Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

August 2021

Wuchtige Cluster

31.08.2021. Einen wahren Rausch aus Schrecken, Schuld und Tragik erleben FAZ und Tagespiegel in Berlin mit Mark Anthony Turnages "Greek" und George Enescus "Oedipe". Bei der SZ schmilzt die Hoffnung auf eine live stattfindende Frankfurter Buchmesse. "'Was liegt, das pickt", lernt der Standard vom Maler Hubert Scheibl. Die Musikkritiker feiert mit Kanye West eine Messe.

Jedes Wort ein Kraftakt

30.08.2021. Ulrich Rasches Inszenierung von Sophokles' "Oedipus" spaltet wie immer die Feuilletons: SZ und Nachtkritik feiern den wuchtigen Abgesang aufs Individuum, taz und FAZ fühlen sich an Rammstein erinnert. Im Standard sucht Natascha Gangl mit den Zapatistas in Madrid die Möglichkeit der Möglichkeit. Die FAZ sieht mit Geoff Muldaur die Folkmusik vor dem Verknöchern bewahrt. Und die Welt unterzieht mit Mario Adorf den großen Welterfolg des Schauspielers, Robert Siodmaks "Nacht, wenn der Teufel kam", einer Revision.

Zwei Sprünge vom Gaumen abwärts

28.08.2021. Wo sind die "wütenden arabischen Stimmen, die Gerechtigkeit fordern gegen die Talibanisierung der gesamten muslimischen Welt?", fragt der Künstler Ibrahim Quraishi in der taz. Die Nachtkritik hört mit Lawrence Abu Hamdan das Dröhnen im Kopf der Libanesen beim Frankfurter Festival "This Is Not Lebanon". In der FAZ betet Durs Grünbein eine ihm unbekannte Dame an: Europa. Der Tagesspiegel blickt in Paris in die blutorangen Abgründe der Anne Imhof. Die FAZ lernt in Bergen, wie Pestizide in die Muttermilch von Inuit gelangen. Und im Perlentaucher meint Daniele Dell'Agli: Wenn etwas in die Jahre gekommen ist, dann die "Befreiung der Klänge" durch die Musik.

Die Stille wird laut

27.08.2021. Der Tagesspiegel erlebt im Barberini Museum einen schmissigen Frühling auf der Krim. Das Van Magazin hört einen zutiefst menschlichen Schrei in Luigi Nonos "Intolleranza". FAZ und FR feiern das neue Romantik-Museum in Frankfurt. Die nachtkritik erhält einen Theaterbrief aus dem Iran. Die NZZ trauert um den belarussischen Dichter Ales Rasanau.

Schoppe blieb cool

26.08.2021. Ein betretener Tagesspiegel lernt aus einer Ausstellung über Künstler des Nationalsozialismus, wie ungeniert diese oft ihre Karriere nach dem Krieg fortsetzen konnten. Sogar NS-Gedenkstätten durften einige gestalten, erzählt Kurator Wolfgang Brauneis in Monopol. Frauen hatten es in der Bundespolitik dagegen deutlich schwerer, weiß die Zeit aus Torsten Körners Doku "Die Unbeugsamen". Die neue musikzeitung hört in Bayreuth Siegfried Wagners polyamourösen "Friedensengel". Die taz lässt sich vergnügt auf dem Dancefloor zwischen Waldbrand und Flutkatastrophe von der Hamburger "School of Zuversicht" beschallen.

Außerdem wollte er nicht schwitzen

25.08.2021. "Die Rolling Stones sind Geschichte", verkündet die SZ mit dem Tod ihres Schlagzeugers, des stets gut gekleideten Charlie Watts. Der Tagesspiegel erzählt, wie Matthias Lilienthal und der libanesische Künstler Rabih Mroué mit dem Festival "This Is Not Lebanon" das zusammengebrochene Land wiederaufrichten wollen. Die FAZ stößt mit der polnischen Künstlerin Agnieszka Polska auf die Partisanen der Gegenmoderne. Der Filmdienst huldigt Guy Gilles' Kino der Entwurzelung. Und Slate blickt demoralisiert auf Spike Lees 9/11-Doku, die auch weidlich Verschwörungstheoretiker zu Wort kommen lässt.

Zwischen shampoonierten Podencos

24.08.2021. In der FR pocht Colson Whitehead auf die Freiheit des Schriftstellers zur kulturellen Aneignung: Man darf es nur nicht verbocken. Die FAZ zieht den Hut vor Gerhard Steidl, dem Göttingen das neue Kunsthaus zu verdanken hat. Der Obsver feiert die subtile Kunst des Iraners Abbas Akhavan, der den Tempel von Palmyra neu erblühen lässt. Die taz huldigt Kurt Mühlenhaupt, dem Erfinder Kruezbergs. Und die SZ tanzt mit Marcia Moretto.

Der Fortschritt muss uns glücken

23.08.2021. Die Nachtkritik lernt beim Zürcher Theaterspektel, den Knall  der Peitschen zu genießen. Die FAZ erlebt beim Kampnagel-Festival, wie Choreograf Kyle Abrams den Tanz in Ritual, Wettkampf und Machtdemonstration zurückverwandelt. In der SZ zeigt der Autor Fridolin Schley, wie heuchlerisch die Beschwörung edler Gesinnung ist. Die NZZ erlebt beim Lucerne Festival die Dirigentendämmerung. Im Standard betont Stefanie Sargnagel, dass auch Frauen derben Humor können.

In ihrer gewaltsam paranoiden Suggestion

21.08.2021. Domus staunt über die Bilder des Fotografen Richard Mosse, deren Ästhetik genau durch die Techniken entsteht, die der dokumentierten Vernichtung dienen. Im Interview mit Van zeigt sich der aus Lagos stammende Künstler Emeka Ogboh überrascht von der Stille in Berlin. Artechock versucht die Katastrophe in Afghanistan mit John Hustons Film "Der Mann, der König sein wollte" dialektisch zu reflektieren. Im Interview mit der Literarischen Welt erklärt der afroamerikanische Schriftsteller Colson Whitehead allen Lesern seines neuen Romans, warum er darin das Wort verwendet, das nicht verwendet werden darf.

Ein Quantum Trost im Algorithmen-Modus

20.08.2021. Die Kunstkritiker feiern schon mal die Eröffnung der Neuen Nationalgalerie, die am Sonntag mit gleich drei Ausstellungen fulminant startet. Nur die FR ist unzufrieden, dass die Rolle Werner Haftmanns, Naziverbrecher und erster Direktor der Neuen Nationalgalerie, kaum thematisiert wird. Der Tagesspiegel erzählt am Beispiel einer Theatergruppe, warum selbst Afghanen, die auf deutschen Ausreiselisten stehen, nicht aus Kabul wegkommmen. Der Standard verteidigt Teodor Currentzis gegen Kritik. Die taz erliegt dem suggestiven Soundvoodoo von Fehler Kuti.

Mit lakonischem Blick auf die Todesstrafe

19.08.2021. Die Taliban haben sich nicht geändert, sie können sich jetzt nur besser verkaufen, erklärt der afghanische Künstler Yama Rahimi im Interview mit monopol. Weshalb Künstler nur raus wollen aus dem Land. Das bestätigt ein afghanischer Musiker im Van Magazin: "Die gesamte musikalische Gemeinschaft Afghanistans lebt in Angst, Panik", sagt er, und ganz besonders die Musikerinnen. In der NZZ überlegt der Architekturtheoretiker Stephan Trüby, ob es so etwas wie ethische Architektur gibt. SZ und FR loben den auf subtile Weise revolutionären Film "Doch das Böse gibt es" von Mohammad Rasoulof. Die Welt empfiehlt Viktor Kossakovskys essayistischen Dokumentarfilm "Gunda" über eine norwegische Sau und ihre Ferkel.

Wie unbekannt das Leben ist

18.08.2021. Die taz feiert mit dem Centre Pompidou in Metz die Kulturgeschichte des Aufblasbaren. Die SZ lässt sich von Anne Nguyens "Underdogs" beim Tanz im August K.O. schlagen. Außerdem gratuliert sie dem Filmplakat-Gestater Joseph Caroff zum Hundertsten. Critic.de berichtet in "ergriffener Verdatterung" vom Festival "Il Cinema Ritrovato" in Bologna. Und der Guardian erkennt in einer "Tokio"-Ausstellung in Oxford: Mondgestalten und Feuerwerke leuchten im Holzschnitt explosiver als in der Fotografie.

Die Realität ist dagegen

17.08.2021. Überwältigt sind SZ und Standard von Wut und Verzweiflung in Luigi Nonos Politoper "Intolleranza 1960" - und von der Schönheit, ergänzt die Welt, wir sind ja schließlich in Salzburg. Die NZZ erzählt, wie das Victoria and Albert Museum die Londoner Bezirke Hackney, Newham und Tower Hamlets aufmöbeln will. In der SZ erzählt der Schriftsteller Matthias Jügler von einem IM mit quälenden Schuldgefühlen. Der Freitag fordert angesichts der Klimakrise mehr utopische Literatur.

Nonos Musik kann man nicht singen

16.08.2021. Rotflammende Süffisanz und sehnige Minimalverbiegungen bewundern die KritikerInnen in der Salzburger "Maria Stuart" mit Birgit Minichmayr und Bibiana Beglau. Im Tagesspiegel setzt René Pollesch für seine Volksbühnen-Intendanz ganz auf Beratungsresistenz. Die FR jubelt über die Versöhnung von Genrekino und Autorenfilm beim Filmfestival von Locarno. In der FAS berichtet Jürgen Wertheimer vom "Projekt Cassandra". Und die taz sorgt sich um die Minsker Mittelalter-Folk-Band Irdorath, die es im August 2020 wagte, einen Protestsong zu spielen.

Tempi, Themen, Tonlagen

14.08.2021. Wenige Künstler stellen Kinder so authentisch dar wie Yoshitoma Nara, stellt Hyperallergic in L.A. fest und blickt auf Kinder, die Botschaften sprengen und auf Hitlers Kopf stehen. In der taz befürchtet Stephan Erfurt, dass es am Ende gar kein Bundesinstitut für Fotografie geben wird. Die NZZ feiert die Unberechenbarkeit des Filmfestivals in Locarno.  Die SZ tanzt mit Patricia Kopatchinskajas "Dies Irae"-Projekt in Salzburg ein verrückten Totentanz zu Krieg und Klimakrise.

Zur ewigen Transformation verdammte Flüchtigkeit

13.08.2021. Die FAZ staunt im Kunsthaus Bregenz, wie Anri Sala die Musik zur Akteurin seiner Installationen macht. In der SZ versucht Helmut Mauró seinem FAZ-Kollegen Jürgen Kesting das Phänomen Teodor Currentzis zu erklären. Außerdem erinnert sie daran, wie sehr vor allem Punkrocker die Mauer liebten. Zeit online feiert Sîan Heders Indie-Film "Coda", der von einer Hörenden inmitten von Gehörlosen handelt. Die NZZ fragt sich: Wurden die buddhistischen Kulthöhlen aus Xinjiang, die gerade im Humboldt Forum aufgebaut werden, geraubt oder gerettet?

Keine unbequemen Fragen

12.08.2021. Die taz erlebte ein absolutes Opern-Highlight mit Francesco Cavallis Barockoper "Ormindo" auf dem Bürgerplatz in Berlin-Schöneberg. Die Zeit fragt: Warum erklären Kuratoren nicht offen, wo für sie die Grenze zwischen High und Low liegt? Franziska Stünkels Film "Nahschuss" über einen Stasispitzel sagt mehr über die Wessis aus als über die Stasi, meint der Tagesspiegel. Der SZ gefallen die Braun-, Grau- und Sepia-Töne des düster glimmenden Films. Schmeißt die Leggings in die Ecke, Powerdressing ist wieder angesagt, versichert die NZZ den arbeitenden Frauen.

Kino ganz ohne Wuschelmähne

11.08.2021. Nach achtmonatigem Filmstau genießt die SZ den verregneten Sommer wie nie zuvor. Der Freitag liest Climate-Fiction. Die NZZ betrachtet Miriam Cahns verstörende Bilder im idyllischen Palazzo Castelmur. Die FAZ blickt in der Kunsthalle Baden-Baden auf die Vernunft der Natur. Pitchfork zuckt zusammen, wenn Kristin Hayter auf ihrem neuen Album mit appalachischen Instrumenten Gott erklingen lässt. 

So ungeheuer vieles zur gleichen Zeit

10.08.2021. Der Filmdienst bewundert die raue Schönheit in den Filmen von Alberto Lattuada, dem das Festival Locarno seine Retrospektive widmet. In der FR sinniert Max Dax über die Langeweile des Alltags und den Trost der Sprache. Die aufregendste Architektur kommt momentan aus China, ist die SZ überzeugt. Hyperallergic blickt betrübt auf die muffigen Teppiche, mit der in der Hagia Sophia christliche Kunstwerke verdeckt werden, seit der Bau zur Moschee umgewandelt wurde. Und die NZZ huldigt dem Musiker, Bodybuilder und Lebenskünstler Rummelsnuff.

Revolution beginnt immer in der Musik

09.08.2021. In Salzburg schickt Jossi Wieler die berückten Kritiker auf Sinnsuche mit seiner Inszenierung von "Das Bergwerk zu Falun" nach Hugo von Hofmannsthal. Im Standard denkt die Schriftstellerin Anna Kim über den Begriff "Muttersprache" nach. In der NZZ erzählt der Schriftsteller Tom Schulz, wie der Dichter W.H. Auden einst im Wienerwald Zuflucht fand. Der Guardian bewundert den Umgang der Blumendesignerin Constance Spry mit Grünkohl und Mangold. In der FAS erzählt Kiveli Dörken, wie man ein Musikfestival auf Lesbos in Hörweite von 13.000 Flüchtlingen macht.

Geiger mit Lockenpracht

07.08.2021. Die FAZ steht staunend vor der Skyline des 80 Meter langen Buntglasfensters, das Sabine Hornig in New Yorks Flughafen LaGuardia eingebaut hat. Und sie entdeckt mit Alice Guy-Blaché einen der frühesten französischen Filmpioniere. In der Literarischen Welt erklärt Jonathan Lethem, warum sich Deutsche und Amerikaner so ähnlich sind. Die nachtkritik beobachtet in Bregenz das Treiben um Carlas Würstelstand in Bernhard Studlars antikapitalistischem Stück "Lohn der Nacht". Bei monopol stellt die Künstlerin Heike Gallmeier ihr Projekt "Outlines" vor, für das sie die deutsche Außengrenze bereist. Die SZ bewundert in Bonn den Einfluss der japanischen Mode auf Avantgarde und Mainstream im Westen.

Von einsamer Zärtlichkeit

06.08.2021. Die taz swingt zu modularen Synthesen aus analogen und digitalen Klängen des Jazzdrummers Gerald Cleaver. Zeit online gruselt sich in Locarno in Ferdinando Cito Filomarinos Politthriller "Beckett" vor den dunklen Kräften des Staates. Im Standard warnt Matthias Politycki vor Verlagen in Deutschland, die die Backlist ihrer Autoren den neuen Sprachmoden anpassen wollen. Die FAZ steht baff vor einem Kubikmeter unveröffentlichter Manuskripte von Céline. Die SZ hält den Atem an, wenn Cecilia Bartoli einen silbernen Stimmfaden durchs Salzburger Festspielhaus schweben lässt.

Leider nur ein Teddy

05.08.2021. Alles Natur in der Kunst der heutigen Zeit: monopol kniet in Berlin vor Christiane Löhrs Pusteblumen. Die FAZ bewundert in Karlsruhe Pflanzenporträts. Die FR besucht in Wuppertal den neuen Waldskulpturenpark von Tony Cragg. Der Standard sieht sich beim Wiener Impulstanz einer Gruppe Flüchtlinge, einem Wald und einem Bären gegenüber in Wim Vandekeybus' neuer Choreografie "Traces". Van berichtet über antiasiatischen Rassismus im Klassikbetrieb. In der Jungle World distanziert sich Carsten Friedrichs, Bandleader der Liga der gewöhnlichen Gentlemen, von der Linken, bei der er heute Klassenbewusstsein vermisst.

Die Geometrie ist nirgendwo dogmatisch

04.08.2021. Die FAZ erliegt dem Zen Tadao Andos auch in der Zentrale eines Karlsruher Bauunternehmers. In der nachtkritik wirft Barbara Frey, neue Intendantin der Ruhrtriennale, einen feministischen Blick auf das Industriezeitalter. Die SZ schwärmt von Dominik Grafs Kästnerverfilmung "Fabian oder der Gang vor die Hunde". Zu viel Romantik, beschwert sich dagegen die FAZ. Aber die SZ hat es heute mit den großen Gefühlen: Sie applaudiert unverfroren Theodor Currentzis, der in Salzburg Mozart mit einer Raserei am Rande des Möglichen aufführt.

Raubzüge am schönen Tier

03.08.2021. Die Tupfen und Kleckse des einen ergänzen die Schmierereien und Kratzer des anderen: Commonweal sieht die Gemeinsamkeiten im Werk von Willem de Kooning und Chaim Soutine. Die taz bewundert die kollektiven Fantasien der Mode von Birgit Jürgenssen. In der FAZ ruft Martin R. Dean dem vor der "political correctness" aus Deutschland fliehenden Kollegen Matthias Politicky zu: Was wir gerade erleben, ist Aufklärung! Der Standard erinnert an den belarussische Nationaldichter Janka Kupala. Die SZ lässt sich von Christian Thielemanns Bruckner mitreißen.

Komm, beglücke mich!

02.08.2021. Die FAS untersucht mit einem Parfum der Künstlerin Pamela Rosenkranz das gestörte Verhältnis von Mensch und Tier. Die NZZ stellt den polnisch-jüdischen Autor Leopold Tyrmand vor. Warum sind deutsche Liebesfilme nur immer so unromantisch, fragt sich in der NZZ Tobias Sedlmaier. Perfekten Verführungsstoff hört dagegen die hüftschwingende SZ mit "Paani Paani" von Rapper Badshah. Die nachtkritik reagiert entgeistert auf den "Chor der Mütter, die den Holocaust überlebt haben" in Marta Górnickas Inszenierung "Still Life. A Chorus for Animals, People and all other lives". Die FAZ feiert den Orpheus des zwanzigsten Jahrhunderts: Enrico Caruso.