Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2019

Achtung, wir können Origami!

30.09.2019. FAZ und SZ jubeln König Lears herzlosen Töchtern zu, die an den Münchner Kammerspielen den Systemwechsel herbeiführen, und zwar in ganz scheußlichen Klamotten. Die taz erlebt beim Filmfestival in San Sebastian das spanische Kino in politischer Hochform. Ähnlich sieht der Guardian auch die Nominierungen zum Turner Prize. Und ZeitOnline spricht mit dem Jazzklarinettisten Rolf Kühn über die Gehemmtheit des DDR-Jazz.

Mit meinem südkatholischen schlechten Geschmack

28.09.2019. AnOther Magazine feiert die Kollaboration von Dries van Noten und Christian Lacroix für eine rauschende Modenschau mit goldenen Parkas, Unterhemden, von denen Ripsbänder flattern, Herzoginnensatin und Polyester aus recycelten Kunststoffflaschen. Der Filmdienst berichtet von einem Eklat beim Filmfestival im polnischen Gdynia, wo das Auswahlkomitee wegen Einmischung der Politik geschlossen zurücktrat. Die SZ lernt, warum Robert Mapplethorpe jeden Monat zum Zeitungskiosk rannte. Zeit online begleitet mit Sympathie die Suche zum "most mysterious song on the internet". Die Literarische Welt knickst vor Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit.

Schlussszene an einem gefrorenen Teich

27.09.2019. Die Kritiker sind begeistert von Thomas Heises Essayfilm "Heimat ist ein Raum aus Zeit", in dem der Filmemacher die Geschichte seiner Familie im Spiegel der deutschen Geschichte zeigt. Annekathrin Kohout unterhält sich für ihr Blog mit der Malerin Mona Broschár über deren "Kick-Off-Bilder", bei denen nicht selten eine Wurst im Mittelpunkt steht. ZeitOnline führt durch die Geschichte des türkischen Raps bis zu seinen deutsch-türkischen Wurzeln. Der Tagesspiegel gratuliert Norbert Scheuer zum Raabe-Preis.

Der Vollrausch ist zuweilen Systemkritik

26.09.2019. Im Standard outet sich Peter Eötvös, dessen Oper "Angels in America" heute in Wien Premiere hat, als begeisterter Ausländer. Der Tagesspiegel feiert den Horrorfilmregisseur Ari Aster als meisterhaften Arrangeur des Unheimlichen. Bedřich Smetana bietet eigentlich viel Stoff für Gender-Science, denkt sich die neue musikzeitung vor einer mit allen maskulinen Klang-Attributen charakterisierten Libuše. Das neue Deichkind-Album macht Epoche, ruft eine hingerissene SZ. Die NZZ freut sich an den surrealen Überhöhungen des Modefotografen Tim Walker.

Die gedämpfte Stimmung veganer Boutiquen

25.09.2019. Der Tagesspiegel spricht mit Regisseur François Ozon über sein Drama "Gelobt sei Gott", Missbrauch in der katholischen Kirche und die  Empfindsamkeit von Männern. Die Welt steht rätselnd vor einer mathematischen Kurvendiskussion, die Bjarke Ingels in die norwegische Fjordlandschaft baute. Die FAZ deutet auf die argumentative Not der Unterstützer von Kamila Shamsie. Die NMZ beklagt die Entwertung der Musikerfahrung durchs Streaming. Und die SZ trifft den Rapper Bobi Wine, der Präsident von Uganda werden will.

Erfüllte Weite und Offenheit

24.09.2019. Die linke Prominenz der britischen Literatur springt Kamila Shamsie zur Seite, die das Recht auf Boykott für sich geltend macht, aber nicht unbedingt für die Stadt Dortmund.  Die SZ verteidigt die Paulskirche gegen die Verfechter der Rekonstruktion. Die taz lernt im  Ballhaus Naunystraße, über die Schwerkraft des Rassismus hinauszuwachsen. Die NZZ beklagt die Gängelung der kubanischen Filmszene.

Eine Fülle an Frechheit

23.09.2019. Die SZ feiert die Wiederentdeckung der norwegischen Webkünstlerin Hannah Ryggen, deren Teppich zum Abbessinienkrieg neben Picassos "Guernica" hätte hängen müssen. Der Standard sieht beim Steirischen Herbst, wie ein eiter Kulturbetrieb seinen Hedonismus in theoretische Weltläufigkeit ummünzt. Die Nachtkritik hält tapfer die Nazis in Ödön von Horvaths "Italienischer Nacht" aus. Die NZZ lauscht einem frischen Sibelius. Außerdem trauern die Feuilleton sum Günter Kunert, den großen Zweifler an der geraden Linie.

Aggregatzustände kultureller Selbstreflexion

21.09.2019. Die FAZ lernt den französischen Zeichner Moebius im Max-Ernst-Museum in Brühl als Vordenker von "Stars Wars" kennen. Zeit Online erlebt "reinsten, besten" Beethoven kurz vor dem Wahnsinn bei Igor Levit in der Elbphilharmonie. In der Literarischen Welt schämt sich Mircea Cartarescu dafür, Schriftsteller zu sein. Der Filmdienst entdeckt einen neuen Klimakiller: Filmfestivals. Der eigentliche Künstler der Contemporary Istanbul ist Ekrem Imamoglu, glaubt der Tagesspiegel.

Den Salzstreuer auspacken

20.09.2019. SZ und Standard entdecken in der Wiener Albertina begeistert den experimentellen Dürer. Die neue musikzeitung geht über ihre Schmerzgrenzen in Philip Venables' Oper "4.48 Psychosis". Die NZZ fühlt sich bei einem Theaterwochenende in Berlin sehr allein. Die Filmkritiker gähnen sich mit "Downton Abbey" durch Merry Old England.

Kind mit stählernem Kern

19.09.2019. In der NZZ plädiert die Architektin Elli Mosayebi dafür, einen Sprung in die Zukunft zu wagen: mit neuen Energiequellen und neuer Architektur. Dass das Neue erst mal seltsam aussehen kann, lernt die NZZ derweil in einer Ausstellung über den Bauhauskünstler Johannes Itten. Die Zeit sieht in drei Ausstellungen, wie Maler, die noch kaum jemand kennt, auf die Digitalmoderne reagieren. Miriam Meckel denkt über die Zukunft der Literatur in Zeiten von Künstlicher Intelligenz nach. Die SZ porträtiert die Dokumentar-Theaterregisseurin Karen Breece. Die Filmkritiker starren in die lederne Maske Sylvester Stallones.

Und Schuschnigg fährt zu Hitler

18.09.2019. Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis teilt die Kritik: Der DlfKultur sieht in der Auswahl den großen Generationenwechsel vollzogen, der Tagesspiegel zwanghafte Originalität. Die Kosten für das geplante Museum der Moderne schnellen in die Höhe. Der Tagesspiegel vermisst auch nach der Erklärung der Kulturpolitik eine - Erklärung. Die SZ findet immerhin, dass der Renommierbau Struktur auf den Friedhof der Solitäre bringt. Die Welt berichtet von den Intrigen in Salzburg um Christian Thielemann und die Osterfestspiele.

Habitat der türkischen Wasserbüffel

17.09.2019. In der taz kommt Milo Rau der Attraktivität faschistischer Rhetorik in Italien auf die Spur. Exzellentes Komödienhandwerk bescheinigt die FAZ Taika Wahitis in Toronto gezeigter Nazi-Burleske "Jojo Rabbit". Die SZ bewundert im Lenbachhaus Senga Nengudis empörend abstrakte Kunst. Die NZZ gibt sich in Zürich eine volle Dröhnung Theater. Und im Tagesspiegel spricht Chimamanda Adichie über Wut. 

Ästhetische Radikalität in jeder Beziehung

16.09.2019. Die SZ kürt Pretty Yende und Benjamin Bernheim zum neuen Traumpaar der Oper. Die NZZ lernt von Luigi Nonos  "Al gran sole carico d'amore" in Basel, dass Schönheit und Revolution durchaus zusammengehen. Der Tagesspiegel berichtet, dass Münchens Haus der Kunst diesmal Ai Weiwei nicht haben wollte.  Auf ZeitOnline erzählt die Regisseurin Nora Fingscheidt, wie die Arbeiten an "Systemsprenger" ihr Weltbild verfinsterte. Und große Trauer herrscht über den Tod des Dissidenten György Konrad, der nie recht haben wollte, sondern verantwortlich handeln, wie Adolf Muschg in der FAZ schreibt.

Steroid für die Historie

14.09.2019. Die Welt erliegt mit Abel Gance dem Rausch der Bewegung. Die SZ sieht auf den Bildern Robert Franks, wieviele Jahrzehnte Europa von Amerika einst trennten. Der Freitag lernt von Videokünstler Klaus vom Bruch, was ironische Verschiebung bedeutet. Standard und Nachtkritik lassen sich in Ulrich Rasche Wiener "Bakchen"-Inszenierung sehr tapfer von Faschos anbrüllen. ZeitOnline fürchtet die Rückkehr der Bombast-Videos der neunziger Jahre. Und bisher gibt es nur Meldungen: György Konrad ist gestorben.

Unter Gepauke, Gefiedel und Kunstnebel

13.09.2019. Die Welt gesteht ein, dass ein halbes Jahrhundert DDR-Kunst nie ganz verstanden werden wird. Rüdiger Suchsland ist in Artechock schockiert, dass sich der Chef der hessischen Filmförderung Hans Joachim Mendig mit dem AfDler Jörg Meuthen hat fotografieren lassen. Im Standard erklären Martin Kusej und drei Mitarbeiter, warum das Burgtheater künftig mehrsprachig (aber mit Obertiteln) ist. Die FAZ ist enttäuscht vom Auftritt der simbabwischen Schriftstellerin Petina Gappah beim Berliner Literaturfestival.

Das Glutamat der Dichtung

12.09.2019. Die FAZ bestaunt in Angoulême Castelbajacs Röcke für Snoopy und andere ikonische Outfits für Comicfiguren. In der taz erklärt Albert Serra, warum Nacktheit im Kino so viel agressiver ist als im Theater. In der Zeit erklärt Anselm Kiefer, warum man ihn nur mit Gewalt in einer Ausstellung mit Georg Baselitz, Gerhard Richter und Sigmar Polke zusammenbringt. Die SZ erklärt, warum das neue Berliner Museum des 20. Jahrhunderts schon vor Baubeginn drei mal so teuer ist wie geplant. Die Musikwelt trauert um Daniel Johnston und seine Dämonen.

Partisan des Persönlichen

11.09.2019.  Die Kritiker trauern um den Schweizer Fotografen Robert Frank, der den Amerikaner ein neues Bild von sich gab. Der Guardian besichtigt Sozialwohnungen in New York, die demnächst 3.600 Dollar Miete im Monat kosten werden. Die FAZ möchte Nike Wagner lieber nicht im Mondschein begegnen. Und trotz #MeToo würde ZeitOnline die Antike nicht abschaffen.

Von der Bühne gefegt

10.09.2019. Die SZ fragt, warum die simbabwische Schriftstellerin und Präsidentenberaterin Petina Gappah das Berliner Literaturfestival eröffnet. Der Guardian taucht in das moralische Universum des Malers William Blake. Standard und Artechock kauen noch am Silbernen Löwe für Roman Polanskis "J'accuse". taz und Tagesspiegel ärgern sich, dass Frank Castorfs Provokationen in der Deutschen Oper tatsächlich aufgehen.

Im Scherbenregen

09.09.2019. Auf ein geteiltes Echo stößt das neue Bauhaus-Museum bei den Kritikern: Die FAZ moniert die steife Vorhangfassade, die SZ freut sich über die grandiose Einladung an die Stadt. Konsterniert reagieren die Kritiker auf den Goldenen Löwen für Todd Phillips' düstere Comichelden-Verfilmung "Joker" in Venedig. In der NZZ attackiert Thomas Schütte die Museen zu riesigen Krematorien, die mit seiner Kunst befeuert würden. Und die Nachtkritik jubelt über Karin Beiers Inszeneirung von Schostakowitschs "Nase" in Hamburg. 

Himmelfahrt für wenig Geld

07.09.2019. Ein Triptychon des Schmerzes sah und hörte die nachtkritik bei der Ruhrtriennale in Kornél Mundruczós "Evolution". Im Tagesspiegel denkt Frank Castorf über die Schönheit des Katholizismus nach. Die Welt erkennt am Fall des Yann Moix, das der uralte Dreyfus-Antisemitismus in Frankreich nie ganz überwunden wurde. Der Tagesspiegel besucht eine Ausstellung chinesischer Medienkunst. Die taz begibt sich mit dem neuen Album von Devendra Banhart in den Tanzbereich zwischen René Magritte und Groucho Marx.

Demagogie der Bilder

06.09.2019. Die FR erliegt in Venedig der Liebe des chinesischen Regisseurs Yonfan für den französischen Schwarzweißfilm. Die NZZ fragt sich, ob Antisemitismus im Literaturbetrieb nur noch verkaufsförderndes Spektaktel ist. Die SZ skizziert die Probleme bei Bewahrung postmoderner Architektur, die der Denkmalschutz selbst schuf. Die FAZ schwärmt von 13 DDR-Malern. Der Standard feiert die Malerin Maria Lassnig. Zeit online hört die Musik eines Untoten.

Im Kapuzenpulli, ohne Make-up, ohne Hairstyling

05.09.2019. Der Tagesspiegel würdigt die biblischen Dimensionen der Maradona-Doku von Asif Kapadia. Die FAZ schlendert durch Ulrike Ottingers Ausstellung "Paris Calligrammes" - eine Hommage an die deutsche Buchhandlung "Calligrammes" in der Pariser Rue du Dragon. Die Welt nennt sechs gute Gründe, warum Rembrandt immer noch absolut modern ist. In der NZZ versichert der Manager Simon M. Ingold: Die Kunst mag im Zeitalter der Digitalisierung an Bedeutung verloren haben, mit der Automatisierung wird sie sie zurückgewinnen. Die Mode- und Fotografenwelt trauert um Peter Lindbergh.

Ich will ja niemanden vollschwafeln

04.09.2019. In der taz setzt Milo Rau eine Revolte der Würde auf den Spielplan für Süditalien. Die New York Times lässt sich im New Museum von Mika Rottenbergs das eigene Energiefeld verändern. In der FAZ verteidigt Michael Haefliger die Schleifung des Lucerne Festivals. Tagesspiegel und Presse sitzen gähnend im zweiten Teil von Stephen Kings "Es"-Verfilmung. Geschickte Kitsch-Tarnung oder vorgetäuschter Tiefgang? Freitag und SZ schwanken zu Wandas Album "Ciao".

Kniebeugen vor dem Altar

03.09.2019. Die SZ erzählt, wie Japans Wutbürger das Stück "Aus Mangel an Meinungsfreiheit" aufführen. Die NZZ findet beim Zürcher Theaterspektakel die Avantgarde am Strand und in der Fußgängerzone. SZ und FAZ berichten vom weichen Fall des französischen Schriftstellers Yann Moix, von dem hochgradig antisemitische Schriften aufgetaucht sind. In Venedig sahen die Kritiker Filme von Costa-Gavras und Steven Soderbergh. Und der Standard fürchtet, dass die Kunst bald nicht mehr die Norm attackiert, sondern die Normverletzung.

Am Ende marodieren Clownshorden

02.09.2019. In Venedig jubeln die Filmkritiker über Joaquin Phoenix als "Joker", der bei ihnen geradezu "Taxi-Driver"-Stimmung aufkommen ließ. Artechock fragt sich allerdings, ob in diesem Film nicht der Bürger ausgeschaltet wird.  In der Welt lernt Manuel Brug, dass man dicke Frauen auf der Bühne ausstellen darf, aber nicht über sie schreiben.  Die Nachtkritik erlebt am Deutschen Theater Politikverdruss erster Güte:  Wie Heiner Müller, nur kürzer. Und die FAZ erinnert daran, wie Claude Monet vor 150 Jahren mit breiten Pinselstrich die Konventionen der schönen Malerei hinwegwischte.