihm wirklich keinerlei Stille sei.