Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Januar 2021

Geldspeicher der Emotionen

30.01.2021. Großes Entsetzen im Literaturbetrieb: Die Leipziger Buchmesse wird auch dieses Jahr nur digital stattfinden. Was wird jetzt aus den Debüts und ausländischen Titeln, seufzt die FR. Die NZZ stapft mit schneebedeckten Papierschirmen durch die Winterlandschaften der Kunstgeschichte. FAZ und Tagesspiegel schauen Gregor Schneider in Darmstadt beim Sterben zu. Die nachtkritik hat genug von Theater vorm Bildschirm und zieht eine Performance am Telefon mit dem New Yorker Theaterduo 600 Highwaymen vor. Und der Spiegel gibt sich dem "tiefenentspannten Fatalismus" von Dagobert hin.

Falsch herum abgelesen

29.01.2021. Im Tagesspiegel fordert die Konzeptkünstlerin Adrian Piper bessere Bildungschance für alle: mit höchstens fünfzehn Schülern pro Lehrer. Die taz stellt die georgische Regisseurin Dea Kulumbegashvili vor. Die Zeit sieht in Kulumbegashvilis Kamera gar das Auge der Schuld. Die NZZ betrachtet den Premierenstau der Bühnen. Die SZ erzählt, wie die belarussische Literaturszene drangsaliert wird. Und hört confessional pop von Arlo Parks.

Chateau de Tarot

28.01.2021. Die SZ feiert eine überwältigende Elsa Dreisig als Massenets "Manon Lescaut" - Aussteigerin und Luxussüchtige zugleich - und eine unvergleichliche Sophia Loren. Das Van Magazin wüsste gern, mit wem genau eigentlich Putinverehrer Valery Gergiev und die Stadt München einen Dialog führen. Die Welt fragt besorgt: Ist die Erotik im Film tot? Und die Haute Couture zeigt die schönsten Bodybuilderinnen, Törtchen und Tarot-Karten.

Ein scharfes Ohr für alle Niedertracht

27.01.2021. Die drohende Demontage der Literaturkritik beim WDR schlägt weiter Wellen. Eine Petition fragt, ob der Sender sein Publikum nicht ein bisschen unterschätzt. Die taz lässt sich von der Theaterkompanie toit végetal verzaubern, die Schmetterlinge zum Tanzen bringt. Die SZ erkennt, dass der Kunstmarkt nur so stark sein kann wie die Gesellschaft, die ihn trägt. Die NZZ hört mit angehaltenem Atem die B-Seite der Anthology of American Folk Music.

Sie waren nicht mal Exzentriker

26.01.2021. Entgeistert fragt die SZ, warum der WDR der Literaturkritik den Sauerstoff abdreht. Der New Yorker feiert Josef Albers und Giorgio Morandi als Brüder im Geiste der individuellen Beharrlichkeit. In der NZZ erklärt Umweltpionier James Wines, dass nur eine kunstvolle Öko-Architektur auch wirklich nachhaltig ist. Die FAZ erlebte auf dem Ultraschall-Festival gurrende Klarinetten und Stimmen, die ein Pfauenrad schlagen. Dem Tagesspiegel offenbaren sich die Kräfteverhältnisse des Filmbranche.

Die Diversifizierung von Oberflächen

25.01.2021. Im Filmdienst kann die Autorin und Regisseurin Susanne Heinrich kaum glauben, wie sich die StudentInnen der dffb mit Hilfe eines "wertschätzenden Sprechens" auf Marktkonformität trimmen lassen. Die taz bejubelt York-Fabian Raabes deutsch-ghanaisches Drama "Borga", das beim Max-Ophüls-Festival zahlreiche Preise abräumte. Die vom saudischen Kronprinz geplante Bandstadt The Line erinnert die FAZ an einen Schlag mit dem Herrscherschwert. Und die Welt geht betört vor der ägyptischen Sopranistin Fatma Said auf die Knie.

Thronverzichte und Thronbesteigungen

23.01.2021. In der taz stellt die Architektin Imke Woelk ihre Version einer umweltfreundlichen Bandstadt vor. In Saudiarabien ist etwas ähnliches schon im Bau, erzählt der Guardian, der außerdem an die Bandstadt des italienisch Kollektivs Superstudio von 1969 erinnert. Hyperallergic betrachtet in der Royal Academy das verbindende Elend in den Bildern von Tracey Emin und Edvard Munch. In der NZZ erinnert Karl-Markus Gauß an die Weltreisende Alma M. Karlin und ihre Reisegeschichten von unten. Die taz fragt, warum Amazon Sebastián Muñoz' explizit schwules Knastdrama "Der Prinz" aus seinem Programm gestrichen hat: Zuviel Gewalt oder zuviel Sex?

Tyrannen fürchten den Dichter

22.01.2021. Der Tagesspiegel zieht den Hut vor Alexander Nanaus und Catalin Tolontans Doku "Kollektiv" über die Brandkatastrophe im rumänischen Club "Colectiv", der zum Rücktritt der Regierung führte. Andreas Schäfer hört für die taz Musik von Charlie Mingus, die so fantastisch ist, dass er sich auch als Nazi beschimpfen lässt. Die FAZ trauert um eine Ikone des Brutalismus: Das Haus der Räte in Kaliningrad soll abgerissen werden. Das ZeitMagazin bewundert die farbenprächtigen Garderoben bei Joe Bidens Inauguration. Und: Die Feuilletons liegen immer noch der Dichterin Amanda Gorman zu Füßen, die die Show auf dem Kapitol dominierte.

For there is always light

21.01.2021. Der Kunst hat Donald Trump nicht gut getan, notiert monopol angesichts der doch reichlich banalen Protestkunst aus dieser Zeit. Auch Hollywood wird Trump nicht vermissen, hat er doch dessen China-Träume zerschlagen, erzählt die NZZ. Vielleicht wird's mit Biden besser, das Gedicht von Amanda Gorman zu seiner Inauguration lässt die taz jedenfalls hoffen. Die FR amüsiert sich mit der Science-Fiction-Miniserie "Eternal Peace" des Frankfurter Schauspiels. Die taz hört beim Berliner CTM-Festival "Sisters with Transistors", darunter die Klangkünstlerinnen Éliane Radigue und Pauline Oliveros. Die New York Times stellt eins der am häufigsten geklauten Gemälde vor.

Eine Tüte Kippenberger

20.01.2021. Der Guardian feiert ganz unironisch die große Kunstnation Deutschland, die seit 150 Jahren mehr originelle und provokante Kunst hervorbringe als jedes andere Land. Die taz sucht beim digitalen CTM-Festival für elektronische Musik den Bass, der in den Körper dringt. Die FAZ sucht nach Lösungen für die Berliner Clubs. Die SZ goutiert sozialkritischen und lyrischen Realismus auf dem Max-Ophüls-Festival der Underdogs.

Mit Bächlein und Bäumen

19.01.2021. Die Feuilletons feiern die vor hundert Jahren geborene Patricia Highsmith, die sich die Freiheit nahm, böse zu sein. Der Guardian stöbert beglückt in den Archiven des Fotografen Todd Webb, der in den später fünfziger Jahren Afrika im Aufbruch dokumentierte. Im Kampf gegen Smart-City-Pläne und die Infantilisierung des öffentlichen Raums setzt die FAZ auf das Neue Europäische Bauhaus. Le Monde erinnert an die vergebliche, aber wohltuende Wut des Filmemacher Jean-Pierre Bacri. Die Jungle World genießt Urlaub in Polen.

Ausgefuchster Papierkrieg

18.01.2021. Die Berlinale findet im März erst einmal nur online und fürs Fachpublikum statt. Der Tagesspiegel fragt sich, für wen dann die Presse berichten soll. Die FAZ sieht immerhin Vorteile fürs Klima. Im DlfKultur berichtet Justo Barranco, wie sich die spanischen Theater ihre Wiedereröffnung erstreikten. ZeitOnline bemerkt, dass die Popmusik den Protestbewegungen keinen Sound mehr liefert.SZ und Standard schreiben zum Tod von Musikproduzent Phil Spector. Außerdem feiert die SZ fünfzig Jahre Hot Pants.

Zum Solo verdammt

16.01.2021. Wir brauchen Bilder der Trauer um die Corona-Toten, fordert die Kunsthistorikerin Brigitte Kölle im monopol-magazin. Die FAZ bläst Putin mit der russischen Avantgarde-Pop-Band IC3PEAK den Marsch. Die taz erkennt die Schönheit von Buchstaben. Die NZZ wirft einen Blick auf die Filmindustrie in der unberührten Wildnis von Jakutien. Die SZ erliegt dem Reiz von Peter Zumthors Entwurf für das Los Angeles County Museum of Art. Und der Freitag streift durch die Geschichte der Verschwörungstheorien im Hollywood-Kino.

Konzerthäuser und Theater sind keine Infektionsorte!

15.01.2021. Die NZZ blättert sich mit Begeisterung durch einen monumentalen Julian-Schnabel-Band. Die taz staunt über den Bourdieu-Habitus, mit dem Neuköllner Schüler August Sander ins 21. Jahrhundert holen. Die FAZ bewundert die Komplexität von Cassius Clay, Sam Cooke, Malcolm X und Jim Brown  in Regina Kings Film "One Night in Miami". Van schildert die prekäre Lage der Rundfunkorchester. Die SZ schmilzt dahin mit den Tangos von Astor Piazolla. Die Welt ist sauer, dass sie trotz vorbildlicher Hygieneregeln nur online Bühne und Kunst sehen darf.

Singsang unserer Zeit

14.01.2021. Im Filmdienst graust es Lars Henrik Gass vor der Abschaffung des individuellen Filmemachers zugunsten des Filmschaffenden, den er sich nur als Untertan vorstellen kann. In der nachtkritik hat der Theaterregisseur Tim Tondorf dagegen die Nase voll vom Theatergenie, das er sich nur als alten weißen Mann vorstellen kann. Die FAZ ist hin und weg von den Konzertfilmen des DSO-Symphonieorchesters, in denen die Trompeter, Hornisten und Posaunisten die Waldschrate geben. Der Tagesspiegel spaziert durch eine virtuelle Ausstellung zum Einfluss Caravaggios. In der SZ möchte sich Lukas Bärfuss in der Coronakrise dem "Scheißdreck" der Wirklichkeit stellen. Und: Die Musikkritiker gratulieren der großen Caterina Valente zum Neunzigsten.

Elfenbein! Ebenholz!

13.01.2021. Die FAZ protestiert gegen die Refeudalisierung der Stadtplanung und fordert mehr Architekturwettbewerbe. Der DlfKultur vernimmt Anzeichen für eine mögliche Verschiebung der Documenta. Mehr als das Theater selbst vermisst die SZ das Publikum. Die Welt ahnt, wie schwer es künftig für britische MusikerInnen sein wird, in die EU zu reisen. Die FAZ bewundert den französischen Chic der frühen DDR-Mode. Zur Abwechslung findet die taz verliebte, glückliche Schwarze im Film auch mal ganz schön.

Werd ich Prinzessin oder Engel

12.01.2021. Niemand versteht sich so gut auf Märchen wie Disney, denkt sich die NZZ und erlebt in der Doku "On Pointe" die Ballettschule als Hort der Fürsorge und Fairness. Nachtkritikerin Şeyda Kurt würde auch gern mal mit ihrer sechzigjährigen Mutter ins Theater gehen. Die FAZ überlegt, ob die Kunst eine Tätowierung ist. Mit Ringlicht werden wir in der Videokonferenz zu Influencern in eigener Sache werden, verrät die SZ. Außerdem trauern Dlf und SZ um die Lyrikerin Barbara Köhler, der alles Naturschöne so fern lag wie Epen, in denen Frauen sang- und klanglos verschwinden.

Männer raus aus Westberlin

11.01.2021. In der FAZ verteidigt Cornelia Funke ihre Schriftstellerkollegin J.K. Rowling, gegen die Kampagne ihrer GegnerInnen. Die SZ erlebt mit Sohrab Shahid Saless' "Utopia", wie das Berliner Bürgertum auf der Kantstraße seine existenzielle Not erblickte. Die taz beobachtet, wie Leon Ferraris Kunst Spaniens Erzkatholiken noch immer provoziert. Die Welt erkennt die Logik in der Rückkehr von Simon Rattle aus London nach München. Und der Guardian blickt in die Zukunft hybrider Bürowelten in der Füßgängerzone.

Die Gold- und Sahneadern

09.01.2021. Die New York Times unterhält sich mit mit Martin Scorsese und Fran Lebowitz über die Netflix-Doku-Serie "Pretend it's a City", für die die beiden durch New York flanieren. Die Literarische Welt vermisst den jähen Tempuswechsel in der neueren Literatur. Hyperallergic überlegt, warum die Briten so wenig mit abstrakter Kunst anfangen können. Die nachtkritik stellt ein Instagame vor, das Theater mit den Mittel des Internets - oder vielmehr der sozialen Medien - macht. Im Neuen Deutschland erinnert Berthold Seliger an den einst ungemein populären jüdischen Musiker, Dirigenten und Komponisten Walter Kaufmann.

Der Moderne gewachsen

08.01.2021. Domus lernt von Gegia Bronzini, wie man Leinen, Seide und Wolle mit Ginster oder Maiswickel verwebt. In der taz würdigt der Anti-Mafia-Aktivist Nando Dalla Chiesa den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Dass Tantra wenig mit Sex, aber sehr viel mit rasenden Göttinnen zu tun hat, lernt Artforum in einer Ausstellung des British Museum. Mit dem Sturm aufs Kapitol sind nicht nur ein paar Fensterscheiben kaputt gegangen, fürchtet die FAZ und blickt traurig auf die Trümmer der großen amerikanischen Präsidentenserien.

Das Schöne sei der Glanz des Wahren

07.01.2021. Die taz bewundert auf Netflix die unorthodoxe Energie von Kornél Mundruczós "Pieces of a Woman". Die SZ empfiehl Heiner Goebbels' neues, auf Gedichten von Henri Michaux basierendes Hörspiel "Gegenwärtig lebe ich allein..." Die FAZ sorgt sich um die deutsche Spieloper, die niemand mehr aufführen will. In der Zeit ermuntert Holger Noltze von der digitalen Plattform takt1, das Netz als Ding eigener Art zu begreifen und nicht nur als drögen Abspielort. Die FAZ  bestaunt die Muskulosität der neuen John-Cranko-Ballett-Schule.

Ausgerechnet in Brandenburg

06.01.2021. In der FAZ ordnet Hans Belting mit V.S. Naipaul unser kulturelles Bildgedächtnis neu. Die taz vernimmt in Oslo den demokratischen Sound einer ausgemusterten Rathausglocke. Die NZZ entdeckt in den Verlagsvorschauen so viel hintergründige Komik und existenzielle Wucht wie nie zuvor. Die Welt stürzt sich in die Aufregung um die Besetzung der "Kleopatra". Und das ZeitMagazin freut sich auf die Unisex-Zukunft des Morphsuits.

Die kosmische Weite seines Hirns

05.01.2021. Die Feuilletons befreien Friedrich Dürrenmatt aus den Schulbüchern und feiern den vor hundert Jahren geborenen als großen Infragesteller der Welt. Die NZZ hat allerdings noch die ein oder andere Rechnung mit ihm zu begleichen. FAZ und Welt würdigen zum neunzigsten auch Alfred Brendel als den Poeten unter den Pianisten. Der Guardian beobachtet bekümmert den Verfall brutalistischer Bauten im Norden Englands. Der Tagesspiegel erinnert an  die Lehren der Moskauer Werkstätten WChUTEMAS. Und der Standard verabschiedet sich vom Prinzip Zwischennutzung.

Ein Myzel der Assoziationen

04.01.2021. In der FAZ entwirft der Architekt Stefano Boeri die Stadt der Zukunft als ein Archipel aus einzelnen Vierteln mit Hausdächern als Orten der Begegnung. Die Berliner Zeitung drückt sich an den Glasfassaden der generalsanierten Neuen Nationalgalerie die Nase platt. Die NZZ geißelt die Verkrümmung des Theaterbetriebs vor dem Zeitgeist. Im Standard entdeckt Lydia Mischkulnig die umwälzende Kraft von Louise Glücks Gedichten. Im Freitag hört Marie Darrieussecq Schweine pfeifen. Und die SZ erlebt, wie Goyo Montero einen Stubentiger zum Wolf macht.

Höchste, fiebrige Intensität

02.01.2021. Der Tagesspiegel zählt mit der Künstlerin Birgit Brenner die Sekunden zum Weltuntergang runter - und setzt noch schnell den Hund aus. Transhumanismus ist auch keine Alternative, nehmen die TheaterkritikerInnen aus Michael Maertens Soloperformance am Burgtheater mit. In der taz begibt sich Detlef Diederichsen mit der brasilianischen Musikerin Tuca auf eine durchgedrehte Hochgeschwindigkeitsreise. Die Welt will Cesare Paveses Tagebuchnotizen, in denen er den Faschismus verherrlicht, lieber nicht überbewerten.