Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Oktober 2021

Der Krapfen posiert in rosa

30.10.2021. Hyperallergic steht gebannt vor den tropfenden, überquellenden Donuts der Emily Eveleth. Die SZ erlebt phantastisches Theater beim Spielart-Festival. Fehler sind gut, auch in der Architektur, ruft in der NZZ der Architekturhistoriker Laurent Stadler unter Berufung auf Virilio. Die FAZ amüsiert sich mit alten DDR-Fernsehthrillern, die sich Frankfurt am Main als dekadentes Höllenloch phantasieren.

Diese radikale optische Zerlegung

29.10.2021. Die FAZ lernt in einer Ausstellung Bruce Naumans nicht nur etwas über das Gehen, sondern auch über menschliche Identität. Die nachtkritik ist hin und weg, wie Christiane Jatahy in Zürich Shakespeares "Macbeth" ins heutige Brasilien verlegt und dabei toxischer Männlichkeit auf die Spur kommt. In der Zeit erklärt Adam Soboczynski, warum die Zeit einfach noch nicht reif ist für Romane über den Klimawandel. In der SZ porträtiert Can Dündar den im deutschen Exil lebenden türkischen Filmemacher Mustafa Altıoklar. Die NZZ fragt, warum Christian Thielemann gerade überall abserviert wird.

Im September flogen die Fetzen

28.10.2021. Die FAZ besucht eine Ausstellung der Londoner Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye im Düsseldorfer K20. Im Gespräch mit der Zeit erklärt Antje Rávik Strubel, warum Westler für sie Züge von Vergewaltigern haben. In der Berliner Zeitung mokiert sich der Schriftsteller Bernhard Schlink über Westler, die staunen, dass die Ostler immer noch nicht so sind wie sie. Die FR empfiehlt wärmstens Gen Iwamas Doku-Porträt des japanischen Fotografen Daido Moriyama. Die SZ erzählt, warum plötzlich so viele österreichische Filmschaffende, die meisten davon Frauen, aus dem Verband "Österreichisches Filminstitut" ausgetreten sind.

Wie ein Künstler seine Beherrschung verliert

27.10.2021. Der junge John Constable war vielleicht ein englischer Landschaftsmaler, aber der späte war ein radikaler Moderner, erkennt der Guardian in der Royal Academy. Die NZZ sieht einen neuen Malerstar am Renaissance-Himmel aufgehen: den Lübecker Hans Kemmer. Mit einem feurigen "Troubadour" reißt Gianandrea Noseda die FAZ vom Sitz im Zürcher Opernhaus. In der Debatte um den Klimawandel in der Literatur setzt die SZ lieber auf den schönen Herbst als auf das drängende Anliegen. Und die Jungle World erzählt, wie Uwe Nettelbeck der Plattenfirma Polydor die Krautrockband Faust unterjubelte.

Alle Städte dieser Welt

26.10.2021. Die Feuilletons widersprechen der Frankfurter Stadtabgeordneten Mirrianne Mahn, die sich als Schwarze auf der Buchmesse nicht willkommen fühlt. "Unwillkommen" sind dort eindeutig die rechtsradikalen Verlage, stellt die SZ klar. Und schwarze AutorInnen sind dort so sicher wie es einst auch Salman Rushdie war, ergänzt die NZZ. Die FR schaudert im Frankfurter Kunstverein angesichts der Tragik und Stärke gefällter Bäume. Die SZ stürzt sich an der Bayerischen Staatsoper mit Schostakowitschs "Nase" in einen kontrollierten Rausch. In der FAZ ruft Orhan Pamuk vor der Klimakonferenz dazu auf, Venedig zu retten. Und die NZZ beobachtet erfreut den architektonischen Aufbruch in Mexiko.

Ich bin, weil Du bist

25.10.2021. Die Frankfurter Buchmesse endet mit dem Friedenspreis für die simbabwische Autorin Tsitsi Dangarembga, die Descartes' Rationalismus und die Philosophie des Ubuntu zu etwas neuem Drittem verbinden möchte. Die SZ bemerkte allerdings mit Unbehagen Tränen der Rührung in den Augen der der versammelte Kulturelite. Als offene Kampfansage an die Buchmesse versteht die FAZ allerdings die Forderung des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann, künftig rechtsextreme Verlage auszuschließen. Außerdem vermisst die Zeit die Klimakrise in der Literatur. Die taz macht es sich auf den Bundestagsstühlen von Mario Bellini bequem.

Was Männer fürchten

23.10.2021. Großes Entsetzen über den Unfall bei den Dreharbeiten zu "Rust", bei denen ein Schuss von Alec Baldwin zum Tod einer Kamerafrau führte: Die L.A. Times berichtet von den erdrückenden Arbeitsbedingungen am Set. Cancel Culture ist eine "Form von Bürgerkrieg", sagt Kirill Serebrennikow, der sich in der SZ an die Stalin-Zeit erinnert fühlt. Cross-Gender-Ikone Marlene Dietrich hätte über die Mätzchen von heute nur müde gelächelt, glaubt ebenfalls die SZ. Und alle trauern um den Dirigenten Bernard Haitink, der noch bei heftigsten Mahler-Passagen die Ruhe bewahrte.

Die einzige kleine Rebellion

22.10.2021. In der SZ porträtiert Can Dündar die im Exil lebende kurdische Künstlerin Zehra Doğan. Die Welt fragt: Ist Max Liebermann wirklich ein europäischer Künstler? Die taz unterhält sich mit Jean-Yves Ferri über den neuen Asterix. Im Filmdienst erzählt die Doku-Filmerin Janna Ji Wonders Emanzipationsgeschichten aus ihrer Familie.

Und dann wird geklatscht. Immer.

21.10.2021. Die FR bewundert die verteufelte Coolness, die Clint Eastwood noch als 91-Jähriger in seinem neuen Film "Cry Macho" ausstrahlt. Die FAZ begreift in Donaueschingen, dass Herrschaftskritik auch eine Strategie der Dominanzsicherung sein kann. Van fremdelt eher mit den französischen und alemannischen Algorithmusfetischisten, die die Lautsprecher knuspern lassen. Dass auch Unbestimmtheit zu menschlicher Wahrheit führen kann, lernen nachtkritik und die SZ in der Münchner Uraufführung von Anne Habermehls Stück "Frau Schmidt fährt über die Oder". Die Literaturkritiker beugen sich über den neuen Asterix-Comic, der Michel Houellebecq in die Ukraine schickt.

Gut zureden und drucken

20.10.2021. Übersatt, aber glücklich feiern die KritikerInnen von SZ bis Presse Wes Andersons Pralinenschachtel von einem Kinofilm "The French Dispatch". Die taz berichtet vom Filmfestival Fespaco in Ouagadougou, wo es vor allem um die beklagenswerte Lage der afrikanischen Filmindustrie ging. Die FAZ macht sich mit Kara Walker in der Frankfurter Schirn an eine Archäologie schwarzer Identität. Der Standard entschwebt mit Lee Morgan in den siebten Jazzhimmel.

Jene wundersame Künstlichkeit

19.10.2021. Antje Ravik Strubel erhält den Deutschen Buchpreis. Die FAZ feiert die Entscheidung auch als Auszeichnung für herausfordernde Literatur. In ihrer Dankesrede betont sie: "Rávik und ich sind Schriftstellerinnen, nicht Schriftsteller." Die SZ feiert die Wiederentdeckung der Surrealistin Toyen, der jede Anbiederung fremd war, was ihr die Kunstgeschichte wohl leider mit dem Vergessen heimzahlte. In der taz spricht die Band Kabul Dreams über die unerträgliche Lage in Afghanistan. FR und Standard trauern um die Sopranistin Edita Gruberova, die Königin der Koloraturen.

Zerkratzt und bearbeitet

18.10.2021. Die KritikerInnen strahlen vor Glück in Pink und Schwarz nach der Eröffnung von Münchens neuem Volkstheater. Wunderschön ist es geworden, versichern sie. Allerdings müssen sie jetzt auch fürchten, dass die Meinung über die Liebe gesiegt hat. In der FR wirft die indigene Autorin Joanna García Cherán einen kritischen Blick auf Frida Kahlos Umgang mit der Tehuana-Kultur. Die SZ versinkt bei den Donaueschinger Musiktagen in einer unendlichen Symphonie. In der FAZ erinnert sich Ilija Trojanow daran, wie er lernte, Tsitsi Dangarembga zu übersetzen. ZeitOnline und Jungle World begeben sich mit Todd Haynes in das queere Universum von The Velvet Underground.

Unsere Suche nach Ägypten

16.10.2021. Ein Akt später Wiedergutmachung: Das Whitney Museum zeigt abstrakte Kunst, die es nie gesammelt hat - von Frauen. Auch im Marbacher Literaturarchiv sind Frauen enorm unterrepräsentiert. Über eine Wiedergutmachung denkt Leiterin Sandra Richter im Interview mit der Welt nach. Die FAZ besucht im Museum Folkwang eine Ausstellung über kulturelle Aneignung im Tanz. Die Junge Welt hört New Orleans in Mahlers Fünfter, wenn Teodor Currentzis sie mit dem Music-Aeterna-Orchester spielt.

Stets löst sich das Feste auf

15.10.2021. Der Tagesspiegel feiert die Geburt des Kinos im Musée d'Orsay. Die NZZ staunt in der Fondation Louis Vuitton über den historischen Dialog von Meisterwerken der klassischen Moderne aus Europa und Russland. Die SZ erinnert sich an die Zeit, als Verlage noch Mut zu Debatten hatten. Die FAZ bewundert zur heutigen Eröffnung das neue Volkstheater in München. Zeit online hört Rap ohne Bullshit von Neromun. Wird Literatur ein Inselphänomen wie Jazz? Der Schriftsteller Tijan Sila fürchtet es auf Facebook.

Das kleine Oktoberfest der Avantgarde

14.10.2021. In der FAZ feiert die afghanische Künstlerin Kubra Khademi triumphale weibliche Nacktheit. In der Zeit erzählt Gregor Schneider von ursprünglichsten Ich-Erfahrungen. Scheinmoralisch finden NZZ und Zeit die Entscheidung Sally Rooneys, ihr neues Buch nicht von einem israelischen Verlag übersetzen zu lassen. Superhelden waren immer schwul, deklariert die Welt. Die taz schwärmt von Christophe Honorés Film "Zimmer 212", der ein Herz für den intellektuellen Boulevard zeigt.

Kein böses Wort mehr

13.10.2021. In der Irish Times versichert Sally Rooney, dass sie ihren Roman sofort ins Hebräische übersetzen ließe, wenn sich dies im Einklang mit den Boykott-Regeln gegen Israel der BDS-Bewegung bewerkstelligen ließe. In der SZ versichert Nele Pollatschek, dass Abdulrazak Gurnah nicht nur politisch, sondern auch literarisch interessant ist. Außerdem erlebt die SZ die Poesie Alban Bergs, indem sie sich mitten in den Klang setzt. Die taz hört den Sound Charlie Parkers in den Bildern Lee Friedlaenders.

Dass das Böse das Normale sein könnte

12.10.2021. Forward.com nimmt konsterniert zur Kenntnis, dass Sally Rooney verbietet, ihre Romane ins Hebräische zu übersetzen. Auf ZeitOnline beklagt sich der östereichische Autor Elias Hirschl über den Niedergang der Wiener Seifenoper. Die taz springt jubelnd in einen Tümpel aus Blut und Sperma, den ihr Pinar Karabulut und Sivan Ben Yishai in den Münchner Kammerspielen bereiten. Die FAZ übt sich mit Juri Pimenow in der optimistischen Antizipation der Zukunft. Und die NZZ versucht, Goyas kühlen Blick in die menschlichen Abgründe auszuhalten.

Die überaus ergiebige Praxis der Aneignung

11.10.2021. So hingerissen wie verstört kommen taz, SZ und Nachtkritik aus der Performance von Angélica Liddell, die sie als Europas wütendste Theaterkünstlerin verehren. In der NZZ versucht Sergej Lebedes die russische Zeit wieder aufzutauen. Critic. de lässt sich auf dem Underdox-Festival von Norbert Pfaffenbichlers Bilderfluten umspülen. Der Standard erlebt in der Wiener Albertina die Wiederkehr der unintellektuellen Achtziger.

Maliziös grinsende Mädchen

09.10.2021. Die FAZ wird in Basel von Hexen und Puppen durch den Krieg in der Psyche Goyas geschleudert. SZ und NZZ erstarren derweil angesichts des schieren Ausmaßes des Verfalls, dem das für einige Tage geöffnete Berliner ICC ausgesetzt ist. Dass Abdulrazak Gurnah hierzulande kaum bekannt ist, wirft ein Schlaglicht auf die Verdrängung der "historischen Schuld der deutschen Gesellschaft", meint Intellectures. Zeit und NZZ finden neuen Fehler in der von einer KI komponierten Zehnten Sinfonie Beethovens. Und die nachtkritik schaut bewegt zu, wenn Edouard Louis an der Schaubühne im Superheldenkostüm Chirac, Sarkozy, Hollande und Macron beschießt.

Nichts Zweideutiges, Offenes, Flirrend-Freies

08.10.2021. Die Literaturkritiker nehmen dankbar den Auftrag an, mit Abdulrazak Gurnah einen Autor zu entdecken, der sich nüchtern und ohne Anklagen mit Fragen des Postkolonialismus auseinandersetzt. Für die FAZ ist Gurnah außerdem Aushängeschild für einen aufgeklärten Islam, nur die NZZ fühlt sich düpiert. Die taz versinkt in München in den Häuten der Heidi Bucher. Die FAZ blickt in Frankfurt indes angezogen und abgestoßen zugleich unter die Haut von Paula Modersohn-Becker. Außerdem bejubeln die Zeitungen die neue Isarphilharmonie und fragen: Warum nicht immer so?

Korrespondenz zwischen Ich und Welt

07.10.2021. In FAZ und Freitag erklärt Edouard Louis, weshalb ihn die Franzosen hassen und wie er eine Armee linker Kämpfer erschaffen will. Im Tagesspiegel erzählt Julia Ducournau, warum sie das Monströse zurück in die Gesellschaft bringen will. Sie sei gewarnt worden, dass ihr neuer Roman gecancelt würde, verrät Irene Dische der Zeit: Sie hat über eine Transperson geschrieben, ohne selbst eine zu sein. Der Guardian porträtiert die Duftkünstlerin Anicka Yi, die mit Gerüchen, Vagina-Bakterien und Spucke gegen den schmierigen männlichen Blick kämpft.

Zum Rand der Unerträglichkeit

06.10.2021. Welt und Tagesspiegel erliegen der animalischen Zärtlichkeit von Julia Ducournaus in Cannes prämiertem Horrorfilm "Titane". FAZ und FR lernen im Frankfurter Städel von Rembrandt, wie man sich selbst vermarktet und trotzdem ein integrer Künstler bleibt. Der Observer wünscht dem Turner-Preis eine baldige Implosion. Die SZ setzt ihrer Hoffnungen auf die wilden Frauen des Theater. Die Literaturkritik fiebert dem morgen verliehenen Nobelpreis entgegen.

Gute Gefühle und schöne Stimmungen

05.10.2021. Die SZ berauscht sich an den schwindelerregenden Blicken, die ihr das neue Museum Küppersmühle in Duisburg gewährt. Ein Fenster zur Welt eröffnet ihr dagegen Alexander Zelgins Theater der nüchternen Empathie auf dem Berliner FIND-Festival. Die taz stromert mit dem schwedischen Künstler Lars Cuzner durch das Steirische Spielfeld reicher Kinder. ZeitOnline feiert das Kino als physische Steigerung von Film. Und die NZZ bekommt einen letzten Brief von Roots-Musiker Geoff Muldaur.

Blutopfer des Kapitalismus

04.10.2021. Berlins Kritiker streiten über Barrie Kosky, der Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an der Komischen Oper als tiefernstes Moralitätentheater macht. Die FAZ erklärt am Beispiel des Milliardärs Alischer Usmanow, wie Repression und Mäzenatentum in Russland zusammengehen. Die taz beleuchtet die Kontroverse um den Dokumentarfilm "Sabaya", dessen Mitwirkende von allen Seiten unter Druck gesetzt wurden. Der Tagesspiegel leidet am Deutschen Filmpreis.

Hauptbehörde der Ich-Auskunft

02.10.2021. Ich habe die Krücke zeitgenössischer Relevanz endlich weggeworfen, ruft Jonathan Franzen im Interview über seinen neuen Roman in der Welt. Warum malen Künstler Frauen so gerne nackt, fragt die NZZ - eine Fragestellung, die der Standard in der großen Wiener Tizian-Ausstellung vermisst. Sehnsucht nach Freiheit statt Kritik an repressiven Regimes findet die nachtkritik in Kirill Serebrennikows Hommage an den chinesischen Fotografen Ren Hang. Der Filmdienst würdigt den mauretanischen Filmemacher Abderrahmane Sissako, der mit dem Konrad-Wolf-Preis ausgezeichnet wird. Die SZ bewundert Tirzahs Mischung aus R'n'B und Noise.

So eine altmodische, schmutzige Eleganz

01.10.2021. Moskau leuchtet, beteuert der Tagesspiegel nach einem Gang über die Moskauer Kunstmesse. Für die FAZ müssen die Arbeiten der Finalisten zum Preis der Nationalgalerie nicht mit kunsttheoretischem Jargon aufgebrezelt werden - sie gefallen auch so. Artechok lauscht den Erinnerungen des Schriftstellers Walter Kaufmann. Wunderbar aktuell findet die nmz in Wien Emilio de' Cavalieris 420 Jahre alte Oper "Rappresentatione di Anima et di Corpo". In der NZZ erklärt Regisseur Paul Schrader, warum er seine Filme lieber mit wenig Geld dreht.