Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2022

Unverschämter Glamour

30.09.2022. Die SZ besucht den Jazzmusiker Abdullah Ibrahim im Chiemgau, das von der Kalahari weniger weit entfernt ist als man glaubt. monopol ersetzt in Prag den eisernen Vorhang im Kopf durch einen Vorhang aus Tonbändern Gregor Hildebrandts. Im Interview mit der Welt verbucht der Autor und dekonstruktive Feminist Thomas Meinecke die Warnungen einer englischen Universität vor seinem Roman "Tomboy" als akademischen Betriebsunfall.

Kontaktbasis für Publikum

29.09.2022. Der Tagesspiegel schwelgt in der Almancı-Popkultur, der Cem Kaya mit seiner Doku "Liebe, D-Mark und Tod" ein Denkmal gesetzt hat. Eher übergriffig als hollywoodkritisch finden die Filmkritiker Andrew Dominiks Marilyn-Monroe-Film "Blond". Der Tagesspiegel lässt sich von der brausenden Natur in den Bildern des amerikanischen Malers Winslow Homer überwältigen. Theoretisch interessant findet der Standard das neue Album von Björk.

So grau und real

28.09.2022. Der Guardian erkennt das Genie von Lucian Freud: Er schaute einfach hin und zeigte, was er sah. Die taz ahnt, dass Li Ruijuns sanftes Bauerndrama "Return to Dust" in China verboten wurde, weil er das Publikum zu sehr berührte. In der SZ wandelt Judith Schalansky durch die Bibliothek der Zukunft. Der Standard sieht Bully Herbig mit seiner Mediensatire "Tausend Zeilen" der Logik des Lügenreporters Claas Relotius ungut nahe kommen.

Frei und lustig

27.09.2022. Der SPD-Politiker Helge Lindh fordert in der SZ einen Documenta-Gipfel, um die Debatte zu Antisemitismus, Postkolonialismus und BDS aus der unguten Verklammerung zu führen. Die SZ erlebt außerdem im Münchner Volkstheater, wie "Pussy Sludge" Ströme von Erdöl aus ihrer Vagina fließen lässt. In der FAZ feiert der litauische Schriftsteller Marius Ivaškevičius den Mut  russischen Sängerin Alla Pugatschowa. Der Filmdienst denkt über den neuen deutschen Heimatfilm nach. Und die NZZ lernt im ehemaligen Berliner Frauengefängnis an der Berliner Kanststraße, wie der Blick gen Himmel gelenkt wird.

Das Überleben des listigen Hasen

26.09.2022. Tagesspiegel und Nachtkritik tauchen mit Luigi Nonos Flüchtlingsoper "Intolleranza 1960" an der Komischen Oper in die europäische Eiswüste. Der Tagesspiegel lernt auch auf der Biennale Istanbul, wie man einen Drachen zur Strecke bringt. Die FAS fühlt sich von Edward Bergers Bombast-Produktion "Im Westen nichts Neues" nicht an den Krieg erinnert, wie es der Regisseur gern hätte, sondern an andere Kriegsfilme. ZeitOnline und FAZ trauern um den Jazz-Saxofonisten Pharoah Sanders, der die Ästhetik eines Schreis kultivierte.

Zu verschwinden, das wäre immerhin etwas

24.09.2022. Die Documenta ist nun endlich zu Ende. Man hätte mehr mit Ruangrupa, statt über sie reden sollen, meinen die einen. Das hätte auch nichts genützt, erwidern die anderen. Die FR rät, sich zunächst mal bei "Onkel Wanja" in Frankfurt zu entspannen. Die taz lernt in Cem Kayas  Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod"  eine Menge über die türkische Diaspora in Deutschland und ihre Musik. Und die große Hilary Mantel ist gestorben: Sie war "die glänzendste historische Autorin nicht nur ihrer Zeit", da sind sich die Kritiker einig.

Sie hängen dich am Himmel auf

23.09.2022. Am Wochenende geht die Documenta zu Ende. Was bleibt? Vordemokratische Haltungen, die sich als links gerieren und das Autonomiekonzept von Kunst nur noch gelten lassen, um sich Immunität für politische Aussagen zu sichern, resümieren SZ, Welt und Berliner Zeitung. Die FAZ beglückwünscht die Potsdamer zu Hasso Plattners neuem Museum Minsk. Die taz lässt sich im Kino in Michael Krügers geistige Welten einführen. Im Interview mit der NZZ erklärt der Filmregisseur Luca Guadagnino, worum es im Kino nicht geht: Um Bilder. Die taz porträtiert die Londoner Rapperin Enny.

Alle Farben echter Not

22.09.2022. Schockiert, gebannt und musikalisch überwältigt verfolgt die NZZ am Grand Théâtre de Genève das Schicksal von Jacques Halévys "La Juive". Der FR missfällt die falsche Glätte von Francois Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant", für die taz beschreibt er hingegen akkurat die hässlichen Auswüchse des Showbusiness. Die SZ kann mit einem Gestus des heimlichen Größenwahns gut leben, wenn er sich so virtuos äußert wie beim Jazzgitarristen Julian Lage. Die Zeit fragt, warum an allen großen deutschen Bahnhöfen weiße Kästen mit Schießschartenfenstern stehen. 

Helle Schlangenlinien über dunklem Grund

21.09.2022. Die Shortlist für den Buchpreis kann mit ihrem gesellschaftspolitischen Blick nur die taz erfreuen, FAZ und Tagesspiegel gähnen: zu viel Etabliertes, zu wenig Ästhetik. Der Guardian horcht auf, wenn William Kentridge in der Royal Academy Südafrikaner zu chinesischen Revolutionsopern tanzen lässt. Die FAZ folgt Rosa Loy in ihre allein von Frauen bevölkerten Traumwelten. Die NZZ erlebt in Basel, wie Christoph Marthaler Webers "Freischütz" entstaubt.

Ein Monster von einem Werk

20.09.2022. Die taz erkennt im Frankfurter Architekturmuseum, wie einfallsreich das Bauen mit Bestand macht. Die Zürcher "Walküre" weckt bei der NZZ Mitgefühl für gescheiterte Machtmenschen. Der Tagesspiegel erlebt das ungemilderte Draufzu in der Ost-Berliner Kunst der Wendejahre. Die SZ findet auch die schwulen Baubrigaden von Jürgen Wittdorf ziemlich klasse. Und im ND ruft Berthold Seliger dem Musikfest "Mehr Xenakis wagen" zu.

Es ist ein Orchesterklang

19.09.2022. Der Standard stellt vom Filmfestival San Sebastian klar, das Ulrich Seidls übel beleumundeter Film "Sparta" tatsächlich ein zutiefst humanistisches Werk und über jeden Zweifel erhaben sei.  Ebenfalls im Standard spricht Juri Andruchowytsch von Helden, Verführern und Verrätern der postsowjetischen Revolutionen. Auf ZeitOnline wirft die Historikerin Marion Detjen dem Expertengremium zur Documenta vor, mit vorgefertigten Meinungen gearbeitet zu haben. Akustikingenieur Renzo Vitale erklärt ihr, warum Geigen erklingen, wenn ein E-Auto beschleunigt.

Sinnlich-intellektuelle Gegenwartserschließung

17.09.2022. Die Zeitungen feiern mit Florentina Holzingers nackten Nixen an der Volksbühne eine extrem infektiöse, schamlose Party und beerdigen faulige Männerfantasien. Der Tagesspiegel fragt im Gropius Bau: Kann Kunst heilen? Die Documenta heilte jedenfalls nicht, sondern begünstigte Wut und Hass, hält Nicole Deitelhoff in der Welt fest. Artechock wünscht sich mehr Filmbesprechungen und weniger Skandalinflation. Die taz tastet sich in Triest an die Mode der Zukunft heran. Und der Tagesanzeiger fragt: Wurde Virginie Despentes' neuer Roman "Cher Connard" nicht für den Prix Goncourt nominiert, weil er Sexismus im Literaturbetrieb thematisiert?

Ein Mann singt dagegen an

16.09.2022. FR und Welt bescheinigen der Documenta einen ästhetischen und politischen Bankrott. taz und HNA verteidigen die dort gezeigten palästinensischen Propagandafilme. Bei Monopol ärgert sich die kubanische Künstlerin Tania Bruguera, dass die Diskussion um Antisemitismus alles andere auf der Documenta überlagert hat: auch die Diktatur in Kuba. Warum machen sich Schweizer Autoren in den öffentlichen Debatten so unsichtbar, fragt die NZZ. Die FR hört sich durch eine koreanische Ahnengedenkzeremonie mit fünfzig Schlag-, Streich- und Blasinstrumenten.

Reden geht nicht mehr

15.09.2022. Documenta und kein Ende: Die Zeit erklärt, weshalb gerade die Ablehnung des westlichen Kunstbegriffs zu neo-essenzialistischem Denken führt. Ruangrupa hat deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an Beratung haben, sagt Nicole Deitelhoff im Tagesspiegel. In der DDR war Karl May übrigens verboten, erinnert Hubertus Knabe in seinem Blog. Die NZZ misst den Druck, den die türkische Regierung auf die Unterhaltungsbranche ausübt. Und die Berliner Zeitung sieht den Bowie vor lauter Bowies nicht mehr in Brett Morgens Dokumentarfilm.

Das Glück des Ikonoklasmus

14.09.2022. Jean-Luc Godard ist tot. Die Feuilletons trauern um den Erneuerer des Kinos, die Zentralgestalt der Nouvelle Vague, der in seinen Filmen Leidenschaft, Intellektualität und Schönheit zusammenbrachte. Auf der Mailand-Biennale schöpft die SZ zumindest aus dem Eskapismus etwas Optimismus. FAZ und Tagesspiegel neigen beim Musikfest Berlin huldvoll ihr Haupt vor dem koreanischem Jongmyo-Schrein. Und wie die FR berichtet, spitzt sich der Streit um den propalästinensischen Agitpropfilm "Tokyo Reels Film Festival" auf der Documenta zu.

Nass in nass mit groben Pinselstrichen

13.09.2022. Le Monde und Libération trauern um William Klein, den französischsten aller amerikanischen Fotografen. Die FAZ nimmt freudig die Herausforderung an, die die australische Künstlerin Sally Gabori für ihr Weltverständnis bedeutet. In der Welt berichten Reza Heydari und Mina Kavani von den Dreharbeiten zu Jafar Panahis neuestem Film unter klandestinen Bedingungen an der türkisch-iranischen Grenze. Ausgerechnet im ND schwelgt Berthold Seliger mit Franz Welser-Möst Schubert-Glanz: Die Oboe wie von einem anderen Stern!   

Endzeit und Angstpotenzial allenthalben

12.09.2022. Nicht gerade überzeugt sind die Kritiker vom Goldenen Löwen für Laura Poitras' Dokumentation über Nan Goldins Kampf gegen den Pharmahersteller Purdue. Die FR freut sich dagegen: Poitras verfolge nicht nur eine politische, sondern auch eine künstlerische Ethik. Die SZ bereitet sich mit Robert Wilson in Hamburg auf den Weltuntergang vor, die FAZ lassen dagegen Formwillen und Unvernunft ausnahmsweise kalt. Alle trauern um den spanischen Schriftsteller Javier Marías, mit dem komplexe Romane wieder populär  wurden.

Die Wirklichkeit will sich nicht aussperren lassen

10.09.2022. Die FR bewundert den - inzwischen inhaftierten - Jafar Panahi, dem es trotz Arbeitsverbots gelang, einen Film im Iran zu drehen und nach Venedig zu schmuggeln. Vulture feiert die neue Erhabenheit in den Bilder Wolfgang Tillmans'. Die New York Times schickt anlässlich seiner Moma-Ausstellung ein wunderbar ausführliches Porträt über Tillmans aus Berlin. Die FAZ hangelt sich beim Kunstfest Weimar an einem Seil durch Chris Salters "Animate" und ins Theater der Zukunft. In der nachtkritik zeichnet Lena Myhashko nach, welche Bedeutung Theater seit dem Euromaidan 2014 für die Ukraine Identität hatte. Zeit online stellt die samibische Rapperin Sampa The Great vor.

Intensiv spukhaft

09.09.2022. "Der Krieg ist ein großer Gleichmacher", lernt der Tagesspiegel in Jewgeni Afinejewskis Film "Freedom on Fire", der beim ukrainischen Tag in Venedig gezeigt wurde. Die SZ blickt in Düsseldorf ins Frühwerk von Christo und erkennt Parallelen zu Yves Klein. Beim Internationalen Literaturfestival Berlin klagt die amerikanische Autorin Angeline Boulley über die Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung in der Literatur. Ergriffen lauschen SZ und nachtkritik Thomas Köcks wütendem Klagelied über die Klimakrise beim Kunstfest Weimar. ZeitOnline überlegt indes, wie die Klassik klimaschonender werden kann: "Nicht jedes mittelklassige Orchester sollte ständig über den Teich fliegen."

Exzess unter der Sonne

08.09.2022. Der Guardian blickt in London noch einmal auf das provokative Werk von Carolee Schneemann. Die Zeit feiert die türkische Frauenbewegung auf der 17. Istanbul Biennale. Die taz reist mit Yuri Ancaranis "Atlantide" vom Kinosessel aus nach Venedig. Eine Art "Banalität des Guten" erlebt die FAZ in Polen, wenn die Warschauer Künstlerin Natalia Romik Verstecke für verfolgte Juden zu Kunstwerken macht. Welt und taz liefern erste erschlagende Eindrücke vom Kunstfest Weimar.

Die kulturelle Kälte

07.09.2022. Die SZ erlebt auf dem Lyrikfestival "Meridian" im ukrainischen Czernowitz, wie der Krieg etwas kategorial Neues in die Literatur bringt. taz und FR feiern Kōji Fukadas "Love Life" als das erste Meisterwerk auf dem Filmfestival Venedig. Anna Netrebkos Rückkehr an die Wiener Staatsoper war von Tumulten begleitet, Standard und SZ seufzen dennoch selig über so viel Stimmschönheit. Die NZZ erkennt die Abgründe in den poppigen Frauenfiguren der Niki de Saint Phalle.

Ein gebündelter Lichtstrahl

06.09.2022. In der Berliner Zeitung gibt Ulrich Schreiber einen Ausblick auf das morgen startende Literaturfestival. Der Standard geht vor dem Tenor Timothy Fallon auf die Knie, der an der Wiener Volksoper brilliert. Die FAZ klopft sich  in der Düsseldorfer Retrospektive zu Reinhard Mucha den Aktenstaub der alten Bundesrepublik vom Ärmel. Der Tagesspiegel freut sich in Venedig, dass jetzt auch Regisseurinnen wie Olivia Wilde einen Hang zur Selbstüberschätzung pflegen. Und alle gratulieren Dominik Graf, dem aufregendsten Filmemacher am Rand des Mainstreams.

Lektionen in Botanik

05.09.2022. Die FAZ erkennt die Wahrheit über Werner Herzog. In Venedig versucht sich der Tagesspiegel einen Reim auf Paul Schraders Film "Master Gardener" zu machen. Die Nachtkritik feiert Sebastian Hartmanns Elektropop-Oper "Der Einzige und sein Eigentum" nach Max Stirner. Im Standard versichert Julian Schutting, dass auch Realisten dichten können. Die NZZ berauscht sich in Lucerne an den vibrierenden Farbflächen von Dieter Ammanns "Gran Toccata".

Bis zum Ende ein Mensch

03.09.2022. In der Literarischen Welt erzählt Jonathan Littell von seiner Reise durch die Ukraine: Es war auch der Hass aufs bessere Leben, der die russischen Invasoren zur Raserei trieb. Der Tagesspiegel lauscht gebannt, wenn Frederick Wiseman Schauspielerin Nathalie Boutefeu in Venedig aus den Tagebüchern von Sofia Tolstoi vorlesen lässt. Die SZ kriecht mit Thomas Krupa und Marlen Haushofer in Essen in ein Tiny House, die FAZ träumt vom eigenen Mini-Haus mit Garten. Und die taz taucht mit Geisterstimmen von Cuco gleich ganz ab in eine melancholische Traumwelt.

Dem Fragilen kannst du trauen

02.09.2022. Die SZ besucht Wolfgang Tillmans, der demnächst 1.800 Quadratmeter Ausstellungsfläche im Moma bespielen wird. Der Tagesspiegel taucht ein in das informelle Universum des ukrainischen Künstlers Fedir Tetyanych. Das Zeit-Magazin porträtiert den Designer von Balenciaga, Demna Gvasalia, als unperfekten Messias. Die Welt wird in Venedig Zeuge, wie Lars von Trier die Gesetze der Schwerkraft aushebelt. Die FAZ erliegt beim Musikfest Berlin der Zärtlichkeit der Tenöre in Beethovens "Missa solemnis". Die nmz lässt sich auf der Ruhrtriennale Sarah Nemtsovs Kammermusik um die Ohren fliegen.

Was sein könnte

01.09.2022. Die FAZ blickt verärgert auf die unkommentierte Märtyrerpose eines palästinensischen Terroristen in einer Doku über das Olympia-Attentat '72. In der SZ denkt Theresia Enzensberger über Esoterik und Technik nach. Die Zeit verliebt sich in Donatellos Spiritelli. Die NZZ bestaunt die Farbspiele chinesischer Jadekunst. Die taz bewundert installationskunstwürdige Supermarktregale in Noah Baumbachs Eröffnungsfilm für die Filmfestspiele Venedig, "White Noise".