Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2022

Das mit dem Truthahn

30.06.2022. Im Spiegel wütet Eva Menasse gegen den "diskursiven Reinigungsfuror eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten", das sich einbilde, dieses Land antisemitenfrei zu kriegen. Das Taring-Padi-Werk hätte als Denkmal für die Unzulänglichkeiten des Postkolonialismus stehen bleiben sollen, meint Deniz Yücel in der Welt. Die Filmkritiker amüsieren sich mit Jöns Jönssons Komödie "Axiom", die so schön an den Stellschrauben der Klassengesellschaft dreht. Die Zeit stimmt zum Abgesang auf die Wagner-Dynastie in Bayreuth an. In der NZZ macht der türkische Schriftsteller Ismail Güzelsoy das wahre Problem der Türkei aus.

Perfektion der Eigenwilligkeit

29.06.2022. Eiskalt exekutierte Charakterpartien erlebt die schaudernde FAZ in Krzysztof Pendereckis Historienoper "Die Teufel von Loudon" in München. Die SZ erkundet mit Sven John die mentalen Landschaften in Saßnitz, dem Zentrum der deutsch-russischen Petropolitik. Die Welt fordert von Claudia Roth, die Documenta zu übernehmen oder dicht zu machen. Die Schriftstellerin Mirna Funk will in der NZZ kein Opfer sein. Und die FR taucht unter.

Sprich über die Hoffnung

28.06.2022. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan. "Naheliegend, aber perfekt" findet der Tagesspiegel die Entscheidung. Die Berliner Zeitung lernt von Zhadan, an die Zukunft zu gauben. "Slawa Ukraini!", ruft die NZZ. Die SZ bewundert Luigi Dallapiccolas Sinns fürs Kantable, der seine Oper "Ulisse" schöner mache, als es Zwölftonmusik eigentlich erlaubt. Die FAZ freut sich, dass Kärnten sich nicht mehr für Günther Domenigs Steinhaus schämt. Crescendo sieht in Salzburg einen Zug gegen die Wand rasen.

Schön schwebende Sätze

27.06.2022. Die Literaturkritik resümiert den Bachmann-Wettbewerb: Für die Berliner Zeitung hat slowenische Autorin Ana Marwan mit ihrem Text "Wechselkröte" zu Recht gewonnen, die FAZ fragt sich jedoch, woher die gute Stimmung rührte: Wurde der Wettbewerb infiltriert? Die FAZ blickt außerdem mit Susan Meiselas ins traurige Herz der Triebökonomie. Die SZ begibt sich beim Münchner Festival "Radikal Jung" auf die "Bad Roads" des Donbass. Die taz stellt den in Dresden lebenden Musiker Ezé Wendtoin, der westafrikanische Sounds mit Hannes Wader kreuzt.

Kleine Diktaturen

25.06.2022. Im Spiegel bedauern Taring Padi, dass man sich in Deutschland nicht mehr über Grenzen hinwegsetzen darf. Es sind "nicht einzelne Ausrutscher, die hier wehtun. Es ist die Systematik", fasst die taz das Documenta-Drama zusammen. Die Deutschen wittern überall Antisemitismus, schimpft Barrie Kosky im großen, noch vor dem Documenta-Eklat geführten Abschieds-Interview in der SZ. Der Standard lernt in Wien von dem Maori-Künstler George Nuku, wie man aus Plastik Fische und Götter schnitzt. "Dieselben Politiker, die mit dem Finger auf Europa und Amerika zeigen, haben dort selbst gut gefüllte Bankkonten," sagt Tsitsi Dangarembga im SZ-Gespräch über die Korruption in Simbabwe.

Blank geputzte Disco

24.06.2022. Willkommen auf der Antisemita 15, ruft Sascha Lobo bei Spon: Sabine Schormann weist die Verantwortung zurück, Ruangrupa will sich in Sachen Antisemitismus weiterbilden, Taring Padi plant, die bösen Geister auszutreiben und Claudia Roth möchte künftig mehr Einfluss. Das Werk erfüllt übrigens den Tatbestand der Volksverhetzung, erinnert die SZ. Und die Berliner Zeitung ist bestürzt, dass sich nun alle so unversöhnlich gegenüberstehen. Außerdem: Die FAZ gönnt sich mit Ugo Rondinone in Frankfurt Phasen des Ruhens. Die taz erklärt uns den hybriden, sehr tanzbaren hamburgisch-ghanaischen "Burger-Highlife". Die Zeit porträtiert den afghanischen Charlie Chaplin Karim Asir.

Dann gehen wir. Leise

23.06.2022. Olaf Scholz bleibt der Documenta fern, Taring Padi steht unter Polizeischutz - und die Zeit fragt: War die Durchführung der Documenta ein Verstoß gegen den BDS-Beschluss des Bundestags? Müssen die Grenzen der Kunstfreiheit neu gezogen werden? Die Welt blickt auf die durchsubventionierte Sorglosblase der Dresdner Staatskapelle, die mit dem von #metoo-Vorwürfen verfolgten Daniele Gatti den Neuanfang wagen will. Die Filmkritiker finden keinen Draht zu Baz Luhrmanns "Elvis".

Schaut her, anderswo ist man nicht so pingelig

22.06.2022. Großes Kehren nach dem Documenta-Eklat: Das antisemitische Werk von Taring Padi wurde inzwischen abgebaut, jetzt werden die Rufe nach Entlassung der Verantwortlichen laut. Haltet den Dieb, ruft die SZ. "Ist man traurig darüber, dass in Deutschland über Judenhass nicht diskutiert werden kann?", fragt Jürgen Kaube in der FAZ nach dem Statement der Verantwortlichen. Die Welt ärgert sich über die große Heuchelei, außerdem zeichnet sie die "gefährliche Nähe" zum BDS auch im Kuratorenteam nach. Für die NZZ streift Jan Koneffke durch ein Bukarest der Gegensätze.

Drama des Nichtgelingens

21.06.2022. Empörung mit Verzögerung nach der Entdeckung eines antisemitischen Wimmelbildes auf der Documenta: "Die Documenta fördert Propaganda im Goebbels-Stil", twittert etwa die israelische Botschaft, die Feuilletons atmen schwer und die Documenta selbst ist traurig über "die Unmöglichkeit des Dialogs". Der Osten wird immer noch aufs Skurrile reduziert, stöhnt die NZZ über Leander Haußmanns "Stasikomödie". ZeitOnline empfiehlt statt Valium die Berieselung mit misogynen Ressentiments von Drake.

Kommunikation: Totalausfall

20.06.2022. Am Wochenende eröffnete die Documenta 15 in Kassel. Bei seiner Eröffnungsrede erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier daran, dass die Freiheit der Kunst endet, wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird. Macht aber niemand, entgegnen monopol und FAZ. Die Welt schlendert derweil einsam durch die Ausstellungen, sieht aber statt der versprochenen Kommunikation nur einsame Menschen über ihre Handys gebeugt. Außerdem: Das klassische Ballett ist in der Krise, diagnostiziert die FAZ. ZeitOnline dokumentiert die großartige Rede der ukrainischen Lyrikerin Halyna Kruk beim Poesiefestival Berlin.

Die Aktion der anderen

18.06.2022. Die Documenta hat eröffnet. Antisemitisch ist sie nicht, meint die FAS, die dafür der Documenta-Direktion katastrophales Krisenmanagement vorwirft. Sie hätte auch gern gewusst, was VW als Sponsor auf einer westliche Ausbeutung kritisierenden Kunstschau zu suchen hat. Die taz hätte gern mit dem einen oder anderen Künstler über sein Werk diskutiert. Außerdem: Im Tagesspiegel denkt Fiston Mwanza Mujila darüber nach, was es heißt, in Europa über Afrika zu sprechen. Der Jewish Chronicle fragt, warum BDS die Band Big Thief davon abgehalten hat, in Israel ein Benefizkonzert für palästinensische Kinder zu geben. Die Filmkritiker trauern um einen großen Verführer: Jean-Louis Trintignant.

Dimensionen einer gewaltigen Ekstase

17.06.2022. Morgen eröffnet die Documenta 15, die Journalisten durften vorher schon mal gucken: Diese Schau ist welthaltig wie eine Spülküche, freut sich die SZ. Und wunderbare Kunst gibt es auch. Davon hat der Standard noch nicht so viel gesehen. Und die Welt fragt sich, ob die gefeierte Perspektive des globalen Südens nicht nur ein Manöver ist, von unbequemen Fragen hierzulande abzulenken. Außerdem: Maxi Obexer, Teil der Doppelspitze des alten PEN Deutschland, ist zurückgetreten, meldet die SZ: Zu viele reformresistente Männer. Die NZZ feiert das neue Museumsquartier in Lausanne.

Der reale Nicolas Cage

16.06.2022. Die nmz macht einen Klang-Spaziergang im Berliner Westhafen. Van beschreibt, wie Tarkowski mit Bach zusammenarbeitete. Stocknüchtern, aber trotzdem saukomisch findet die Welt Simon Brückners Doku über die AfD, "Eine deutsche Partei". Putin ist nicht Russland, versichert der russische SF-Autor Dmitry Glukhovsky im Interview mit der Zeit. In der NZZ platzt Michael Wolfssohn angesichts der Debatte um die Documenta der Kragen.

Ein flirrender Freiheitsrausch

15.06.2022. In der SZ fordert der Komponist Marc Sinan mindestens fünf Opernhäuser im Land, die ausschließlich Neues aufführen. Auf ZeitOnline wirft Saba-Nur Cheema in der Debatte um die Documenta den Antideutschen eine Überidentifikation mit Israels militärischer Stärke vor. In der Art News gibt Marina Abramovic ihren Widerstand gegen NFTs auf. In der FAZ fragt Bernhard Schlink, welcher PEN nun das Geld bekommt. Die FAZ bewundert die Malerin Rosa Bonheur, die sich eine Sondergenehmigung zum Tragen von Hosen erstritten hatte, um derbes Vieh malen zu dürfen. Die taz porträtiert die ukrainische Harfenistin Veronika Lemishenko.

Glanz und Ruhm, aber kein Geld

14.06.2022. In der Welt erklärt Regisseurin Nicolette Krebitz, warum sie eine Sophie Rois nicht unterm Patriarchat leiden lassen kann: Der fällt viel zu viel für sich selber ein. In der SZ erinnert sich Klaus Lemke an seine aufregenden Tage mit furchterregenden Rockern. Die NZZ lernt im Münchner Museum Fünf Kontinente die Rindenmalerei der Aborigines zu deuten. Die FAZ sieht bei den Ruhrfestspielen marokkanischen Aufbruchsgeist über die Bühne fliegen. Das Zeit-Magazin trägt jetzt keine Mädchenfarben mehr, sondern Shocking Pink.

Alle Straßen liegen im Nebel

13.06.2022. In der SZ erklärt Hans Eichel, dass die Documenta keine deutsche Veranstaltung sei, sondern eine Weltkunstausstellung. Die Jüdische Gemeinde fürchtet zurecht eine Desolidarisierung der deutschen Kunstinsitutionen, sagt Natan Sznaider im Interview mit der Berliner Zeitung. Danke Barrie, singt und tanzt die taz nach Barrie Koskies Abschiedstournee an der Komischen Oper. In der FAZ misstraut Petra Morsbach dem neuen PEN Berlin, in der Zeit wünschte Jana Hensel Deniz Yücel etwas weniger Charisma. Die FAS meldet, dass Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga, der in Simbabwe Haft droht, in Berlin Zuflucht gesucht hat.

Die latente Bedrohlichkeit der Avocado

11.06.2022. Eva Menasse und Deniz Yücel stehen dem neuen PEN Berlin nun offiziell vor. Das ist vor allem PEN Yücel, raunt die FAZ, auf den Geist der praktischen Solidarität hofft indes die taz. In der SZ schildert der russische, gestern vom PEN Berlin im Exil empfangene Schriftsteller Dmitry Glukhovsky die Angst der Russen. Im Spiegel verteidigt Claudia Roth Ruangrupa: Israel werde in anderen Teilen der Welt anders gesehen als in Deutschland. Die taz streift über die 12. Berlin Biennale und landet in einem Parcours der Abgründe. Im VAN-Magazin erzählen Musiker aus Charkiw von Konzerten zwischen Explosionen.

Elite, aber nicht elitär

10.06.2022. Die taz begibt sich mit dem Konzeptalbum "A Musical Walk Through a Legendary City" des Pianisten Vadim Neselovskyi auf eine musikalische Reise durch Odessa. Die NZZ bestaunt die vielen freien Stellen an britischen Museumswänden, nachdem die Danksagungen an die Pharmafamilie Sackler abmontiert wurden. Vor 100 Jahren herrschte einhellige Kriegsbegeisterung, heute beharken einander "Sofa-Pazifisten" und "Balkon-Bellizisten", diagnostiziert in der SZ der Literaturhistoriker Peter Walther. Und: Vor vierzig Jahren starb Rainer Werner Fassbinder - nur Artechock erinnert sich.

Mit Peitsche und Zylinder

09.06.2022. Der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky ist von Russland zur Fahndung ausgeschrieben worden, meldet die taz, wegen "Beleidigung der russischen Armee". Nichts könnte derzeit aktueller sein, als Nikolai Evreinovs Stück "Die Schritte der Nemesis" von 1941 über die Moskauer Schauprozesse, das Yuri Birte Anderson jetzt in Braunschweig inszeniert hat, meint die FAZ. Der Guardian berichtet über Proteste muslimischer Aktivisten gegen den Film "The Lady of Heaven", weil er Mohammeds Gesicht zeigt. Einige Kinos haben ihn bereits aus dem Programm genommen. Die Zeit blickt in zwei großen Artikeln auf die Geschichte der weiblichen Literatur in Deutschland.

Nein, nein, wir haben nichts zensiert

08.06.2022. In der FAZ erklärt der Theatermacher Sulayman al-Basam, wie Zensur in Kuweit funktioniert. FR und FAZ bestaunen in Basel den Willen zur Abstraktion schon in den frühen Werken Mondrians. Der Standard ermuntert die Gen Z, ihren Nonkonformismus mit Kate Bush zu stärken. In der Welt erklärt Verleger Herbert Wiesner, warum er zusammen mit Deniz Yücel und 200 weiteren Autoren am Wochenende den PEN Berlin gegründet hat. Zeit online bewundert jetzt schon die weltanschauliche Dynamik des neuen PEN.

Drahtseil aus Geschmacksurteilen

07.06.2022. Andrea Stift-Laube denkt im Standard darüber nach, wie man in Österreich vom Schreiben leben kann. Die FAZ versteht nach Sierra Pettengills Doku "Riotsville, USA", wie die Bürgerrechtsbewegung zum Anlass genommen wurde, die Polizei militärisch aufzurüsten. Die SZ steht überrascht beim Rock am Ring: Fast nur Männer hier! FAZ und Welt bestaunen  Kirill Serebrennikows Umschreibung von Webers "Der Freischütz": Nicht um den treffenden Schuss geht es, sondern um den treffenden Ton.

Der Horror des Realen

04.06.2022. Auf Zeit online fragt Hito Steyerl: Warum so abstrakt postkolonial, Documenta? Angst vor der eigenen Geschichte? Wenn Künstler  politisch argumentieren, müssen sie sich auch an der politischen Weltlage messen lassen, meint die taz. Der Tagesspiegel winkt dem von Fahrrädern angetriebenen Documenta-Schiff "Citizenship" hinterher. Die Schriftstellerin Marina Skalova denkt in der NZZ über die Aufgabe des Künstlers in Zeiten des Krieges nach. In der FAZ beschreibt Kurt Drawert die systemsprengende Kraft der Melancholie. In der taz fragt Maria Aljochina von Pussy Riot, ob das EU-Land Kroatien wirklich ihre Bandkollegin Aysoltan Niyazova nach Turkmenistan ausliefern will.

Es geht darum, die Sonne einzufangen

03.06.2022. Intellectures schwelgt in der Kunsthalle St. Annen in den dezidiert weiblichen Perspektiven von Modefotografinnen. John Waters erklärt in der LA Times, was ihm die größten Sorgen bei seinem Debütroman bereitet. "Fünfzig Prozent sind das neue Ausverkauft", spottet der Standard und erwartet neue Strategien von den Bühnen. Im Interview mit monopol erklären die Künstlerinnen Sung Tieu, Marianna Simnett und Verena Issel ihre Vorstellungen von fairen Strukturen in der Kunstwelt. Zeit online freut sich über die neuen Folgen von "Borgen".

Das Unstete als ästhetischer Motor

02.06.2022. Die FR beugt sich entzückt über prächtig weiße Elfenbeinkunst. Die Filmkritiker finden die Grundbedingungen des Menschseins widergespiegelt in Joachim Triers Film "Der schlimmste Mensch der Welt". Die taz fragt: Könnte Theater nicht auch mal unbequemes Überdenken eigener Haltungen anregen? Die FAZ berichtet von der Verhaftung der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga, die für Reformen in ihrem Land eingetreten ist. Das Van Magazin protestiert gegen die geplante Erhöhung der Portokosten für Warensendungen ins Ausland: Das treffe vor allem kleinere Schallplattenhändler und -labels.

Die Betonung ziviler Standards

01.06.2022. Friedrich Christian Delius ist tot. Die Feuilletons trauern um den Intellektuellen, Mentalitätshistoriker und sensiblen Stilisten. Die SZ widmet sich auf zwei Seiten dem eskalierenden Streit um die Documenta. Die Nachtkritik lernt bei den Wiener Festwochen, wie Glockenläuten einen Sturm beenden kann. Die Jungle World erzählt die Geschichte des kollektiv organisierten Avantgarde-Labels Free Music Production.