Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Oktober 2020

Die Titanen sind gestürzt

31.10.2020. Die SZ verneigt sich in tiefer Ehrfurcht vor Igor Levit, der ihr mit einem feurigen Mozart in München nochmal Kraft für die Zeit des Lockdowns schenkt. Der Büchnerpreis für Elke Erb kommt mindestens ein Vierteljahrhundert zu spät, findet Annett Gröschner in der taz. Der Freitag rät, das Wochenende noch einmal mit George A. Romeros Zombie-Klassiker "Dawn of the Dead" in den Kinos zu verbringen. An der Kultur soll ein Exempel statuiert werden, glaubt Thomas Ostermeier auf Zeit Online. Und der Tagesspiegel sagt leise Servus zu Udo Kittelmann, hält aber auch fest: "Der Mann fehlte zuviel".

Kurz vor dem Zoo

30.10.2020. Wo bleibt der Aufstand gegen die Schließung der Kinos, fragt ein wütender Rüdiger Suchsland auf artechok. Die Situation ist verheerend, auch für die Theater, ruft Ulrich Khuon in der Berliner Zeitung. Monopol trägt enttäuschte Stimmen aus den Museen zusammen. Oh bitte, protestiert dagegen Zeit online. Kultur braucht bessere Argumente, Lautstärke macht einen nicht zum Rückgrat der Gesellschaft. Die FAZ wird sehr müde im neuen Berliner Flughafen. Bei Tell gibt Frank Heibert Einblick in seine Übersetzerwerkstatt. Und epd Film feiert das neue lateinamerikanische Kino.

Auf die Melodielinie kommt es an

29.10.2020. Der Jazzmusiker Till Brönner fragt in einem Video wütend: Warum hat die Kulturbranche keinen Gewerkschafts-Boss wie Claus Weselsky, der der Politik im Nacken sitzt. "Wenn man Kitas und Schulen offen halten will, warum dann nicht auch die Theater?", fragt Barbara Mundel von den Münchner Kammerspielen in der SZ. In Belarus wurde der Dichter Dmitri Strozew verhaftet, berichtet die FAZ, und es war nicht das erste Mal! Der Guardian besucht eine Ausstellung über "Turner's Modern World", die schon die ganze Geschichte der Luftverschmutzung erzählt. Die FAZ fragt, ob Cancel Culture nicht mitverantwortlich ist für die jüngsten Anschläge auf Kunstwerke.

Da kippt etwas um, ganz buchstäblich

28.10.2020. In der SZ wirft Ingo Schulze seinen Schriftstellerkollegen Monika Maron und Uwe Tellkamp vor, sich von der völkischen Rechten vereinnahmen zu lassen. In der FAZ erklärt Christian Petzold, warum das Kino die Zukunft kennt. In der taz geißelt der Architekturhistoriker Martin Kieren die formalästhetische Banalität des Berliner Flughafens. Tagesspiegel und Berliner Zeitung begutachten den Siegerentwurf von Kadawittfeldarchitektur im Wettbewerb um die Komische Oper. Und die NZZ fürchtet, dass mit Madonnas sinkendem Stern auch der Mainstream niederging.

Herrlich halbherzig

27.10.2020. Die SZ erzählt die Geschichte des schwulen Mario Cruz, der seit fünfzig Jahren ein unterdrücktes Leben in Santiago de Chile führt. Standard und FAZ erleben Tschaikowskis "Eugen Onegin" an der Wiener Staatsoper als kühles Schachspiel der Herzen. Die Berliner Zeitung macht sich mit dem Zentrum für politische Schönheit auf die Suche nach elf Schnellfeuergewehren und 60 Kilogramm Plastiksprengstoff. Und im Guardian wächst die große Joni Mitchell immer weiter über sich hinaus.

Die Milch des Funktionalismus

26.10.2020. Die SZ schlägt sich auf der Çanakkale-Biennale die Fäuste an Marmor blutig. In der FR erklärt sich Siv Bublitz zum Rauswurf von Monika Maron beim Fischer Verlag. Nachtkritik und Berliner Zeitung singen mit Sibylle Berg eine Hymne in Moll auf Katja Riemann. ZeitOnline lauscht berührt dem wunden Alt der Folksängerin Shirley Collins. Die Welt verabschiedet den Architekten Klaus Humpert, der in den röhrenden Hirschen einen Verzweiflungsschrei gegen den Funktionalismus erkannte.

Was ist dein Albtraum, Thomas?

24.10.2020. Schwarz ist die einzige Farbe, erkennt die FAZ vor den Bildern des Malers Pierre Soulages. Die nachtkritik erlebt mit der Kölner "Walküre" von T.B. Nilsson und Julian Wolf Eicke eine immersive Radikalkur. Der Filmdienst geht hart mit der Stadt Köln ins Gericht, die ungerührt den Filmclub 813 untergehen lässt. Die FAZ muss erkennen, dass Keith Jarretts Konzert am 15. Februar 2017 sein letztes war. Die FR lässt sich von der Ägyptologin Dora Goldsmith erklären, wie Kleopatra roch. Monopol würde gern vom Künstlerkollektiv "Frankfurter Hauptschule" wissen, wass die Hehe mit einem Multiple von Joseph Beuys sollen.

Tätowierung Nr. 7

23.10.2020. Der neue Borat-Film bringt selbst die Daily Mail zum Lachen. Die SZ hört, wie Bruce Springsteen mit seinem neuen Album den kosmischen Motor anwirft. Die nachtkritik freut sich über die Rückkehr der Rampensau auf TikTok. Die FAZ hat herausgefunden: Monika Maron ist auch nicht mittelbar mit dem Antaios Verlag in Verbindung zu bringen. Für die Jüdischen Allgemeine hat die ganze SZ ein Antisemitismusproblem.

Scharfe Kanten und spitze Formen

22.10.2020. Die Feuilletons streiten über Helmut Maurós Kritik an Igor Levit in der SZ, die einige für antisemitisch halten. Die Chefredaktion der SZ hat sich jedenfalls schon mal entschuldigt. Caroline Emcke reicht das nicht: Auch ahnungslos transportierte Ressentiments sind Ressentiments, ruft sie in der SZ. In der Welt fragt Ulf Poschardt entsetzt, wer nach dieser Entschuldigung noch frei in der SZ denken oder schreiben soll. Die SZ hat insgesamt ein Antisemitismusproblem, meint die Berliner Zeitung. Auch die Debatte um die Trennung des Fischer Verlags von Monika Maron läuft weiter: Die Welt wirft Fischer doppeltes Spiel vor. Die taz wünscht sich renitente Intellektuelle wie Maron, aber nicht bei Fischer.

Etwas für den guten Geschmack

21.10.2020. ZeitOnline und Dlf berichten von bizarren Ereignissen auf der Museumsinsel - einem Anschlag, der offenbar dem Thron des Satans gegolten hat. Die FAZ beobachtet mit Victoria Butler die extraterrestrische und vegetative Verwandlung des Menschen auf Alpha Centauri. Die Filmkritiker feiern Pablo Larrains Drama "Ema" als Kino des Augenblicks und reine Kinetik. Die Causa Monika Maron sorgt weiterhin für heftige Diskussionen. Und die SZ entschuldigt sich in aller Form bei Igor Levit.

Ewiges Scheitern an der Dingwelt

20.10.2020. Die SZ beleuchtet noch einmal eingehend das "Trauerspiel" um Monika Maron und den Fischer Verlag. Die NZZ fürchtet die Entgrenzung von Feindbildern in der Kunstwelt. FAZ und ZeitOnline feiern die neue HBO-Serie "I May Destroy You", in der Michaela Coels auch ihre eigene Vergewaltung thematisiert. Außerdem trauert die SZ um den italienischen Designer Enzo Mari, der gegen Portoentschädigung die Anleitungen für seine Möbel verschickte. 

Exzellente Assistenten

19.10.2020. Der Guardian wandelt im Prado durch eine Galerie grandioser Frauenverachtung. FAZ und Freitag bangen um die Kinos, die von der zweiten Coronkrise schwer getroffen werden dürften. Die NZZ stemmt sich gegen eine Literatur der Wahrhaftigkeiten. Der Standard fragt, welchen Platz Frauen in der Lyrik haben. Und der Fischer Verlag trennt sich von Monika Maron, erzählt sie in einem Interview in Welt am Sonntag.

Laufwege von Ameisen um Kekse

17.10.2020. Die Kunstkritiker suchen im Gropius-Bau den modernen Mann und finden Cowboys, Nazis und Schwule. Die FAZ vergnügt sich in Rüsselsheim derweil mit den Lecksteinen von Bongos und Elchen. Helmut Mauros Polemik gegen Igor Levit ruft in den Zeitungen und auf Twitter heftige Empörung hervor. Schlicht "obszön" erscheint der FAZ der Wüstenstaat, der im Berliner Regierungsviertel entstehen soll. Ebenfalls in der FAZ erzählt Artur Becker, wie er als Nachtportier seine katholischen Antennen ausfährt.

Mit Farben und Trompeten

16.10.2020. Der Theaterregisseur Gerhard Willert erklärt in der FAZ den neuen Theaterrevolutionären, wie systemstabilisierend sie in Wahrheit sind. Zeit online erklärt, warum Horrorfilme eigentlich immer Filme über Schwarze sind. Die SZ nimmt Igor Levit seine Social-Media-Präsenz übel. Die FAZ beobachtet im Centre Pompidou, wie sich die Comic-Künstlerin Catherine Meurisse nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo neu erfand.

Quasi aus dem Nichts

15.10.2020. Die FAZ freut sich riesig über Max Beckmanns "Selbstbild mit Sektglas", das das Städel erworben hat. Zeit online bewundert, was der Modedesigner Martin Margiela alles mit einem Champagnerkorken anstellen kann. Der Tagesspiegel bestaunt die subversiven Strategien, mit denen Carmen Losmanns in ihrer Doku "Oeconomia" Geldexperten auf den Zahn fühlt. Der Guardian erinnert an den großen Fotografen Chris Killip, der jetzt gestorben ist.

Darf ich alles mit diesem Leben machen?

14.10.2020. Die SZ pocht darauf, dass anstrengende, herausfordernde Filme nur im Kino möglich sind. Die taz fragt sich beim Buchmesse-Stream, auf welchem Kanal eigentlich die diskreten Plaudereien stattfinden. Die NZZ erkundet in Winterthur die schweizerischen Ursprünge von Robert Franks Fotografie. Die Welt hört im Zürcher Opernhaus Karaoke de luxe. Und die FAZ huldigt den akustischen Explosionen des Pharoah Sanders.

Nur Klaus nicht

13.10.2020. Der Buchpreis für Anne Webers Heldinnenepos "Annette" trifft von FAZ bis taz auf fast einhellige Begeisterung. Auf ZeitOnline interveniert Ulrike Draesner gegen den Kitschverdacht, der über Nobelpreisträgerin Louise Glück schwebt. Die NZZ verteidigt Peter Zumthors Entwurf für das LACMA gegen die amerikanische Architekturkritik. Die SZ bewundert die versteinerte Bitterkeit im Spiel der Corinna Kirchhoff. Und Iris Berben geht noch einmal mit Klaus Lemke auf der großen Spielwiese des Kinos Gänseblümchen pflücken.

Durch kurzes Entflammen resistent

12.10.2020. Keine Theorie, nur Poesie und Ironie: NZZ und FAZ geben sich in Basel freudig dem exaltierten Spiel der Götter hin. Im Freitag spricht der Schriftsteller Jonas Lüscher über Schmerz, Demütigung und Hoffnung, die Corona für den Einzelnen bedeutet. Die Jungle World möchte doch noch einmal über Maïmouna Doucourés "Cuties" diskutieren. Die SZ will sich nicht von Spotifys Playlists ihre Gefühlslagen manipulieren lassen. Wahrhaft über der Welt zu schweben, lernt sie in einem Teehaus von Terunobu Fujimori.

Mutter, gib mir Sonne

10.10.2020. Der Freitag träumt mit Pablo Heras-Casados kampfbereiter Aufnahme von Beethovens Neunter noch einmal den Traum von universeller Solidarität. Im Interview mit dem Van Magazin beklagt der EU-Abgeordneten Romeo Franz den Antiziganismus der Klassikszene. Die Theaterkritiker irren am BE durch Ibsens "Gespenster", die Mateja Koležnik im Dunkeln lässt. Die FAZ fragt angesichts von Philip Grönings Oktoberfest-Simulation: Ist KI der bessere Künstler?

Wenn man die Hölle gesehen hat

09.10.2020. Vor einigen Jahren fragten englischsprachige Medien leicht konsterniert: Elfriede who? als der Literaturnobelpreis an Jelinek ging. In diesem Jahr blickt die Welt überrascht auf eine amerikanische Dichterin, die kaum ein Mensch hierzulande kennt: Louise Glück hat den Literaturnobelpreis 2020 erhalten - und damit eine höchst formbewusste Dichterin, die Literatur nicht für Politik instrumentalisiert, freut sich die FAZ. Verrat, ruft die NYRB angesichts des Zumthor-Neubaus für das Kunstmuseum in LA, das nicht nur kleiner, sondern auch viel elitärer sei als das alte. Die taz huldigt der Soft Power von Elektropop-Musikerin Maria Minerva.

Unbehagliche Widersprüchlichkeiten

08.10.2020. Die Berliner Zeitung lässt sich mit den Fotos von Askan Sahihi noch einmal von den Energien New Yorks in den Achtzigern mitreißen. Ansonsten ist es ein schwarzer Tag für die Feuilletons: In den Kinos drohen derweil diesen Herbst endgültig die Lichter auszugehen, warnt die SZ. (Constantin-Vorstand Martin Moszkowicz meint allerdings: Alles Panikmache.) Die Theater- und Filmkritiker trauern um Herbert Feuerstein, die Musikkritiker um Eddie van Halen, die Literaturkritiker um Ruth Klüger.

Dass es das irdische Paradies tatsächlich geben kann

07.10.2020. Die SZ erkennt in dem spektakulären Atrium, das  Rem Koolhaas dem Springer-Verlag errichtet hat, den Architektur gewordenen Medienwandel. Die Welt erinnert daran, wie Koolhaas in Berlin beinahe zum Märtyrer geworden wäre. Außerdem möchte die SZ in Max Beckmann lieber nicht das Androgyne sehen. Die Berliner Zeitung berichtet aus dem coronageplagten Bollywood. Auf ZeitOnline mahnt Chuck D., den Ernst der politischen Lage zu erkennen.

Man ahnte viel, wusste manches

06.10.2020. Van erinnert an die Komponistinnen, die die Geschichte der Darmstädter Ferienkurse hätten prägen können, wenn sie nicht vergessen worden wären. Im Tagesspiegel wirft der Historiker Andreas Wirsching dem Kulturbetrieb im Fall Alfred Bauer wissendes Schweigen vor. Die FAZ genießt mit Christoph Honoré eine Dosis allerfeinsten Sadismus in Paris. Die SZ erlebt mit Aaron Sorkins "The Trial of the Chicago 7" den Showdown von Hippies und Nixon-Establishment. Die taz stattet sich für die neue Lockdown-Streamingsaison mit Balenciagas Hotelpantoffel-Schuhen aus.

Das überwältigt

05.10.2020. Rund hundert KünstlerInnen protestieren in einem offenen Brief in The Brooklyn Rail gegen die Absage der Philip-Guston-Ausstellung. Die New York Times erklärt, warum Guston seinen Nachfolgern so viel bedeutet . Die SZ jubelt über die "magische Alleskönnerin" Joana Mallwitz, die Monteverdis "Orfeo" in Nürnberg zum Swingen brachte. Der Tagesspiegel begrüßt die späte Neubewertung der Ostmoderne. Im Münchner Feuilleton wütet Oskar Röhler gegen die "geistige Idiotie und Mutlosigkeit" des deutschen Fernsehens. Die NZZ trauert um den Modemacher Kenzo Takada, der die Welt mit seinem Jungle Jap ein wenig chaotischer machte.

Tausend Stufen Grau

02.10.2020. Tagesspiegel und FAZ bewundern eine sarkastisch giftende und süß überschwallende Dagmar Manzel in Schönbergs "Pierrot Lunaire". Die NZZ betrachtet die Narben in der Kunst Kader Attias. In der FAZ hofft Ines Geipel für ostdeutsche Schriftsteller auf eine Würdigung von eigensinniger Lebenssubstanz. Der Tagesspiegel vermisst den Witz in Sofia Coppolas Komödie "On the Rocks". CR Fashion Book feiert das Pink der Elsa Schiaparelli.

Kleine None aufwärts

01.10.2020. Die Zeit fühlt das "Schwert, das durch die Seele geht" mit Wolfgang Rihms "Stabat Mater". Dem Standard wird ungemütlich vor den Landschaftsbildern Gerhard Richters. Im Dlf Kultur erzählt Jan Koneffke von der existenziellen Hilflosigkeit eines Schrumpfkopfs. Der Tagesspiegel fragt, wie die Stiftung Deutsche Kinemathek jahrzehntelang übersehen konnte, dass Berlinale-Gründer Alfred Bauer ein Nazi war. Die nachtkritik fragt: Was wird aus dem Theater ohne eine Vielfalt der Kritiker?