Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juli 2022

Disparater Wechselbalg

30.07.2022. Zehn AutorInnen haben für Salzburg Schnitzlers "Reigen" umgeschrieben. Das Ergebnis? Debatte statt Sex. Nachtkritik, SZ und FAZ sind mäßig beeindruckt. Die FAS besucht die Manifesta in Prishtina. Der Filmdienst begutachtet in der Berliner Ausstellung "No Master Territories" die Geschichte des feministischen Kinos der Siebziger- und Achtzigerjahre. Der Standard fängt sich ein aufgegamseltes Schleckerbussi von Beyonce ein.

Hyper, hyper. Pop eben

29.07.2022. Es wird schon wieder über antisemitische Kunst auf der Documenta gestritten. Die FAZ kann das Ausmaß an Inkompetenz der Leitung nicht fassen. Die Welt macht das neofeudale Selbstbild der Unkündbaren des Betriebs dafür verantwortlich. Javier Bardem erklärt im Interview mit epd-Film, warum ein Nilpferd ihn für seine Rolle als Drogenbaron Escobar inspiriert hat. Die SZ feiert die Architektur Günter Behnischs. Der Standard hat die Zukunft des Pop gesehen, und sie heißt Moonchild Sanelly.

Lichtes Gambenquartett der Zuversicht

28.07.2022. Die Zeit bestaunt den evident toten Jesus des frisch restaurierten Isenheimer Altars. Die SZ bewundert den Respekt vor den Älteren in der senegalesischen Street Art. Die Eröffnung der Salzburg Festspiele mit Béla Bartóks Einakter "Herzog Blaubarts Burg" und Carl Orffs Opernoratorium "De temporum fine comoedia" lässt den Tagesspiegel schaudern: Esoterischer Kitsch lautet das Urteil über Romeo Castelluccis Inszenierung. Die SZ ist ergriffen. Die FAZ erlebt beim Konzert von Iron Maiden ein klanginduziertes Woanderssein.

Wie Yoga in der Reha

27.07.2022. Mit "Tristan und Isolde" wurden die Bayreuther Festspiele eröffnet. Der große Liebesrausch blieb in Roland Schwabs Inszenierung aus, aber die Musik von Markus Poschner ließ NZZ und FAZ staunen: Wagner geht auch zart und intim. taz und FAS bewundern, wie der Filmemacher C. B. Yi mit seinem Film über die Prostitution junger Männer die Zerrisenheit der chinesischen Gesellschaft einfängt. Die SZ sucht die Literatur auf TikTok und findet Romanzen mit Spice. Der Standard diskutiert, wieviel Konformismus und Pose ein Popfestival verträgt.

Den Reizpunkt getroffen

26.07.2022. Die israelische Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai wagt sich für die FAZ nach Oberammergau. Die NZZ hält der Documenta immerhin zugute, alle gegen sich aufgebracht zu haben. Der DlfKultur feiert mit Mode aus Afrika ein fest der Farben, Stoffe und Schnitte. The Critic bricht eine Lanze für den traurigen weißen Mann als Helden der Literaturgeschichte. Der Tagesspiegel blickt mit Ergun Çagatays zärtlich auf die 36 Boys. In der taz überlegt der Ska-Musiker Vadim Krasnookiy, wie er den Ukrainern Unterhaltung und ein gutes Gewissen geben kann.

Ein hübscherer Heiland

25.07.2022. Meron Mendel ruft in der SZ Maxim Biller entgegen: Auch Linke können echte Juden sein. Ebenfalls in der SZ erklärt der neue Documenta Geschäftsführer Alexander Farenholtz, wie er künftig Ruangrupa beraten wird. Die FR verfängt sich im Gropiusbau lustvoll schaudernd in den Tüll-Gespinsten von Louise Bourgeois. Die taz lernt von Schorsch Kamerun am Münchner Residenztheater nachhaltige Gemeinsamkeit. Die FAZ bewundert das Regenschirmhaus von Kazuo Shinohara in Weil am Rhein. 

Dieset Jefühl von Verrat

23.07.2022. "Für Russland sind die gefährlichsten Menschen in der Ukraine momentan die Kulturleute", sagt die ukrainische Kunstwissenschaftlerin Yulia Berdiiarova in der taz und berichtet, wie die Russen versuchen, die Geschichtsschreibung zu verändern. Wir möchten nicht zensiert werden, fordern die Documenta-Künstler in einem anonymen Brief an Alexander Farenholtz. Thomas Brussig verlässt den S. Fischer Verlag und fordert die Rechterückgabe seiner Romane, FAZ und FR haben bei den Beteiligten nachgefragt. Von MeToo-Vorfällen in Bayreuth berichtet der Nordbayerische Kurier: Auch Katharina Wagner ist betroffen.

Vom Papiergebirge heruntertrippeln

22.07.2022. Vorbildlich findet die taz, wie sich das Tropenmuseum in Amsterdam dem kolonialen Erbe der Niederlande stellt und ganz nebenbei fragt: Reproduziert die Sprache der Diversität nicht auch rassistische Kategorisierungen? Hyperallergic wird im New Yorker New Museum unbehaglich zumute, wenn Robert Colescott dem weißen Amerika zeigt: Rassismus ist überall. Bei aller Filigranität von Andreas Homokis "Madame Butterfly"-Inszenierung in Bregenz vermissen die Theaterkritiker doch Feingefühl. Der Filmfilter erkennt in Alex Garland den Philosophen der Science-Fiction. Und in der SZ erinnert sich Stefanie Sargnagel an ihre schlimmsten Lesungen vor linksradikalem Publikum.

Gelegentlich große Kunst für ein großes Publikum

21.07.2022. Bei e-flux.com solidarisiert sich das brasilianisch-jüdische Kollektiv "Casa do Povo" mit Ruangrupa und beklagt eine "äußerst beunruhigende Umkehrung antisemitischer Gewalt". Die FAZ verteidigt die SZ gegen Emily Dische-Becker und ihre Fürsprecher. Ein abgefahrenes Spektakel der anderen Art erleben die Filmkritiker indes mit Alex Garlands antipatriarchalem Horrorfilm "Men", in dem Männer gebären. In Kiyoshi Kurosawas Mediensatire "To the Ends of the Earth" bestaunen sie, wie japanische Popkultur auf die Spuren der Sowjetunion trifft. Der Tagesspiegel erhält von Andreas Taubert seltene Einblicke in das Leben in Nordkorea. Außerdem verabschieden die Feuilletons Dieter Wedel, der sich für irgendwie schon göttlich hielt.

Vögel spotten auf Psychoanalytisch

20.07.2022. Reine Willkür sieht der Tagesspiegel in den Haftsrafen, die das iranische Regime die beiden Filmregisseure Jafar Panahi und Mohamad Rasoulof jetzt antreten lässt. Die FR blickt im Städel der Malerin Ottilie Roedenstein ins entschlossene Gesicht. Die NZZ stellt den Verleger Tony Lyons vor, der sich gewinnträchtig auf gecancelte Bücher spezialisiert hat. Death Metal muss nicht männlich sein, erklärt die Castrator-Schlagzeugerin Carola Perez in der Jungle World.  Das Zeitmagazin rät, der Hitze aufrecht im Dreiteiler gegenüberzutreten.

Einfach alles und alles zugleich

19.07.2022. Die Nachtkritik schildert, wie Putins Kulturfunktionäre dem russischen Theater den Freigeist ausgetrieben haben. Hans Eichel findet in der FR, eigentlich müsste sich Deutschland bei Indonesien entschuldigen. Die NY Times schreibt zum Tod von Claes Oldenburg, der die öffentliche Skulpturen von Stieren und nackten Frauen befreite. Die FAZ schlendert mit Georges Perec durch das Paris der Siebziger. Die NZZ kaut in der Bayerischen Staatsoper an Knäckebrot. Die Welt pilgert nach Düsseldorf, wo Lady Gaga ihre Tournee mit einem Mix aus Bauhaus und Metropolis begann.

Ähnliches bis Immergleiches

18.07.2022. Nach langem Gezerre ist Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann zurückgetreten, für Erleichterung sorgt sie damit nur bedingt: Ob und wie der Schaden, der ihr Missmanagement angerichtet, noch reparabel sei, fragen Tagesspiegel, SZ und Berliner Zeitung. Die FAZ erhebt schwere Vorwürfe gegen Documenta-Beraterin Emily Dische-Becker, die diese prompt pariert. In der spricht Nachtkritik Sasha Marianna Salzmann über die Traumata der UkrainerInnen. Critic.de pilgert zum Festival Il Cinema Ritrovato nach Bologna und erlebt in Mikko Niskanens Film "Eight Deadly Shots" eine Erleuchtung. Die Welt erliegt dem existenziellen Grübeldrive von Neil Young.

Die Metzel-Maschinerie

16.07.2022. Die FAZ fragt, ob der Kunstbetrieb wirklich antisemitisch ist oder nur opportunistisch. Ebenfalls in der FAZ flucht die libanesische Schriftstellerin Alawiya Sobh über die Misogynie in den arabischen Ländern. Die NZZ würde auch gern mal Kunst von Frauen wiederentdeckt sehen, die nicht laut und herrisch auftraten. Die Nachtkritik verzichtet bei den Wormser Nibelungen-Festspielen nur zu gern auf einen weiteren Bitch-Fight. Der Filmdienst spürt der melancholisch zögerlichen Lust am Dasein nach, die ihr die Filme von Claude Sautet bescherten.

Eine Art Einhorn aus fernen Wäldern

15.07.2022. Die tägliche Dosis Documenta: Claudia Roth reagiert "befremdet" auf Sabine Schormanns Statement und hält sie für nicht mehr tragbar, meldet der Tagesspiegel. Die SZ sieht in einem geleakten Video, wie die Guides geschult wurden, um Antisemitismusvorwürfe beiseitezuräumen. Und die Welt fragt: Wieso schweigt der Kunstbetrieb? Die Filmkritiker erkennen in Zhang Yimous Komödie "Eine Sekunde" trotz Zensur die Schatten der Kulturrevolution. Und die taz hört das "Abgefuckte der Welt" aus jeder Pore dringen im neuen Album von Shed.

Eine ganze Giraffe

14.07.2022. Meron Mendel wirft Sabine Schormann im Tagesspiegel vor, Lügen zu verbreiten, die SZ ärgert sich über die "Wagenburgmentalität" in Kassel und fordert: Schließt die documenta endlich! Außerdem fragt sie: Wo ist Schormann eigentlich? Während in München das Festival Cinema Iran beginnt, wo Abed Abest mit "Killing the Eunuch Khan" die Mullahs das Fürchten lehrt, wie Artechock schreibt, verhaftet der Iran drei seiner prominentesten Filmemacher. In der Zeit ruft Navid Kermani die Bundesregierung zum Protest auf. Welt und Tagesspiegel gewinnen in Avignon den Glauben ans Theater zurück.

Schade, dass du weg bist

13.07.2022. Der Guardian entdeckt die Abstraktion in Milton Averys poetischen Landschaften. In der FAZ verabschiedet sich der Schriftsteller Wolfgang Hedewald vom deutschen PEN und dessen friedenspolitischer Ideologie. Die FR plädiert für regional unterschiedliche Bauweisen und gegen global optimierte Klimatechnik. FAZ und Welt erliegen dem Belcanto, den Tobias Kratzer mit Rossini in Aix-en-Provence aufblühen lässt.  Die taz wiegt sich zu den ultramelancholischen Chansons von Brezel Göring.

Zerfallen wie eine Hochzeitstorte

12.07.2022. Die Diskussion um die Documenta schaukelt sich weiter hoch. Der Tagesspiegel nimmt die Mitglieder der Findungskommission ins Visier. Die Berliner Zeitung würde dagegen die Kunstschau gern aus der Kampfzone identitätspolitischer Ideologien retten. Nicht die Pandemie hält die Zuschauer von den Bühnen fern, glaubt die SZ, sondern ein Theater, das niemand sehen will. Die SZ bewundert auch die Schönheit der Vicky Krieps. Die taz erliegt auf dem Montreux-Festival dem Dancefloor-Sound der Londoner Saxofonistin Nubya Garcia.

Alte Freunde des Intendanten

11.07.2022. Die SZ sieht im neuen Trend zum Leitungskollektiv nicht mehr als eine anarchische Geste, die feudale Machtstrukturen eher kaschiert als korrigiert. Die FR entdeckt im Maastrichter Bonnefantenmuseum mit Melati Suryodarmo fantastische Kunst aus Indonesien. In der Welt betont Monika Maron: Ich bin Gegner, kein Opfer. In der FAZ wünschte sich der Musikjournalist Rolf Witteler auch für die deutschen Radios eine Quote für frankophone Musik.

Ich bin ein bisschen sauer

09.07.2022. Meron Mendel hat die Nase voll von Sabine Schormanns Hinhaltetaktik und wirft hin, wie er im Spiegel erklärt. Den Machern wirft er in der SZ außerdem "neokoloniales" Verhalten gegenüber Ruangrupa vor. Die FAZ gönnt sich lieber Glückssekunden mit Sascha Wiederhold in der Neuen Nationalgalerie. Die SZ blickt in die Zukunft der Mode mit den genderlosen Menschenskulpturen von Balenciaga. Die nachtkritik zieht eine nüchterne Pollesch-Bilanz an der Volksbühne: Castorf war rauflustiger, seufzt sie. Und alle trauern um Klaus Lemke und James Caan.

Ja, es ist ein Tatort

08.07.2022. Die FAZ fordert, dem "würdelosen Verantwortungsverschiebekarussell" auf der documenta ein Ende zu setzen: mit dem Rücktritt Sabine Schormanns. In der NZZ erklärt Rainer Moritz, weshalb er Uwe Tellkamp trotzdem nach Hamburg einlädt. Die SZ ist hingerissen, wenn Romeo Castellucci in Aix-en-Provence Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie" als Kriegsszenario mit zwitschernden Vögeln inszeniert, die Welt ist genervt. Und die Filmkritiker trauern um Klaus Lemke, den verspielten Rebellen, der die Sprache der Straße sprach.

Wie ein Korsett auf die Eingeweide drückt

07.07.2022. Gestern tagte der Ausschuss für Kultur und Medien über die documenta, Schormann und Geselle fehlten, dafür brachen Ruangrupa ihr Schweigen: "Es gibt keinen stillen Boykott gegen Israel." "Unser Thema ist Klasse, nicht Rasse", sagen indes Taring Padi im Zeit-Gespräch. Gehört Israel überhaupt zum "globalen Norden", fragt der Politikwissenschaftler Johannes Becke in der FAZ. Die Filmkritiker entdecken dank Marie Kreutzer unter dem Monarchenkitsch von "Sisi" eine kompromisslos-autonome Frau. Noch ein Kollektiv: Auf Yvonne Büdenhölzer als Leiterin des Berliner Theatertreffens folgen vier Frauen, melden die Zeitungen.

Energien, die aufeinandertreffen

06.07.2022. In der Berliner Zeitung weist der Historiker Michael Rothberg darauf hin, dass Taring Padis Agitprop-Bild "People's Justice" nicht nur antisemitisch ist, sondern auch rassistisch. In der taz macht der Schriftsteller Leander Steinkopf ein paar Vorschläge für den Deutschunterricht. Die SZ wünscht sich den Wagemut und Aufbruchsgeist von München 1972 in die Architektur zurück. In der taz konstatiert Schauspielerin Julischka Eichel ein erschüttertes Grundvertrauen im Theater. Jochen Distelmeyer macht jetzt Erwachsenenpop, stellt der Standard fest.

In einen finsteren Kanal hinein

05.07.2022. Der Standard kann auf der Gmunden Photo nachverfolgen, wie die russische Aggression seit 2014 das zivile Leben der Ukraine zerstört. Die taz meldet, dass Kirill Serebrennikows Gogol-Center jetzt  wieder Gogol-Theater heißt und auf Linie gebracht wurde. Die SZ rechnet vor, was eine Mindestgage für Solobeschäftigte für die Theater bedeutet. Die NZZ besucht das neue Oscar-Museum in Los Angeles. Außerdem huldigt die taz den Ikonen der Tropicália, Gilberto Gil und Gal Costa.

Ein Mann geht durch den Raum

04.07.2022. Peter Brook ist tot. FAZ, NZZ und Tagesspiegel trauern um den großen Theatermagier, den König des Welttheaters und das Genie der Einfachheit. Die SZ kniet nieder vor René Pollesch und Sophie Rois, allerdings im Deutschen Tehater, nicht in der Volksbühne. In der NZZ erklärt David Chipperfield, wie er reiche Leute dazu bringen will, die Anwesenheit von Armen zu ertragen. Die NZZ erkennt zudem das Erbe El Grecos bei Pablo Picasso. Im Standard erzählt Vicky Krieps, wie ihr das Korsett bei den Dreharbeiten zu Marie Kreutzers Sisi-Film "Corsage" die Gefühle abschnürte.

Der Reiz von Oberflächen

02.07.2022. Der Weg zum Massaker von Butscha führt nicht über die russische Literatur, sondern über Publikationsverbote von Dostojewski und Bulgakow, ruft in der FAZ Michail Schischkin all jenen zu, die keine russische Literatur mehr sehen wollen. Die taz bewundert die Stoffbilder von Nadira Husain. 54books bewundert Tom Cruises Fokus auf versimilitude. Pitchfork erliegt den ekstatischen Qualitäten des Elektronik-Duos Two Shell.

Eigentlich alles in Butter

01.07.2022. Am Mittwoch hatte Kassel zur Diskussion über Antisemitismus in der Kunst geladen - "Schlimmer könnte es kaum laufen", resümiert die SZ, die ihr halbes Feuilleton heute der Aufarbeitung des Skandals widmet. "Wer den 'globalen Süden' bestellt, muss ihn auch als das akzeptieren, als was er sich tagtäglich, jahraus, jahrein beweist, unter anderem als antisemitisch", schreibt Bazon Brock an Sabine Schormann. Ebenfalls in der SZ erzählt Jacques Herzog, weshalb es leichter ist, Großprojekte in undemokratischen Ländern durchzubekommen. Die Berliner Zeitung wünscht dem deutschen Film mehr Wagemut.