Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Mai 2022

Ein Sprengmeister am Werk

31.05.2022. Die Welt bewundert in Stuttgart die nachdenkliche Eleganz der Carrie Mae Weems. Die FAZ entdeckt in Oskar Zwintscher den sächsischen Klimt. Die NZZ würdigt den verstorbenen slowenischen Dichter Boris Pahor als Verteidiger einer nicht geduldeten Wahrheit. Auf ZeitOnline erklärt Regisseur und Cannes-Gewinner Ruben Östlund, wie Marx ihn davor feit, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, selbst wenn es um Superreiche geht. Die SZ feiert die explosive Kraft im Blues von Albert Ayler und Mary Parks.

Hey Leute! Das Theater hat wach und offen zu sein

30.05.2022. In Cannes sind die Filmfestspiele mit einer Goldenen Palme für Ruben Östlunds Reichensatire "The Triangle of Sadness" zu Ende gegangen. FR, NZZ und Standard hätten feinsinnigere Filme bevorzugt, nur Artechock freut sich über diese Provokation des Publikums. In den Augen von FAZ und ZeitOnline ist Cannes alt geworden. In der Berliner Zeitung zieht Claus Peymann gegen Theaterintendanten zu Felde, die ihre Häuser führen wie Bankfilialleiter. Die taz lässt sich in die kosmischen Tiefen des Loop-Sounds fallen.

Zum Reinflauschen

28.05.2022. Die Welt gibt sich in Potsdam den utopischen Autonomievorstellungen der deutschen Abstrakten hin. Die taz reist zur Art Dakar und findet gestretchte Kuhhaut aus China. Die SZ blickt im zerstörten Charkiw bang in eine Stadt der Zukunft mit Bunkern und Radwegen. Das Beste kam in Cannes zum Schluss, nämlich Kelly Reichardts Künstlerinnenkomödie "Showing Up" und die Familiengeschichte "Mother and Son" von Léonor Serraille, notiert der Tagesspiegel. Den "Odeur der Notlösung" vernimmt indes die FAZ. Die SZ feiert mit Abba in London den Sieg des Nichtseins über das Sein.

Das Alltägliche zum Schweben bringen

27.05.2022. Endspurt in Cannes: FAZ und FR küren Hirokazu Kore-Edas Tragikomödie "Broker" zum Palmen-Favoriten. Eine Frau wird das Rennen vermutlich nicht machen, denn nur drei der 18 Filme stammen von Frauen, ärgert sich die Zeit und wirft dem Festival "geistige Günstlingswirtschaft" vor. Der Osten bekommt momentan den "vierten Nackenschlag", klagt der Schriftsteller Lukas Rietzschel in der FAZ. Der Tagesspiegel blickt mit dem Fotografen Ruslan Hrushchak auf eine Ukraine, die es so nicht mehr gibt. Von Beifallsstürmen für Anna Netrebko in Paris berichtet die SZ: Aber vorher schickte man einen Rundbrief.

Chirurgie ist der neue Sex

25.05.2022. In Cannes pilgern die Kritiker in David Cronenbergs Body-Horrorfilm "Crimes of the Future", einem Schönheitswettbewerb der Organe. Kontrovers nehmen FAZ und Tagesspiegel Sergei Loznitsas "Natural History of Destruction" auf, einen Essay über den Luftkrieg. Die Nachtkritik verfällt mit Thom Luz dem traurigen Zauber der Klavierstimmer. In Suhrkamps Logbuch bekennt Herausgeber Thomas Wörtche, dass er das Wort Krimi kaum noch in den Mund nehmen mag. Und in der Zeit prophezeit Wolfgang Ullrich ein neues Zeitalter des Maskenspiels.

Verstörung des geschlossenen Weltbilds

24.05.2022. Wenn man schon weiß, wie die Welt zu sehen ist, braucht niemand mehr Filme zu machen, schimpft Lars Henrik Gass im Filmdienst nach dem Kongress "Zukunft Deutscher Film". Der Freitag hätte gern Marie Kreutzers Sisi-Film "Corsage" im Wettbewerb in Cannes gesehen. 54books erinnert an die erschossene Renaissance der ukrainischen Literatur. In der taz führt der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez durch die Gewaltgeschichte Bogotás. Die NZZ feiert das amoralische Werk der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas. Und Crescendo blickt traurig auf das große Grau im Klassikbetrieb.

Hundert wohlplatzierte Pointen

23.05.2022. In Cannes schlürfen FR und Tagesspiegel genüsslich Ruben Östlunds Sozialsatire "The Triangle Of Sadness", die ihnen runtergeht wie ein schlecht gemixter Martini. Der Tagesspiegel bewundert auch kapriziöse Kaktus-Architekturen in den Fotografien Graciela Itubides. FAZ und FR schwirrt der Kopf nach einem Elfriede-Jelinek-Abend am Schauspiel Frankfurt. taz und SZ sehen nach dem Theatertreffen das postdramatische Theater wohlauf. Die NZZ ruft mit Anne Kaestle die Architektur zum zivilen Ungehorsam gegen die Bauvorschriften auf.    

Die Paradoxie klopft an

21.05.2022. Bilder ohne Trost sehen die Filmkritiker im letzten Werk des in Mariupol erschossenen Dokumentarfilmers Mantas Kvedaravičius: Für den Tagesspiegel ist es ein Dokument menschlicher Widerstandskraft, für die FAZ ein Wunder, einfach weil es ihn gibt. Die Berliner Zeitung wirft den Kritikern der indonesischen Künstlergruppe Ruangrupa Rassismus vor. Die FAZ fragt, warum Ruangrupa auf der Documenta kein Wort über die rassistische Behandlung der indigenen Völker im eigenen Land verliert. In der taz spricht Schriftstellerin Katja Petrowskaja über ihr Verhältnis zur russischen Sprache. In der NZZ denkt die angolanisch-portugiesische Autorin Djaimilia Pereira de Almeida über ihre Privilegien nach.

Wie ein frisch gebügelter Himmel

20.05.2022. 458 Kulturstätten wurden in der Ukraine seit Beginn des Kriegs von russischen Truppen systematisch beschädigt oder zerstört, lernt die SZ. In Belarus wurde die belarusische Übersetzung von George Orwells Roman "1984" verboten und der Verleger verhaftet, informiert die FAZ. Für Tom Cruises neue Kampfjet-Sause "Top Gun" malte die französische Luftwaffe glatt eine Tricolore in den Himmel von Cannes, staunen die Kritiker. Die SZ rümpft die Nase und unterhält sich lieber mit dem russischen Filmregisseur Kirill Serebrennikow über den Krieg. Der Designer Dieter Rams feiert Neunzigsten: In der FR würdigt Designhistoriker Klaus Klemp die poetische Formensprache von Rams.

Das ganze peinliche Nazi-Kapitel

19.05.2022. Die Welt lernt in einer Lese-Ausstellung in Wuppertal-Vohwinkel, wie der Kanon der deutschen Nachkriegskunst zustande kam. In der FAZ gibt Judith Hermann Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Der ukrainische Staatspräsident Selenski wünschte sich in seiner Eröffnungsrede für das Filmfestival von Cannes einen neuen Charlie Chaplin: Tagesspiegel und FR nicken zustimmend. Die SZ bewundert den Mut Marija Aljochinas. In der nachtkritik empfiehlt der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz ein Stück über Verlust von Rimini Protokoll. Und im Van Magazin denkt Thomas von Steinaecker darüber nach, wie Werner Herzog Musik in seinen Film einsetzt.

Wie datieren Sie diese Madonnenskulptur?

18.05.2022. In der FAZ erklärt Ursula Krechel, warum sie nicht aus dem PEN austritt: "Wenn man nicht um ein Haus kämpft, kommt die Abrissbirne." In der Zeit möchte Kirill Serebrennikow nicht der russischen Kultur die Schuld am Krieg geben, sondern der Unkultur. Ähnlich sieht das der Pianist Alexander Melnikov. Die SZ beklagt das Schwinden der Kennerschaft im Kunstbetrieb. Der Guardian begegnet in den Bildern Glyn Philpots gutaussehender Kultiviertheit. Und in Cannes sitzen die Filmkritiker Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Coupez" zum Auftakt pflichtschuldig, aber unterwältigt ab.

Sehnsucht nach dem analogen Glamour

17.05.2022. Heute eröffnen die Filmfestspiele von Cannes. Die taz ist gespannt, wie das Weltkino dem Krieg in der Ukraine entgegentreten wird. Die SZ sieht die Kinoliebe neu erwachen. In der FAZ erklärt F.C. Delius seinen Austritt aus dem PEN. Die NZZ feiert den Maler Brice Marden als Kontrolleur seiner Gefühle. taz und Nachtkritik erliegen in Lies Pauwels "Baroque"-Schauspiel der Sinnenfülle. Und ZeitOnline annonciert die Rückkehr der Botanisieriens in der Mode.

L'Eclat, c'est moi

16.05.2022. Nach der Schlacht von Gotha fegen die Feuilletons zusammen: Der PEN hat sich gründlich zerlegt, klagt die FAZ, die SZ sieht Narzissmus und Eitelkeit auf allen Seiten am Werk, die taz möchte die Bilder von Siebzigjährigen mit Trillerpfeifen aus dem Kopf bekommen. Inbrunst, aber mit Qualität bescheinigen SZ und Nachtkritik dem bayrischen Mega-Event der Oberammergauer Passionsfestspielen. taz und ZeitOnline feiern den ukrainischen Sieg beim ESC.

Boten eines besseren Morgen

14.05.2022. Finale einer Schlammschlacht: Deniz Yücel ist als PEN-Präsident zurückgetreten, er möchte nicht "Galionsfigur einer Bratwurstbude" sein. Die Feuilletons blicken auf einen Scherbenhaufen. Die FR kann nach einem Besuch in Mannheim kaum fassen, dass Hanna Nagel, die "Pionierin der feministischen Kunst", vergessen wurde. Menschen in der Kunstwelt üben Druck aus, damit Institutionen sich mehr in Richtung BDS orientieren, erfährt die Welt von israelischen Künstlern. Fasziniert dechiffrieren die Musikkritiker zu marodierenden Geigen das neue Album von Kendrick Lamar.

Öfter "Buh!" rufen

13.05.2022. In Geschichte der Gegenwart fragt der Historiker Philipp Sarasin, warum Bilder aus dem Krieg eigentlich nicht emotionalisieren dürfen. Die taz erzählt am Beispiel der Theaterregisseurin Maja Kleczewska, wie die polnische Regierung auch ohne Verbote missliebige Stimmen mundtot macht. Die SZ freut sich, dass man das Werk des mexikanischen Architekten Luis Barragán künftig im Vitra Design Museum betrachten kann. Die NZZ vertieft sich in eine nachgelassene Skizze zu Imre Kerteszs "Roman eines Schicksallosen".

Mit Drahtbürsten und Schneebesen

12.05.2022. Die FAZ bewundert in Ulm die Plakate Otl Aichers, die auf alle Herrschaftsfarben verzichten. Die SZ widmet zwei Seiten Uwe Tellkamp, dessen neuer Roman "Der Schlaf in den Uhren" heute erscheint. nachtkritik und taz lernen bei der Burning Issues Konferenz 2022, wie mühsam das Bohren dicker Theaterbretter ist, die den strukturellen Machtmissbrauch an deutschen Bühnen tragen. Die SZ warnt: Zu viel Kritik an Ruangrupa könnte die Documenta 15 ins Wasser fallen lassen. Die Welt rollt die Augen: Kritik an der BDS-freundlichen Haltung Ruangrupas ist kein Rassismus. Van berichtet von den letzten Wittener Tagen für Neue Kammermusik unter Harry Vogt. Ab jetzt werden sie weiblich, glaubt die FAZ.

Tendenz zum Tunnelblick

11.05.2022. Die SZ macht für den Publikumsschwund im Theater auch ein zunehmendes Dramaturgenstrebertum verantwortlich. Außerdem porträtiert sie das jüdisch-äthiopische HipHop-Trio Fo Sho aus Charkiw. Die Welt beklagt das dürftige Ergebnis nach zehn Jahren Internationaler Bauausstellung in Heidelberg. Im Perlentaucher porträtiert Angela Schader die nordirische Autorin Anna Burns. FAZ und taz freuen sich, dass Julian Radlmaier mit seinem "Blutsauger" dem linken Kino neues Leben einhaucht. Der Guardian schwebt mit Dreamachine im Orangenmarmeladenhimmel.

Legt eine Mine unter das Alter

10.05.2022. In einem Offenen Brief in der Berliner Zeitung antwortet das Kuratorenkollektiv der Documenta auf die Vorwürfe des Jüdischen Zentralrats. SZ und Nachtkritik halten am Münchner Residenztheater Knut Hamsuns "Kareno" gut aus, der seine antidemokratische Redlichkeit aufgibt. In der taz schildert Guillermo Arriaga den Zwiespalt, in dem Mexikos Indigene oft stecken. Die NZZ porträtiert den Pariser Plumassier Eric Donatien, der die vollkommene Metamorphose der Feder beherrscht.

Harte Poesie gegen harte Fakten

09.05.2022. Die Welt sieht im derzeigtigen Publikumsschwund auch eine ästhetische Krise des Theaters. Die Nachtkritik fährt mit dem Staatstheater Kassel zur wahren Bühne der Weltpolitik: der Panzerteststrecke für den Leopard 2. In der NZZ verteidigt der Slawist Jens Herlth die russische Literatur gegen ihre ukrainischen Verächter. In der SZ wünscht sich die Künstlerin Barbara Kruger von der Linken mehr Rhetorik und weniger Gewissen. Im Tagesspiegel würde der Musikmanager Karsten Witt gern den Klassikbetrieb umkrempeln.

Stilblüten des betreuten Lesens

07.05.2022. In der Welt besteht Viktor Jerofejew darauf, dass er kein Emigrant sei: "Es ist Russland, das in die Emigration gegangen ist." Die NZZ sucht die Arsenale des Widerstands in der Literatur. Monopol lässt sich von den Kuratorinnen der  8. Foto-Triennale in Hamburg den "black gaze" erklären. Die FAZ bewundert im neuen Berliner Samurai-Museum Museumspädagogik in Vollendung. Die taz berichtet von völlig verhärteten Fronten im Streit um PEN-Präsident Deniz Yücel.

Die Liebe wird für alle reichen

06.05.2022. Der Tagesspiegel lernt in einer Münchner Ausstellung, wie die "Stillen Rebellen" Polens kulturelle Identität prägten. Die FAZ fühlt in der Ausstellung "Beirut and the Golden Sixties" den politischen Pulsschlag des Libanon. Die SZ findet Haltung und Hoffnung in William Kentridges Oper "Sibyl", die die Ruhrfestspiele eröffnete. Die NZZ erzählt, wie in der Haas'schen Schriftgiesserei AG die Schrift des Fortschritts erfunden wurde. Die taz lauscht den sonischen Autobiografien der Klangkünstlerin Ain Bailey.

Stumm bleibt die Prophetin

05.05.2022. Die Filmkritiker schwärmen von den Traumbildern, Tilda Swinton und einem Ding aus dem B-Film-Kosmos in Apichatpong Weerasethakuls "Memoria". Die FR groovt sich beim Festival der jungen Talente im Frankfurter Kunstverein mit einem Pilz ein. Die nachtkritik beobachtet den großen William Kentridge bei den Vorbereitungen für seine Kammeroper "Sibyl". Die SZ bewundert neue Dorfarchitektur. Die FAZ hört die Poetikvorlesung von Judith Hermann.

Es geht immer ums Donnern

04.05.2022. Wie haben sich Theater und Kritik verändert, fragt Christine Wahl zum fünfzehnjährigen Jubiläum der Nachtkritik mit Gegenverkehr. Die FR spürt mit Barbara Kruger in der neuen Nationalgalerie den Stiefel im Gesicht unserer Zukunft. Der Observer schaudert vor der dunklen Zweideutigkeit, mit der Walter Sickert seine Serie "The Camden Town Murder" malte. Die taz huldigt dem Experimentalfilmer Jonas Mekas. Das Pop-Magazin Kaput erklärt die Grandiosität des italienischen Schlagers: Das Leichte ist in Italien quasi eine noble Pflicht.

Es herrscht Triebhaftigkeit

03.05.2022. Tagesspiegel und FR jauchzen vor Freude darüber, dass Franz Schrekers Oper "Der Schatzgräber" nach hundert Jahren wieder auf eine Berliner Bühne zurückkehrt. Und selbst die Berliner Zeitung findet es nicht mehr provinziell, vergessene Stücke auszugraben. Mit Beklommenheit sieht sich die taz in Dresden Theater aus Belarus an. Die NZZ ahnt auf der Biennale, dass der digitale Surrealismus unsere Zukunft sein wird. Die SZ bekommt mit der Nawalny-Film auf dem Müncher Dok.Fest Einblick in die Informationskriege.

Die intellektuelle Unfallgefahr

02.05.2022. In der FAZ erkennt Viktor Jerofejew im Draufgängertum der Fernfahrer ein Russland, das sich keiner Schuld bewusst ist. Dänemark ist entsetzt über die Zerstörung eines Kunstwerks, das ein Kunstwerk zerstörte, berichtet Politiken. Die Ruhrbarone lassen in der Diskussion um die BDS-Nähe der Documenta nicht nach. Die FR feiert Berlioz' Oper "Béatrice et Bénédict" als Wunderwerk. Die SZ offenbart ihre Liebe zum guten alten Gasteig. Ben Frosts Oper "Der Mordfall Halit Yozgat" jagt der Nachtkritik Kälteschauer über den Rücken.