Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Dezember 2021

Ein Gelb, ein Orange, ein Rot, ein Blau

31.12.2021. Die FR bewundert die Kühnheit der Malerin Anna Dorothea Therbusch. Tagesspiegel und nmz amüsieren sich mit einem hinreißenden, Rollenspiele zeitlos entlarvenden "Postillon de Longjumeau" in Erl. Die SZ feiert die Farben, die die Architekten von Sauerbruch Hutton dem neuen Abgeordnetenhaus in Berlin verliehen haben. Die Cinephilie ist auch 2021 nicht gestorben, freut sich Artechok. Die FAZ kniet nieder vor den Appoggiaturen und Gruppetti der Cecilia Bartoli.

Guccis Parolen der Rebellion

30.12.2021. Venedig, wie es niemand kennt, sieht die taz in Andrea Segres Essayfilm "Moleküle der Erinnerung". Die SZ empfiehlt Heinrich Manns Essay "Der Hass", um die Irrationalität und Wut der Impfgegner zu begreifen. Die nmz feiert mit Jacques Offenbach "La Vie Parisienne". Die FAZ besucht Künstler im Libanon, die das Land noch nicht verlassen wollen. Die NZZ porträtiert die mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra.

Der Verlust an Weite

29.12.2021. Die Welt holt einmal tief Luft und taucht ein in die betörende Tierwelt der Marseiller Cosquer-Grotte. Die NZZ erinnert daran, dass der Waffenfabrikant und Kunstsammler Emil Bührle der eitlen Kunstwelt römische Härte entgegensetzen wollte. In der FAZ zeigt sich der Lektor Wolfgang Matz unbeeindruckt von skandalisierenden Enthüllungsgesten gegenüber W.G. Sebald. Und auf ZeitOnline erklärt Georg Seeßlen, wie der Realismus im digitalen Kino unsere Art des Sehens verändert.

Täglich frische Biskuits

28.12.2021. Die NZZ bewundert in der National Gallery, wie offen und einfühlsam sich Albrecht Dürer neuen Welten öffnete. Die FAZ lernt in Versailles die Tiere des Königs zu fürchten. Der Tagesspiegel spürt den Atem der Schauspieler in den Fotografien von Ruth Walz. Die SZ feiert den Aufstieg der Deutschrapperinnen, die jetzt genauso brutal nach unten treten wie ihre männlichen Kollegen.

Erfrischendes Riot-Grrrl-Ethos

27.12.2021. Die Welt lernt von John Neumeier ein bisschen Unerschrockenheit im Sprung und in der politischen Debatte. In der SZ erzählen afghanische KünstlerInnen, wie sie aus Angst vor den Taliban ihre Werke vernichten. Außerdem erklärt die SZ am Beispiel des Kölner Doms die Sensation der Höhe. ZeitOnline rast mit "Don't Look Up" quietschvergnügt der Katastrophe entgegen. Und in der NZZ erinnern sich Musiker, wie sie bei Champagner in Moskau den Untergang der Sowjetunion erlebten.  

Pling! Und noch einmal. Und wieder. Pliiing?

24.12.2021. Joan Didion ist gestorben. Die Feuilletons trauern um die große Reporterin und Essayistin, die mit klirrend kalter Eleganz die psychosoziale Landschaften Amerikas vermaß. Wie die NZZ berichtet, zieht die Künstlerin Miriam Cahn im eskalierenden Streit um die Sammlung Bührle ihre Werke aus dem Kunsthaus Zürich ab. Artechock beobachtet, wie sich Hollywood in einem rasenden Stillstand totläuft. Der Freitag möchte mit der Dramatikerin Ewe Benbenek dem Illegitimen Gehör verschaffen. Und die FAZ hört mit Pedro Estevan und Fahmi Alqhai schon die Glöckchen erklingen.

So ein geschliffenes Schwarz-Weiß

23.12.2021. 179 Minuten dauert Ryūsuke Hamaguchis Verfilmung von Haruki Murakamis Kurzgeschichte "Drive My Car", aber die vergehen wie im Flug, versichert die FR. Viel Lob auch für die "Macbeth"-Verfilmung von Joel Coen: Die SZ fühlt sich wie in einem Albtraum Edward Hoppers. Die Bilder machen glatt Shakespeares Dialogen Konkurrenz, staunt der Standard. Die Welt besucht in Paris eine Ausstellung von Frankreichs heimlichem Staatskünstler Anselm Kiefer. In der NZZ kritisiert die Philologin Melanie Möller Bemühungen, die brutale Fremdheit der "Ilias" heutigen Befindlichkeiten anzupassen.

Das Berliner Elend hat sie nicht interessiert

22.12.2021. Die taz entwirrt in Berlin die kolonialen Verwicklungen der Brücke-Künstler. Die FR geht in Moskau unter Putins Schirmherrschaft mit 5000 Plastikmännchen auf die Straße. Die Filmkritiker atmen auf: Der neue Matrix ist viel besser, als man hoffen durfte, jubelt die FAZ. Im Perlentaucher bricht Marie Luise Knott mit späten Gedichten von Pier Paolo Pasolini zu neuen Welten auf. Und die taz lauscht dem Flüstern und Kreischen der Japanerin Phew auf der anderen Seite des schwarzen Lochs.

Die Entscheidungsbefugnisse und das Intendantengehalt

21.12.2021. Große Trauer herrscht in den Feuilletons über den Tod von Klaus Wagenbach, dem großen Verleger, Kafka-Kenner und linken Hedonisten. In René Polleschs kollektiv geführter Volksbühne gelten nicht mehr die Regeln der Hierarchie, sondern des Clubs, erkennt die SZ: Wer drin ist, ist drin. Als schwarzen Abend mit Goldrand genießen FAZ und Tagesspiegel Wolfgang Rihms und Botho Strauß' Untergangsprophetie "Gebet der Hexe von Endor". Und die Jungle World stellt die Künstlerinnengruppe Erfurt vor.

Fabrik für den Kopf und die Augen

20.12.2021. Wenigsten in den Museen kann man noch Gesichter sehen, seufzt die SZ und huldigt den Porträts der Alten Meister. Die FAZ porträtiert den afghanischen Buchhändler Sher Shah Rahim, der mit einer Hörbuch-App Widerstand gegen die Taliban leistet. In Frage gestellt werden in taz und FAZ Sebald und Sebold. Außerdem trauern die Feuilletons um den Architekturpoeten Richard Rogers, der mit dem Centre Pompidou die Schwere der Welt überwinden wollte.

Ein Wachmacher, duftgewordenes Adrenalin

18.12.2021. Der SZ fällt in Hamburg eine tonnenschwere Last von den Schultern, nachdem das Museum am Rothenbaum die Eigentumsrechte der Benin-Objekte an Nigeria übertragen hat. Der Tagesspiegel blickt im c/o Berlin in geimpfte Wolken. Der Standard feiert das Comeback des Filmmusicals und hält sich mit Bonnie Prince Billy und Bill Callahan am Christbaum fest. Die SZ erfährt von Oxana Tschernyschewa, wie russische Kampfjets riechen. Und die FAZ verabschiedet sich leise vom auf ungarische Literatur spezialisierten Wiener Nischenverlag.

Wink mit dem Türklopfer

17.12.2021. Die FAZ betrachtet in der Hamburger Kunsthalle eine "Klasse Gesellschaft" mit Phallus an der Tür. In der FR erklärt der Performancekünstler Ragnar Kjartansson, warum die Russen "Santa Barbara" so lieben. Die NZZ bestaunt in London die Raumskulpturen des Designers Isamu Noguchi. Auf Artechock wirft Rüdiger Suchsland dem Europäischen Filmpreis vor, Kunst auf ihren politisch-feuilletonistischen Gehalt zu reduzieren. Die SZ denkt über die Kosten sanierungsbedürftiger Opernhäuser nach und versichert: Die sind nicht nur für Reiche.

Ein vollkommen unmögliches Kunstwerk

16.12.2021. Leos Carax' Filmmusical "Annette" trifft die SZ mitten ins Herz. Die Zeit bestaunt das Computerprogramm Wombo Dream, das Wörter wie "zielführendes Beherbergungsverbot" in Bilder übersetzen kann. Die NZZ fordert einen großzügigeren Umgang mit Restitutionsansprüchen bei unmoralisch erworbener Kunst. Mehr britische Opern an deutschen Bühnen wünscht sich nmz anlässlich zweier britischer Operneinakter in Gera. Im Freitag ärgert sich die Schriftstellerin Zoë Beck über die Dominanz der Männer im Literaturbetrieb. Die Welt wünscht sich die Wiederentdeckung von Stefan Heym, dessen stilsichere Machtkritik sie bewundert.

Eine haarsträubende Begegnung

15.12.2021. FAZ und Filmdienst erkunden in Jean Paul Gaultiers Ausstellung "CinéMode" in der Pariser Cinemathèque den schmalen Grat zwischen Kleidung und Verkleidung. Der Guardian blättert im British Museum Hokusais "Großes Bilderbuch von allem" auf. Die SZ berührt, wie nüchtern und ratlos Hakan Savas Micans in "Berlin Kleistpark" von Erfahrungen der Fremdheit erzählt. Der Standard entschwebt verträumt mit Alicia Keys' neuem Album "Keys"

Die sonst so gerechtigkeitssensible Kunstwelt

14.12.2021. Die taz bewundert in der Tate Modern, wie Lubaina Himid in ihren Bildern Strategien für eine gerechtere Gesellschaft entwirft. Museen brauchen die Handlungskompetenz für die Werke, die sie zeigen, fordert die NZZ, das müsse auch auch für private Sammlungen gelten. Die SZ greift die amerikanische Debatte um W.G. Sebald auf, der nach Carole Angiers Biografie schweren Angriffen ausgesetzt sei. Und ZeitOnline lernt von Jasss, sich wieder euphorisch in der Menschenmenge zu verlieren.

Inklusive Moog-Synthesizer

13.12.2021. Jasmila Žbanić gewinnt den Europäischen Filmpreis mit ihrem Srebrenica-Drama "Quo Vadis, Aida?" Der Tagesspiegel gratuliert, hätte aber auch gern die Vielfalt des gerade sehr starken europäischen Kinos gewürdigt gesehen. Leos Carax zum Beispiel, der auf ZeitOnline über sein Musical "Anette" spricht. In Meiningen gab Markus Lüpertz sein Opernregiedebüt mit Puccinis "La Bohème", FR und SZ erleben Oper wie gemalt. In der taz schreibt Diedrich Diederichsen zum Tode des Monkees-Musikers Michael Nesmith.

Die Pythia schweigt

11.12.2021. Die FR würdigt die Musikalität des großen Romanciers Gustave Flaubert. Dass ein Handtuch ein ontologischer Zustand sein kann, lernt Amy Sillman (Artforum) vor den Zeichnungen Cézannes. Die taz empfiehlt die Netflixserie "Der Club", die vom Schicksal der Juden in der Türkei in den fünfziger Jahren erzählt. Die nachtkritik amüsiert sich am BE mit Goldonis "Der Diener zweier Herren" im Wilden Westen.

Kaffee, bitte!

10.12.2021. Die SZ schätzt seine heitere Maliziosität, die FAZ seine Tausendsassahaftigkeit: Sie und andere gratulieren Georg Stefan Troller zum Hundersten. Die taz weiß noch nicht, ob sie sich von einem Servierroboter anmiauen lassen möchte. Die FAZ lauscht klingenden Möbeln von Nevin Aladağ. Ansonsten ist es ein trauriger Dezembermorgen: Die taz trauert um Greg Tate, die FR um Robbie Shakespeare, die NZZ um Lina Wertmüller.

Anna begeistert, aber sie wärmt nicht

09.12.2021. Die Filmkritiker lassen sich von Steven Spielbergs Remake der "West Side Story" mitreißen: maximale Energie-Entfesselung, lobt die taz. Verwegene, kompromisslose Unschuld beeindruckt die FR. Nur die Zeit fühlt sich im Gestern feststecken. Ähnlich erging es einigen Besuchern der Scala, die "Macbeth" und Anna Netrebko ausbuhten. Die FAZ lernt in einer Berliner Ausstellung, dass auch der Iran immer schon Teil der globalen Zivilisation war. Die SZ amüsiert sich mit der "Last Lecture" des "Spott- und Tiermalers" Werner Büttner.

Marc ist überhaupt indiskutabel

08.12.2021. Die SZ begibt sich im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum zwischen die expressionistischen Fronten von Brücke und Blauer Reiter. Der Filmdienst erinnert an die unverschämte Modernität des Schauspielers und Regisseurs Roger Fritz. Hat die Avantgarde eigentlich noch einen Formwillen oder nur noch einen politischen?, fragt die Nachtkritik. Und im ND hört Berthold Seliger in Schostakowitschs sozialistischer Vierten die Granaten krachen.

Hört sich so die Farbe Blau an?

07.12.2021. FR und FAZ feiern mit Rimski-Korsakows Märchenoper "Die Nacht vor Weihnachten" das undramatische Drauflos. Die SZ erlebt im Pariser Musée Marmottan, wie eng die Impressionisten den großbürgerlichen Salons dann doch verbunden waren. In der NZZ attackiert Rainer Moritz Naivität und Geschichtslosigkeit des sensivity readings. Wo ist Friedrich Kittler, wenn man ihn braucht, fragt die taz nach der Meldung, dass Spotify-Gründer Daniel Ek seine Musik-Millionen jetzt in Militärtechnologie investiert.

Das soll ich gewesen sein?

06.12.2021. SZ und Nachtkritik lassen in München schuldbewusst Falk Richters strafende "Heldenplatz"-Inszenierung über sich ergehen. Die FAZ erwartet sich vom neuen, imposanten Moskauer Kulturhaus nicht unbedingt einen größeren Freiraum für die russische Kunst. Im Standard versucht Tex Rubinowitz die frisierten Bilanzen seines Lebens zu lesen. Und die taz lauscht mit den Musikethnologen von FLEE der Musik von Perlentauchern am Persischen Golf.

Archaisch und widerständig

04.12.2021. "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kolonialgeschichte in Deutschland wirklich ein Thema wäre", sagt Abdulrazak Gurnah im Spiegel-Interview. Rechtsextremes Gedankengut ist in Deutschland wieder "salonfähig" geworden, meint indes Falk Richter in der FR. Berlin ist auserzählt, ruft die taz den Literaten zu. Der Tagesspiegel schaut sich in Berlin Liebesbeziehungen in aller Welt an. Die NZZ blickt bang in die politisch korrekte Oper der Zukunft. Emanzipation? Leider unrealistisch, glaubt Markus Lüpertz in der SZ.

Gleichsam semantisch kolonialisiert

03.12.2021. FR und Guardian gratulieren der Belfaster Aktivistengruppe Array Collective zum Turner-Preis. Auch die Schweiz darf die Vergangenheit nicht für beendet erklären, mahnt Raphael Gross in der NZZ. Die Kinos werden dank Impfverweigerern wieder dichtmachen müssen, ärgert sich artechock. Die FR wünscht Frantz Fanon zum sechzigsten Todestag einen gebührenden Platz in der Erinnerungskultur. Die taz kommt mit rumpeligem Indie-Pop von Swansea Sound im Hier und Jetzt an. Und artnews trauert um den Konzeptkunst-Pionier Lawrence Weiner.

Schön ungemütlich

02.12.2021. Die Filmkritiker feiern mit Ridley Scott und Lady Gaga die ganz große Oper im "House of Gucci". Paul Verhoevens Alterswerk "Benedetta" über lesbische Nonnen überzeugt sie zumindest durch den Blick auf Plagen, Pest und Querdenker. Was wäre im deutschen Kino alles möglich gewesen, seufzt critic.de nach Georg Tresslers Horror- und Sexfilm "Sukkubus - Den Teufel im Leib" von 1989. In der Zeit fragt sich Mithu Sanyal: Was würde Simone de Beauvoir zu Transgender sagen? Die FR blickt mit Unbehagen in die ungeklärte Zukunft des Hamburger Bahnhofs. Und VAN spürt die humane Intelligenz des Fühlens im Werk von Peter Eötvös.

Weiß Gott nicht Marcello Mastroianni

01.12.2021. Der Guardian feiert mit der Tate Modern siebzig Jahre britisch-karibischer Kunst. Die Art Review präsentiert ihre Power-100-Liste zu den Machtfiguren in Kunst, Betrieb und Theorie, die SZ sieht hier mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die taz genießt das lässige Können der Blaskapelle Tuba Skinny aus New Orleans, mit der Folksängerin Maria Muldaur ihr neues Album produziert hat. Bei den Filmkritikern weckt "Faking Hitler", die RTL-Version zum Stern-Skandal keine große Begeisterung.