Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Februar 2022

Potenziell triggernde Geschichten

28.02.2022. Wie funktioniert Protest gegen Russland? Sicher nicht, indem Tschaikowsky, der "schwule, europäische Pazifist", aus dem Programm genommen wird, wie es das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin tat, meint die Welt. Aber auch nicht durch Lippenbekenntnisse, ergänzt die SZ und meint: Russlands Kulturschaffende haben es sich zu lange gemütlich unter Putin eingerichtet. Durch die "Putinlinse" blickt sie außerdem auf Hakan Savas Micans Tschechow-Inszenierung in Hamburg, um russische Gewaltpolitik zu deuten. In der taz empfiehlt Francesca Melandri dem deutschen Publikum dringend die Lektüre des italienischen Schriftstellers und Partisanen Beppe Fenoglio.

Extrem viele Zutaten

26.02.2022. Münchens Oberbürgermeister setzt Valery Gergiev, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, ein Ultimatum: Spricht er sich bis Montag nicht gegen Russland aus, fliegt er. Gergiev bekommt von Putin für seine Ergebenheit wenigstens Geld, Anna Netrebko nicht, sekundiert die FAZ. In der NZZ legt Sasha Marianna Salzmann Schicht für Schicht die Traumageschichte der Ukraine frei. Die taz berichtet von der Feststimmung in Benin, wo die restituierten Werke ausgestellt werden. Aber die afrikanische Beteiligung am Sklavenhandel hätte schon auch thematisiert werden müssen, meint sie. Und der Standard lernt von Erwin Wurm, wie man mit Würsten alte weiße Männer bekämpft.

Diese Angst ist real

25.02.2022. Wie verhält es sich jetzt mit den "gut verdienenden Klassikrussen", die mit Putin klüngeln, aber vom westlichen Kulturpublikum bejubelt werden, fragt die Welt. Die SZ geht derweil der Frage nach, weshalb gerade unter den Kostgängern westlicher Freiheiten zahlreiche Putinfreunde zu finden sind. In der taz erzählt der Regisseur Andreas Merz-Raykov, weshalb sich Künstler in Russland lieber gleich selbst zensieren. Die NZZ verkündet einen Paradigmenwechsel im Streit um die Sammlung Bührle. SZ lernt in sechs Museen in Paris, wie aus Mode ein bisschen Kunst wird. Und ZeitOnline beamt sich mit Fishbach für einen Moment aus der Gegenwart weg.

Würde und Wärme

24.02.2022. Der Guardian feiert in der Londoner Tate Modern surrealistische Kunst aus aller Welt. Der Standard bejubelt, dass das New Museum mit Faith Ringgold endlich die Künstlerin anerkennt, die schwarzen Frauen einen Platz in der Bildenden Kunst verschaffte. Als nostalgische Hommage an das Kino und unerwartetes Meisterwerk würdigen die Filmkritiker Kenneth Branaghs Schwarzweißfilm "Belfast" über die Wirren des Nordirlandkonflikts der Sechziger. "Ungarns Korruption hat Shakespeare-Dimensionen", sagt der ungarische Regisseur Andras Dömötör im Standard. Und die Musikkritiker trauern um Mark Lanegan, den "Nick Cave des Grunge".

Zwangsoptimismus

23.02.2022. Der Guardian lernt in einer glänzenden Ausstellung in Cotonou, wie vorbildlich sich Benin um restituierte Werke kümmert. Die FR staunt in Frankfurt, wie der Fotograf Torben Eskerod Tote zum Leben erweckt. Die taz probiert in der Berlinischen Galerie das Eigenkleid an und tritt Katastrophen mit blauen Lackgummistiefeln los. Zwei Impro-Musiker sind für den Klassik-Grammy nominiert, die SZ berichtet von den Protesten aus der Hochkultur. Und der Tagesspiegel lässt sich in den Berliner Kunst-Werken von Peter Friedl zum imaginären Dialog mit Toussaint Louverture einladen.

Verachtung für die Nutella-Bürgerlichkeit

22.02.2022. Der Oberserver wandelt durch die Künstlerateliers eines Jahrhunderts. FAZ und FR freuen sich, wie die Oper Frankfurt mit Rossinis-Klischees aufräumt. In der SZ spricht die Historikerin Kira Thurman über die Geschichte schwarzer Musiker im deutschen Klassikbetrieb. Und auf ZeitOnline denkt Christian Bangels darüber nach, was die Jugend im Osten in den neunziger Jahren ausmachte: Männlichkeit, Loyalität und Härte oder die Klassenlosigkeit der Gewalt?

Man erklärt, was eine Vorband ist

21.02.2022. Der Tagesspiegel fordert eine neue Spielstätte für die Berlinale, die sonst von der Tristesse des Potsdamer Platzes mit in Baugrube gerissen werden wird. SZ und Standard begeben sich mit Sartre am Burgtheater in den Gewissensgulag. Die Irish Times fragt sich, warum die Stasi ihre Agenten in Lyrik schulte. Die SZ leidet mit der Musikbranche an der Bürokratie.

Willkommen im Club der Seelen!

19.02.2022. Artforum porträtiert die finnische Fotografin und Videokünstlerin Iiu Susiraja, die ihr massives Übergewicht ins Zentrum ihrer Bilder stellt. SZ und taz empfehlen die neuen Ostjugendromane von Daniel Schulz, Hendrik Bolz und Domenico Müllensiefen. Im Interview mit der SZ erzählt Hendrik Bolz von der Lust am Arschlochsein. In der NZZ denkt Alexander Kluge anlässlich der Sebald-Debatte über Moral und Ethik des literarischen Schreibens nach. Die FAZ porträtiert den Londoner Musikproduzenten Dean Josiah Cover. In der SZ singt Stefanie Sargnagel ein Loblied auf die Igitte Schwestern.

Von kafkaesker Prägnanz

18.02.2022. Zweiter Tag der Berlinale-Bilanz: Die taz hätte sich noch mehr Pandemie im Film gewünscht. Am besten so beiläufig eingeflochten wie in Hong Sang-soos "The Novelist's Film", meint der Tagesspiegel, der allerdings noch mehr Freude am Nebenwettbewerb "Encounters" hatte. "Zu weiß" ist die Leipziger Shortlist dieses Jahr nicht geraten, freut sich ebenfalls der Tagesspiegel. Und die Konzernverlage spielen auch keine Rolle, frohlockt Intellectures. Der Standard schaut in Wien bewegt zu, wenn Tracey Emin Abtreibung und Fehlgeburten mit Munch verarbeitet. Und bei VAN erinnert die Sinologin Barbara Mittler: "Frère Jacques" war mal Chinas Nationalhymne.

Darüber spricht kein Mensch

17.02.2022. Den Goldenen Bären für "Alcarràs" von Carla Simón nicken die Filmkritiker ab, insgesamt fehlt es der Berlinale aber längst an Aura und Zumutungen, klagen sie. Immerhin stimmt jetzt die Genderparität, freut sich die Welt. Wer die Enthemmung im Netz in Westeuropa beklagt, kennt den Osten nicht, meint Vladimir Vertlib in der taz. Die SZ erfährt von James Gregory Atkinson in Dortmund, wie der Jim Crow-Rassismus nach Deutschland kam. Die FR lässt sich von Andreas Mühe in Frankfurt an vergessene Helden erinnern: Die Biorobots, die aus der Sowjetunion kamen, um in Tschernobyl aufzuräumen.

Edel wie ein Polyesteranzug

16.02.2022. Die FR erlebt auf der Berlinale die Neuerfindung des Kinos als Alpendrama. ZeitOnline feiert mit Cem Kaya die Popmusik der Gastarbeitergenerationen. Die FAZ sehnt sich nach einem Ende der Postdramatik, aber auch die Nachtkritik möchte wieder mehr sein als nur ein Produkt des Spätkapitalismus. Die FAZ liest die Post aus der Abteilung Sensivity Reading. Und im Freitag erklärt der Musiker Sven Helbig, warum es auch Musik für neoliberale Jasager geben muss.

Einsturz des Ichs

15.02.2022. Ein russischer Film über zwei Jetpiloten gibt der Welt eher Anlass zur Beruhigung als zur Aufregung. Atemberaubende Perfektion bekommen FR und SZ von der Sopranistin Marlies Petersen in Leos Janaceks "Die Sache Makropulos" an der Berliner Staatsoper geboten. Im Standard beklagt die Burgschauspielerin Regina Fritsch das Typensterben am Theater. Die FAZ richtet auch an Klaus Lederer die Frage, warum Walter Smerlings private Kunsthalle vom Berliner Senat Millionenzuschüsse bekommt. Die SZ gibt daran eher sozialdemokratischer Großmannssucht die Schuld.

Ein leuchtender Stein im Mosaik

14.02.2022. Im Wettbewerb der Berlinale liefen die beiden deutschen Beiträge. Nicolette Krebitz' Liebesfilm "A E I O U" mit Sophie Rois und Milan Herms versetzt die Kritik in einen wahren Kino- und Freiheitsrausch. Aber auch Meltam Kaptan begeistert in Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush". Außerdem feiern alle Alexander Kluge, den Tausendsassa des Geistes und Pionier des Jungen Deutschen Films, der heute neunzig Jahre alt wird. SZ und NZZ lehnen sich mit Michael Endes "Momo" in Zürich gegen die Effizienzpflicht im Theater auf.

Zwischen Verzweiflung und billigem Trost

12.02.2022. Zweiter Berlinale Tag: Die Filmkritiker lauschen der Symphonie der Tristesse, die Ulrich Seidl in "Rimini" am Abgrund der Festung Europas erklingen lässt. Auch im dritten Jahrgang von Carlo Chatrian steht die Berlinale noch unter dem Eindruck der "grauen breiigen Masse", die Dieter Kosslick hinterlassen hat, seufzt artechock. Die FAS rät dem Humboldt Forum zu einem Ausflug nach Guadeloupe, wo das Mémorial ACTe Museum vormacht, wie man Kolonialgeschichte und zeitgenössische Kunst in Beziehung setzt. Wenn deutsche Orchester in China touren, dann dient das meist handfesten politischen Interessen der chinesischen Seite, stellt Van fest.

Koksend, posend, schnorrend

11.02.2022. Die Berlinale hat mit François Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant" eröffnet. Leider fehlte die Aura, bedauert die FAZ. Die wurde nur sichtbar, wenn Hanna Schygulla auftrat. Oder Isabelle Adjani, meint Zeit online. Die NZZ gratuliert Reto Hänny zum Grand Prix Literatur. FAZ und SZ tasten sich durch die blutroten Räume einer Wiener Dali-Ausstellung. 54books ist dankbar, dass Museen bislang den politisch-esoterischen Kontext der Arbeiten von Joseph Beuys ignoriert haben - sonst würde er noch als Querdenker verunglimpft. Die Kritiker trauern um die Funk-Diva Betty Davis.

Die epochale Flucht nach vorn

10.02.2022. In der FAZ untersuchen Heinz Bude und Karin Wieland den Freiheits- und Modernitätsbegriff des Kunsthistorikers und Documenta-Begründers Werner Haftmann. Die NZZ lässt sich von dem Musikproduzenten Doctor L in die Geheimnisse der Musik afrikanischer Megacities einweihen. Die Filmkritiker wissen nicht recht, ob sie sich auf die Berlinale freuen oder Ansteckung fürchten sollen. FAZ und Zeit annoncieren gespannt die Uraufführung von "Grete Minde", Oper des 1943 in Sobibor ermordeten Komponisten Eugen Engel, in Magdeburg. Die Literaturkritiker trauern um Gerhard Roth.

Diese merkwürdige Bildästhetik

09.02.2022. Die taz lernt im Moskauer Teatr.doc, wie sich die Funktionäre darin überbieten, den Blick des Herrschers zu entschlüsseln. Die Welt setzt gegen identitätspolitischen Dogmatismus das Wesen der Schauspielkunst. Die FAZ verfolgt, wie Art Spiegelman in Tennessee sein Meisterwerk "Maus" gegen die Schulgremien verteidigt. SZ und Welt kommentieren die Oscar-Nominierungen. Und natürlich verneigt sich die Kunstkritik vor Gerhard Richter, der heute neunzig Jahre alt wird.

Heerscharen von Cs, Os und Ns

08.02.2022. Die Feuilletons trauern um den Regisseur Hans Neuenfels, der das Opernpublikum immer wieder zu Schreiorgien und Bombendrohungen provozierte. Die FR huldigt der Berliner Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt, die Buchstaben in Schmetterlinge und Damenschuhe verwandelte. Die NZZ kann sich gar nicht genug von der Berlinale in Präsenz erhoffen. In der taz spricht die Schauspielerin und Autorin Lea Draeger über Trauma, Gewalt und Selbstbefreiung. Und warum ist bei Spotify eigentlich jedes Stück ein Song, sogar ein Menuett von Händel?

Rein funktional inmitten des Industriegebiets

07.02.2022. Die NZZ lernt von Jeremy Nedd und Impilo Mapantsula den Tanz der schnellen Füße und wütenden Herzen. Die SZ warnt René Pollesch davor, aus seinem Minimalprogramm an der Volksbühne eine Tugend zu machen. Die FAZ besichtigt den monströsen Busbahnhof von Tel Aviv. Im Tagesspiegel fürchtet Roland Emmerich die Zukunft des "Kino zuhause". Der Freitag ächzt unter dem Musikangebot der Radios, die nur noch Oldies mit Ketchup spielten.

Gefährlich böses Ende

05.02.2022. Der Standard entdeckt im Linzer Lentos das Bauhaus-Multitalent Friedl Dicker-Brandeis. Die FAZ fragt, warum ein privater Kulturmanager wie Walter Smerling vom Berliner Senat mehr Staatsknete bekommt als die Neue Nationalgalerie für den Ankauf von Bildern. Was dem einen Zensor die Obszönität ist, ist dem anderen die Blasphemie, warnen NZZ und Welt, die die Literatur von Überwachern umstellt sehen. Die nmz badet in Nancy in den heißen und eisigen Klängen der Paul-Dukas-Oper "Ariane et Barbe-Bleue". Zeit online wartet in Halberstaddt gespannt auf den Wechsel zum nächsten Ton von John Cages "ORGAN2/ASLSP".

Textflächentanz

04.02.2022. Helen Mirren soll Golda Meir spielen - und schon wird ihr "Jewfacing" vorgeworfen. "Ist Schauspiel nicht immer Aneignung?", fragt die SZ. Glücklich wird sie auch nicht mit den "woken Spezialistenfundstücken", die für das diesjährige Theatertreffen ausgewählt wurden. Die NZZ bewundert  Mohammed-Darstellungen in Zürich und lernt: Das Bilderverbot im Islam ist keineswegs absolut. Die FAZ erfährt von Jon Fosse, wer seine Romane schreibt und von Tocotronic, wie man subversiv das System umarmt.

Völlig unironische Uncoolness

03.02.2022. Die große Monica Vitti ist tot. Die Feuilletons verabschieden die italienische Schauspielerin, die der Incomunicabilità ein Gesicht gab. Die Welt lässt sich im Museum Frieder Burda von den phallischen Korallen der Künstlerinnen Margaret und Christine Wertheim nicht über die Vermüllung der Ozeane hinwegtäuschen. Die Zeit fragt, ob Neil Youngs Spotify-Boykott dringende Debatten anstößt oder die Grenzen der Meinungsfreiheit verletzt. Hollywood geht den Bach runter, fürchtet die FAZ. Und die taz verurteilt den Boykott der neuen Berliner Kunsthalle

Gute alte List der Vernunft

02.02.2022. Die SZ sieht im Theater Zwickau drei Ikonen des Fortschritts leuchten, auch wenn sie selbst dabei zugrunde gehen. Außerdem setzt sie auf grüne Brückenbauer. Die NMZ drängt auf eine fortdauernde Evakuierung afghanischer Musiker. Die NZZ stemmt sich gegen die sechste Corona-Welle, die vielleicht bald in der Literatur grassieren könnte. Demm RBB graut vor der Berlinale in Präsenz.

Dieses Schwelgen im Seltenen

01.02.2022. In der taz erzählt der Übersetzer Ulrich Blumenbach von seiner fünfjährigen Arbeit an Joshua Cohens Monumentalwerk "Witz", das dem Chaos der Welt das Chaos der Kunst entgegensetzt. Und das ihm ein hochmusikalisches Geschwurbels abverlangte, wie er in der FAZ ergänzt. Schluchzend genießen SZ und Nachtkritik sechs Stunden lang Matthew Lopez' Broadway-Drama "Das Vermächtnis" über schwules Leben in New York. Monopol folgt dem Fotografen Ragnar Axelsson auf dem Hundeschlitten durch die Arktis. Das ZeitMagazin freut sich über die Rückkehr der Schleppe.