Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2022

Subversives, Eigensinniges und Abgründiges

30.04.2022. "Ab jetzt sind wir diejenigen, die zu schwach waren, das Geschehene zu verhindern", stellt die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk im Standard fest. Die Zeit überlässt Rammstein achselzuckend der Musealisierung. Ohne "toxisches Sponsoring" würden nicht nur die Salzburger Festspiele bald ziemlich arm dastehen, bemerkt die Welt. FAZ und NZZ lassen sich von Brian Watkins' Sci-Fi-Western "Outer Range" fasziniert verunsichern. Und SZ und Tagesspiegel flanieren beim Berliner Gallery Weekend vorbei an Dürer, Drogenstrich und senegalesischer Kunst.

Bis auf Hüfthöhe

29.04.2022. Die taz untersucht den Einfluss russischer Oligarchen auf den österreichischen Klassikbetrieb. Die NZZ unterhält sich mit dem ukrainischen Autor Sergei Gerasimow über die Angst, im Krieg jemanden anzurufen, der vielleicht nie mehr antwortet. Wenn man in Cannes Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Z" in "Coupez" umbenennen will, muss dann Zorro künftig Sorro heißen, fragt die Welt entnervt. Die FAZ entdeckt im Städel Museum das Figürliche in der amerikanischen Nachkriegskunst.

Steinzeitalte Missverständnisse

28.04.2022. Die Filmkritiker feiern Gaspard Noés "Vortex" als umwerfende Meditation über Alter und Sterben eines greisen Pariser Ehepaars. Die FAZ freut sich über die Wiederentdeckung der Künstlerin Hanna Nagel in Mannheim. Die NZZ staunt über die jugendlichen Gastkritiker im Literarischen Quartett, die alles lieferten, nur keinen literaturkritischen Quark. Und sie trauert um Krautrocker Klaus Schulze.

Koketterie mit belasteten Zeichen

27.04.2022. Tagesspiegel und ZeitOnline nehmen David Simons neue Baltimore-Serie "Mini-Serie "We Own This City" so begeistert wie deprimiert auf: Was in "The Wire" schon schlimm war, ist jetzt noch schlimmer. Die SZ reißt sich im Prado die Maske vom Gesicht und atmet tief durch vor Bruegels Allegorie des Geruchssinns. In der FAZ beobachtet Thomas Oberender, wie jetzt auch in der Theaterwelt NFT-Glaubensgemeinschaften ihre Messen abhalten. Der Standard lauscht mit Rammstein dem Wind im Wald.

Vor allem schönes Wortgeklingel

26.04.2022. Ein bisschen öde findet die SZ, dass die Goldenen Löwen der Biennale wieder vor allem an die imperialistischen Nationen gingen. Die NZZ berichtet, wie die polnische PiS-Regierung gegen modernes Theater in Krakau Sturm läuft. Die FR wünscht sich einen modernen Regionalismus im Bauen. Die Welt kann sich nicht vorstellen, wie der Klassikbetrieb klimaschonender werden könnte. Der Tages-Anzeiger ahnt angesichts schwindender Streaming-Abos, dass es bald Werbung auf Netflix geben könnte.

Diese Art von Aprillicht

25.04.2022. SZ und Nachtkritik lernen am Zürcher Schauspielhaus die neuen Schweizer Freiheitshelden wider Willen kennen. Außerdem fragt die SZ, warum sich die Salzburger Festspiele von einer aserbaidschanischen Firma sponsorn lassen. Die taz lernt von James Bridle, wie man Sonnenenergie in Zitronen speichert. Der Tagesspiegel begegnet in Serpil Turhans Porträtfilm "Köy" drei kurdischen Frauen aus Berlin.

Faible fürs Okkulte

23.04.2022. Die Kunstkritiker streifen verwirrt über die Biennale in Venedig: Ist diese große Surrealismusschau Realitätsverweigerung, alternative Wissensweisen oder ein Sieg der Poesie über den Rationalismus? In der SZ berichtet Bernard Henri-Lévy von seiner Reise quer durchs ukrainische Kriegsgebiet. Nie war das Kino humorloser als heute, klagt Artechock. Warum Lehm auch in Deutschland ein hervorragender Baustoff wäre, erklärt im Interview mit der FAZ die Architektin Anna Heringer.

Mit heißkaltem Kopf

22.04.2022. Wunderbare surrealistische Kunst finden die Kritiker auf der Biennale in Venedig. Und dass über 90 Prozent der Teilnehmer Frauen sind, stört überhaupt nicht. In der NZZ verzweifelt der ukrainische Autor Sergei Gerasimow über seine russischen Verwandten, die der Ukraine eine Lektion erteilen und sie zugleich vor ukrainischen Nazis retten wollen. Die Welt lernt aus der Hulu-Serie "The Dropout" über Elizabeth Holmes und ihr Blutanalyse-Startup Theranos, wie Feminismus auch dem Betrug dienen kann. Die FAZ erkundet mit Jan Schmidt-Garres Film "Fuoco Sacro" das Geheimnis des expressiven Singens. Die SZ hört Hardcore-Punk der Achtziger.

Mentales Outfit des Cis-Mannes

21.04.2022. Die NZZ rümpft die Nase über die gestählten Paleo-Muskelmänner in Robert Eggers' Wikingerfilm "The Northman". Die SZ freut sich, dass am Ende ein paar Frauen den männlichen Nihilismus untergraben. Die Zeit staunt, wie unkritisch die Biennale von Venedig mit ihrem Traum von der Verschmelzung des Menschen mit Natur und Maschine den Interessen der Macht zuarbeitet. Die FAZ besucht den Kulturpalast in Bitterfeld, der renoviert werden soll. Im Van Magazin erzählt der Pianist Alexei Lubimow von einem Konzert in Moskau, das die Polizei unterbrach, weil er einen ukrainischen Komponisten spielte.

Caesar, Nero, Wagner

20.04.2022. Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch ist tot. Die Kunstkritik huldigt noch einmal diesem bösen Kind der Avantgarde und seiner Wut aufs Devote. In der SZ spricht die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková über die Notwendigkeit, Unrecht und Schuld klar zu benennen. In der NZZ erkennt Bora Cosic die tief verwurzelte Unschlüssigkeit, die der Sozialismus mit sich brachte. In der Berliner Zeitung will Regisseur Milo Rau den Glauben an die Menschen in Russland nicht aufgeben. Im Tagesspiegel spricht Ivan Stetsky über die Deutschland-Tournee des Kyiv Symphony Orchestra.

Versiegelt unter einer Glanzschicht

19.04.2022. Die SZ geht in die Knie vor der Unerschrockenheit und Vitalität des Wundertenors Andreas Schager. Der Standard recherchiert weiter zu Putins Netzwerk in Salzburg. Der Guardian huldigt mit Dominique Gonzalez-Foerster Genies, Visionären und anderen Fremdlingen. ZeitOnline hat kein Interesse mehr an Literatur von Männern über Männer. Die Filmkritiker bewundern mit Philipp Fussenegger die tanzenden Muskelmassen der Bodybuilderin Tischa Thomas. Und der Guardian trauert um den radikalen Neutöner Harrison Birtwistle.

Sie dekonstruiert nicht, sie zerfleddert

16.04.2022. "Russland produziert Idioten, die aus Spaß töten", donnert der Künstler Pavlo Markov, der die Ukraine auf der Biennale in Venedig vertritt, in der Welt. Die Theaterkritiker erleben ein schwitzendes, spuckendes, aber auch langatmiges Feuerwerk, wenn Frank Castorf Europas Kriege auf Dresdens Bühne bringt. Über pralles Programm in Cannes freuen sich die Kritiker - nur dass Sergei Loznitsa außer Konkurrenz läuft, findet der Tagesspiegel etwas feige. Und in der taz ärgert sich Verleger Klaus Bittermann über "Gesinnung von der Stange".

Traum von einem Bombenabwurf

14.04.2022. Die FAZ fordert die Documenta auf, endlich, wie versprochen, ihre Haltung zum BDS zu diskutieren - und zwar auch mit Kritikern des BDS. In der NZZ berichtet der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow von der Bombardierung des Charkiwer Stadtteils, in dem seine Eltern wohnen. Wie bösartig Kinder sein können, lernen die Filmkritiker in Eskil Vogts Horrorfilm "The Innocents". Die FR staunt über die Bilder des mit 25 Jahren ermordeten Malers und Einbrechers Stéphane Mandelbaum. Und VAN fragt: Was macht Valery Gergiev jetzt mit seinen 100 Millionen?

Scheißgrillabend

13.04.2022. Im Standard erklärt der Intendant des Wiener Konzerthauses, Matthias Naske, was ihn zu den russischen Geldtöpfen zog. In der SZ legt Alexander Kluge nahe, dass Anna Netrebko und Valery Gergiev in Moskau einen pazifistischen Gegenalgorithmus in Gang setzen könnten. Außerdem erkundet der Standard die Kunstszene von Prishtina, bevor dort im Sommer die Manifesta ihre Zelte aufschlägt. Die Zeit lernt von der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya im Haus der Kunst, den Wolken zuzuhören. Und alle trauern um den Schauspieler Michael Degen, der wie ein edler Tropfen jedes Menü verfeinerte.

Die Furien des echten Hip-Hop

12.04.2022. Doch, auch Puschkin ist ein Problem, ruft in der Wiener Zeitung Bob Muilwijk, etwa wenn er dazu aufrief, die Polen zu zermalmen. Im Tagesspiegel  erklärt Dirk Rehm vom Reprodukt Verlag, warum die Papierpreise so in die Höhe geschnellt sind. Die taz kriecht in einer Ozeanien-Ausstellung im Linden-Museum der mächtigen Göttin der Dunkelheit lieber nicht in den Schoß. Crescendo stellt fest, dass sich der Klassikbetrieb nach Putin keine Naivität mehr leisten kann und fordert mehr Investigation vom Feuilleton. Dezeen blickt auf den dünnsten Wolkenkratzer der Welt.

Das Ausmaß dessen, was passiert ist

11.04.2022. In der NZZ beschreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow, wie die russische Truppen zerstören, ohne zu kämpfen. Regisseur Kirill Serebrennikow prophezeit den Russen ein grauenvolles Erwachen aus ihrer Verblendung. SZ und FAZ fragen nach Jossi Wielers Salzburger "Lohengrin"-Inszenierung bang, ob Elsa von Brabant vielleicht doch ihren Bruder ermordet hat. Die NZZ und taz huldigen dem knackigen Indierock der britischen Wet Leg. Außerdem trauern die Feuilletons um den Schauspieler Uwe Bohm, dessen Energien so ungebändigt und unverbildet erschien. 

Ahnung des Unerhörten

09.04.2022. Bombastisch gut findet Artechock die Eröffnungsrede des Direktorenduos der Wiener Diagonale, die aller "Message-Kunst" und Boykottaufrufen eine Absage erteilte. Die nachtkritik amüsiert sich mit Kathrin Rögglas Klimasatire "Wasser". Die FAZ besucht das  Theater der Bergarbeiter in Senftenberg. Die SZ unterhält sich mit Karl Ove Knausgård über dessen neuen Roman "Der Morgenstern". Zeit online lauscht der poetisierten Realität von Kae Tempest. Die taz reist zu einer Ausstellung belarusischer Künstler ins polnische Białystok.

Die Sehnsucht, schön zu sein

08.04.2022. Die NZZ ist fassungslos, wie der österreichische Autor Franzobel im Ukrainekrieg alles relativiert: Täter und Opfer. Ursache und Wirkung. Der litauische Filmregisseur Mantas Kvedaravičius kam in Mariupol nicht zufällig ums Leben, sondern wurde gezielt ermordet, lernt die FAZ. Pink Floyd fordert die Ukrainer auf: "Hey, Hey, Rise Up". SZ und FAZ gehen in einer Ausstellung dem Antisemitismus Wagners auf den Grund, nur das Rätsel seiner Musik wird ihnen nicht enthüllt. Die Theaterkritiker blicken durch ein großes Fenster zur Welt beim Find-Festival der Schaubühne.

Das Lauern einer mörderischen Macht

07.04.2022. Teile des deutschen PEN-Zentrums möchten ihren Vorsitzenden Deniz Yücel als "Marionette der Springer-Presse" aus dem Amt jagen, so die SZ. Die FAZ fragt angesichts der Sparvorgaben für die Frankfurter Bühnen, ob die linke Mehrheit im Römer die Hochkultur opfern will? Die Filmkritiker erleben ein kleines Wunder mit dem Liebesdrama "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" von Alexandre Koberidze. Die Welt ergründet das "mehrfach verkorkste Russenvolk" in York Höllers Bulgakow-Oper "Der Meister und Margarita" in Köln. Im Van Magazin vergleicht der Musikwissenschaftler Friedrich Geiger Valery Gergiev mit Wilhelm Furtwängler.

Einige dieser Heiligen sind noch unter uns

06.04.2022. So überzeugend gegenwärtig war die amerikanische Gegenwartskunst lange nicht mehr, freut sich die NYTimes auf der Whitney Biennale. Der Guardian glaubt in Raffaels Gemälden die Sphärenklänge sichtbar gemacht. Die Berliner Zeitung genießt die Erfahrungsdichte des Find-Festivals an der Schaubühne. Als krachendes Politspektakel goutiert die NZZ Ai Weiweis "Turandot"-Inszenierung in Rom. Nachdrücklich empfiehlt die FAZ Sergei Loznitsas wieder in die Kinos gebrachten Film "Donbass". Und die Welt greift zu den Gedichten Konstantin Paustowskis.

Die Leute werden jetzt ein bisschen verrückt

05.04.2022. Im Tagesspiegel erklärt der ukrainische Autor Yuriy Gurzhy, dass wir von nun an Russland klein schreiben sollten: "Am Massaker von Butscha ist russland schuld." Die FAS stellt den neuen feministischen Horror aus Lateinamerika vor. Erleichtert quittiert die SZ die Meldung, dass Igor Zelensky nun doch sein Amt als Direktor des Bayerischen Staatsballetts niederlegt. In der taz erklärt die kubanische Künstlerin Eileen Almarales Noy, warum sie sich nicht dem Boykott gegen die Bienal de la Habana anschließt. FR und FAZ schmelzen dahin unter dem Wohlklang von Jonathan Tetelman und Nadja Stefanoff in Giordanos "Fedora". Und: der Mariupol-Film von Mantas Kvedaravičius ist bei Youtube zu sehen.

Welt der technoiden Sehnsucht

04.04.2022. Der  litauische Filmemacher Mantas Kvedaravicius ist beim Versuch, aus Mariupol zu fliehen, ums Leben gekommen, meldet unter anderem der Dlf. Fassungslos berichtet die FAZ, dass Maltas Nationaltheater beinahe ein Stück gezeigt hätte, dass die ermordete Journalistin Daphne Caruana Galizia als hasserfüllte Hexe denunziert. Die SZ fragt mit Jan-Christoph Gockel und Alexander Kluge an den Münchner Kammerspielen, ob man verändern kann, was man liebt. Im Freitag beschört Jacques Audiard die erotische Kraft der Sprache. Die NZZ registriert den neuen Trend zum Vorrevolutionären in der Luxusmode.

Jäh zerstörte Normalität

02.04.2022. Im Guardian und im Standard warnen Met-Intendant Peter Gelb und Regisseur Romeo Castellucci vor dem Boykott russischer KünstlerInnen: Ihnen drohe der Kulturtod. Der Tagesspiegel staunt beim Berliner Festival Internationale Dramatik über die Absurdität, mit der Tina Satter das Verhör der Whistleblowerin Reality Winner inszeniert. Die SZ erlebt in der Kiewer Clubszene eine ganz neue Solidarität der Ukrainer untereinander. Für die Solidarität, die der türkische Schriftsteller Yavuz Ekinc mit den Kurden zeigte, ist er indes zu einer Haftsprache verurteilt worden, berichtet die FAZ.

Diese Feindlichkeit tut weh

01.04.2022. Die Welt begibt sich in Hamburg auf die braunen Spuren im Farbbad von Ernst Wilhelm Nay, der Besatzer und Frankreichfan zugleich war. Die Neue Musikzeitung erinnert daran, dass Deutschland nach dem Überfall auf die Sowjetunion schon einmal russische Komponisten aus dem Programm nahm. Die Oper in Nowosibirsk hat indes Anna Netrebko ausgeladen und setzt künftig lieber auf Künstler mit "klarer staatsbürgerlicher Haltung", meldet der Standard. Und das VAN-Magazin erkennt die Nähe zwischen der Musik des Barock und Techno.