Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Oktober 2022

Der Diskant ist sehr brillant

31.10.2022. Uneins sind sich FR und FAZ, wie ernst man heute noch Sartres "Schmutzigen Hände" nehmen muss. Der Tagesspiegel sorgt sich um das Kiewer Dowschenko-Zentrum, das bedeutendste Filmarchiv der Ukraine. Die taz lernt im Karlsruher ZKM die Kunst der tätigen Muße mit Soun-Gui Kim. Die SZ erzählt, dass alte japanische Handschriften mittlerweile nur noch von KI-Programmen entziffert werden können. In der FAZ entdeckt Robert Levin auf alten Instrumenten Mozarts Humor.

Zeitungen sind sehr hygienisch

29.10.2022. Es geht um mehr als um den Hijab, sagt Shirin Neshat, die im FAS-Gespräch alle Hoffnung auf die Frauen im Iran setzt. Im Standard erklärt die ukrainische Schriftstellerin Natalka Sniadanko, wie Gleichberechtigung auf sowjetische Art funktionierte: Arbeiten ja, aber dabei nicht den Haushalt vernachlässigen. Die Wiener Philharmoniker geben Konzerte in Hongkong und Taiwan - aber zuhause soll es lieber keiner wissen, weiß das VAN Magazin. Frank Castorf inszeniert aktuell in Belgrad, wo er wie eine Gottheit verehrt wird, erfährt die SZ. Und alle trauern um Jerry Lee Lewis, den "Jünger und gottverdammten Teufel", wie die SZ schreibt.

Die Kuhglocke dengelt prägnanter

28.10.2022. In der Welt fürchtet Hermann Parzinger, dass Museen künftig zu Hochsicherheitstrakten werden. Die Jungle World warnt: Kim de l'Horizons "Blutbuch" kann Spuren von Homophobie enthalten. Die SZ blickt mit dem skeptischen Staunen des Magnum-Fotografen Thomas Hoepker auf die USA der Sechziger. Die FAZ wirft einen Blick auf das korrumpierte griechische Theater, die nachtkritik erlebt in Tiflis georgisches Theater auf Identitätssuche. Im Perlentaucher stürzt sich Patrick Holzapfel in den Magmafluss der Bildwelten von Sara Dosas "First Love". Und die SZ experimentiert mit dem von Giles Martin gesäuberten "Revolver" der Beatles.

Es gibt nichts Aufregenderes

27.10.2022. Hollywood hat mit Nicholas Stollers "Bros" seine erste schwule romantische Komödie, die Kritiker sind vergnügt, nur die taz fürchtet: Werden queere Liebesgeschichten jetzt nicht auch trivialisiert? Freitag und taz springen nach der Kritik von Franz Alt und anderen Serhij Zhadan zur Seite: Der Krieg ist keine Modelleisenbahn, erinnert der Freitag. Die SZ rät, unbedingt die Malerin Etel Adnan zu entdecken. Die Angriffe der Klimaaktivisten auf Kunst sind gefährlich für die Demokratie, ruft der Politologe Wolfgang Kraushaar im Tagesspiegel. Die FAZ probiert guten Stoff in Lübeck.

Eine Erschütterung, noch nicht das Ende

26.10.2022. Die taz erlebt mit Mona Hatoum, wie ein Gigant in die Knie geht. Die Zeit porträtiert den Leipziger Künstler Lutz R.Ketscher, der für seine Wandbilder 1.200 Ostmark pro Quadratmeter verdiente.  Die SZ entdeckt mit der Regisseurin Saralisa Volms eine neue Märchenerzählerin im Land. Der Standard beobachtet Jarvis Cocker fasziniert beim Ausmisten seiner Dachkammer.

Lyrischer als erwartet

25.10.2022. Wenn Russen Ukrainer töten, hat das nichts mit russischer Kultur zu tun, sondern höchstens mit Mentalität, erklärt Vladimir Sorokin im Standard. Der Tagesspiegel rät dringend zum Besuch des ukrainischen Filmfestivals in Berlin, das unter anderem Maksym Nakonechnyis Film "Butterfly Vision über eine traumatisierte Drohnenspezialistin zeigt. Nach der Kartoffelbreiatacke auf Monets "Heuschober"in Potsdam warnt die SZ vor einer ästhetischen Überbietungsdynamik. Die Nachtkritik verteidigt die ausgeklügelte Inszenierung gegen den Vorwurf der Kunstfeindlichkeit.

Das Atmen eines Riesen

24.10.2022. Die Feuilletons feiern den Friedenspreis für den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan. In ihrer in der taz abgedruckten Laudatio stellt Sasha Marianna Salzmann klar: Der Dichter sei nicht einfach nur ein Seismograf. Er ist ein Freund. In El País berichtet der Literaturagent Andrew Wylie, dass Salman Rushdie nach dem Attentat auf einem Auge blind bleiben wird. Die FAS bewundert, wie dunkel die Komponistin Hildur Gudnadóttir ein AKW dröhnen lassen kann. Und das Zeitmagazin annonciert die Rückkehr des Grunge in der Mode. 

Heillose Verlorenheit im Genie-Irrsinn

22.10.2022. Anrüchig findet die SZ den Auftritt von Kim de l'Horizon, der die Aufmerksamkeit für die Frauen im Iran einfach absorbierte. Putin arbeitete zwanzig Jahre lang auf den totalen Faschismus hin, nun hat er ihn, sagt der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow in der NZZ. Die Kritiker liegen "Theatermacher" Stefanie Reinsperger zu Füßen, die so herrlich dampft und dröhnt. Die FAZ schaut in Oberhausen ein wenig wehmütig auf Otfried Preußlers alte kleine Hexe. SZ und Standard hätten Taylor Swifts verschmiertes neues Album offenbar lieber verschlafen.

Wachsende Kraftschwäche

21.10.2022. FAZ und Tagesspiegel blicken skeptisch auf Cédric Jimenez' Versuch, mit "November" die Pariser Anschläge von 2015 als Action-Thriller zu inszenieren. Die Nachtkritik erlebt mit Stefanie Reinsperger als Thomas Bernhards "Theatermacher" zwei Stunden Volldampf-Virtuosität. Die Berliner Zeitung wünschte sich, der Kunstkompass würde nicht immer nach Norden zeigen. In der SZ erzählt die Übersetzerin Gabriele Leupold, wie sie Platonow Wort für Wort ins Deutsche bürstete. Und die taz porträtiert Joseph Ousmane Togbe, der den einzigen Plattenladen in Benin betreibt.

Jelinek oder Bernhard

20.10.2022. In der Zeit erkundet Serhij Zhadan, wie ein Mensch auf die Welt blickt, der eine Waffe in der Hand hält. In der Zeit stellt Stefanie Reinsperger auch die Grundsatzfrage. Die SZ erlebt am Schauspiel Hannover Identitätspolitik als intriganten Statuskampf. Die FAZ wirft der Stiftung Bauakadamie vor, im ökologischen Gewand nur reinen Lobbyismus für die Architektenszene zu betreiben. Im Van Magazin erklärt der Hornist Ulrich Haider, warum es sich ein Orchester nicht leisten kann, mit der Bahn zu fahren.

Herbstliche Welt der langen Schatten

19.10.2022. Der Buchpreis für Kim de l'Horizon erregt die Gemüter. taz und ZeitOnline verteidigen ihn literarisch gegen den Vorwurf, hier werde vor allem Queerness ausgezeichnet. Die FAZ widerspricht allerdings, wenn l'Horizon seine Erfahrungen mit denen der Frauen im Iran gleichsetzt. Außerdem: Die Berliner Zeitung bangt vor Christian Thielemann als möglichem Nachfolger von Daniel Barenboim. Der Guardian sieht über dem Turner Prize einen Pfirsich auf- und eine flambierte Tomate untergehen.

Suppe essen, zuschauen und zuhören

18.10.2022. Der Buchpreis für Kim de L'Horizon bescherte dem Literaturbetrieb einen seltenen glamourösen Moment. Nicht alle sind von seinem aktivistischen Auftritt überzeugt, Tsp und SZ war er etwas überdeutlich, aber die Welt ist hingerissen von so viel Rimbaud-haftem Willen zum absolten Modernsein. FR und taz bereiten auch auf die morgen beginnende Buchmesse vor, die den Krieg in der Literatur wird verhandeln müssen. iIn der FAZ beschreibt Oleksandr Mykhed, wie Russlands Kriegsführung in Terror ausartet. Die SZ lernt mit Anne Lenk und Lessing, lachend ernst zu sein.

Wo etwas zu holen ist

17.10.2022. Der ukrainische Dirigent Jurij Kerpatenko ist in Cherson von russischen Soldaten erschossen worden, melden FAZ und Tagesspiegel erschüttert, weil er nicht für sie spielen wollte. Die taz erschauert mit Clemens Setz in Stuttgart unter dem pornoiden Blick. Die NZZ wünschte sich ein deutschsprachiges Theater, dass auch mal nachdenklich und kleinlaut werden könnte. Die SZ besichtigt das revidierte Emil-Nolde-Museum in Seebüll. In der FAZ setzt Verleger Lothar Schirmer seine Hoffnung für die Fotografie auf die Fräuleins aus dem Westen.

Funk in typisch persischer 9/8-Rhythmik

15.10.2022. Die FAZ und Dlf Kultur stellen neue Literatur aus Spanien vor, dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Wer lernen will, wie man immer wieder seine Überzeugungen überprüft, lese Camus, empfiehlt die SZ. Die Berliner Zeitung geißelt die westdeutsche Verfilmung von DDR-Geschichte als kulturelle Aneignung. Die taz erinnert an die iranische Musik der Sechziger und Siebziger, die von Frauen geprägt war.

Weiterführung der Linien

14.10.2022. Die FAZ taucht ein in Iris, Veilchen, Mohn, Chrysanthemen und Rosen und verliert sich schließlich im türkisfarbenen Himmel des Palazzo Massimo. Im Standard schießt Regisseur Ruben Östlund gegen das Arthouse-Kino. Der Filmfilter findet das gut so und freut sich, dass der Regisseur seine Figuren so richtig von Herzen fertigmacht. Grusel entsteht auf der Tonspur, lernt die taz in  Lucile Hadžihalilovics Horrorfilm "Earwig". Die SZ besucht einen Pavillon des Kommunisten Oscar Niemeyer auf einem Luxusweingut in der Provence.

Ich urteile nicht. Niemals

13.10.2022. Die NZZ stellt den Schweizer Filmdebütanten Valentin Merz und sein Kino der Improvisation vor. Die FR blickt in der Schirn auf das reale indische Leben in den Fotografien von Gauri Gill. Der Tagesspiegel freundet sich in einer Sempé-Ausstellung mit einer Gruppe Handwerker an. Annie Ernaux versteht ihre Literatur selbst als politisch, erinnert die Zeit. An der Berliner Staatsoper können sich Zeit und NZZ ganz gut Christian Thielemann als Nachfolger Barenboims vorstellen. Die SZ besucht das Kabukiza von Ginza. Die taz hört Mutter.

Im trockenen Wind

12.10.2022. Die SZ verfolgt fasziniert, wie Ruben Östlund in seinem palmenprämierten Film "Triangle of Sadness" eine  Luxusyacht auf den Schmerzpunkt der Gegenwart zudonnern lässt. Die FAZ fühlt sich dagegen zum Lachen erpresst. Der Guardian lauscht der Melodie der Zerstörung, die Cecilia Vicuña in der Tate Modern anstimmt. Die FAZ lässt sich von Irene Vallejo den epischen Kampf zwischen Wissen und Macht erzählen. ZeitOnline bewundert die paradoxe Ästhetik des Rappers Ka

Kraft, Kraft und Kraft

11.10.2022. Zum Abschluss der "Ring"-Inszenierung an der Berliner Staatsoper lassen sich die Kritiker von Christian Thielemann in paradiesische Höhen leiten. Die SZ pocht darauf, dass gutes Stadttheater anders funktionieren muss als ein Rechtsrock-Konzert. Welt und FAZ würden gern mit Annie Ernaux über ihre Kritik am Staats Israel diskutieren, ihr Werk und den Nobelpreis sehen sie aber nicht beeinträchtigt. Für die NZZ geht die Geschichtsklitterung in Gina Prince-Bythewoods Historienspektakel "The Woman King" in Ordnung.

Der Geschmack seiner glühenden Orangen

10.10.2022. Der Observer spürt in der Tate Modern dem Zauber Cézannes nach, der Farbe in Frucht verwandelte. Die Filmemacherin Aelrun Goettle erinnert an die schräge Buntheit, die sich vor dem Grauzonen der DDR ebenfalls prächtig abhob. Die Nachtkritik revoltiert in Dortmund mit Sibylle Berg gegen Digitalität und Diktatur. Tagesspiegel und SZ lassen sich die Begeisterung für Annie Ernaux auch durch ihre antiisraelischen Äußerungen nicht nehmen, die FR bekundet alelrdings ihre Enttäuschung.

Grübeleien über den Zustand der Welt

08.10.2022. Die FAZ blickt an Tag zwei nach dem Literaturnobelpreis doch mal näher auf Annie Ernauxs politisches Engagement für das Kopftuch und den BDS. In der NZZ fürchtet sich Daniel Kehlmann vor der Zukunft. Auch die Welt fürchtet sich: Vor dem konservativen Backlash, der jetzt auch Polens Museen erreicht. Der Guardian feiert mit Soheila Sokhanvari in London die Großmütter der aktuellen Proteste im Iran. In der FAZ erzählt Thomas von Steinaecker von den Herausforderungen, einen Film über Werner Herzog zu drehen. "Popmusik muss kein Bundespräsident sein", lernt die Zeit von den Nerven.

Etwas quälend Radikales

07.10.2022. In den Zeitungen herrscht einhellige Zufriedenheit mit dem Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Ausgezeichnet wird eine feministische Ikone der ersten Stunde, meint die FAZ, der Preis geht dieses Jahr an das "Schäbige, das Eiskalte, das scharf Blutende", freut sich die taz. NZZ und FAZ sind zudem glücklich, dass das Komitee keine politische Entscheidung getroffen hat. Außerdem: Museen werden heute als "Raubritterburgen" betrachtet, in denen Inklusion die Exklusion abgelöst hat, klagt die SZ. Die FAZ erkundet mit Ana Lily Amirpours "Mona Lisa and the Blood Moon" die Wirklichkeit.

Die Referenzen sind mörderisch

06.10.2022. Wer wird heute den Literatur-Nobelpreis erhalten? Das Komitee winkt auf Twitter schon mal mit dem Zaunpfahl. Der Tagesspiegel schaut in der Hamburger Kunsthalle auf den Atem. Die "weißen Boomer" sind schuld, dass die Jugend so woke ist, befindet die Dramaturgin Sabine Reich in der nachtkritik. Teodor Currentzis hat nie eine weltanschauliche Affinität zum russischen Regime erkennen lassen, insistiert das Van-Magazin, der Tagesspiegel widerspricht. Und nach dem Tod Godards verabschieden die Zeitungen mit Wolfgang Kohlhaase ein weiteres "wichtiges Kapitel der Nachkriegsfilmgeschichte".

Ein Crêpe-Stoff wird zur Baumrinde

05.10.2022. Die taz lernt in Paris, die surrealistischen Täuschungsmnöver der Modeschöpferin Elsa Schiaparelli zu bewundern. FAZ und Berliner Zeitung verfolgen Berlin weiter, wie Dimitri Tcherniakov Wagner die Poesie austreibt. Der Standard  erzählt von Philippe Jordans schrillem Abgang von der Wiener Staatsoper. Die SZ blickt mit Ulrich Seidl in "Rimini" auf das Elend eines abgehalfterten Schlagerstars. Trauer herrscht über den Tod der Countrysängerin Loretta Lynn

Grandios, wie das Orchester atmet

04.10.2022. Die FAZ macht das narzisstische, ästhetisch beliebige Aktivistentheater für den Publikumsschwund verantwortlich. SZ und Tagesspiegel fliegen derweil auf dem Zauberklangteppich davon, den Christian Thielemann beim "Rheingold" in Berlin vor ihnen ausbreitet. Georg Baselitz fragt laut SZ, was Adolf Zieglers NS-Schinken in der Münchner Pinakothek neben Picasso verloren hat. Die NZZ schwelgt in Begeisterung für Gabriele D'Annunzio.  In Profil spricht Regisseur Ulrich Seidl über die Dreharbeiten zu seinem Film "Sparta", für die ihn der Spiegel beinahe in Verruf gebracht hätte.   

Neuter ist das einzige Geschlecht

01.10.2022. Im Van Magazin ist die Komponistin Niloufar Nourbakhsh erleichtert, dass die Demonstrantinnen im Iran auch von Männern verteidigt werden. In Simbabwe wurden die Autorin Tsitsi Dangarembga und die Journalistin Julie Barnes zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, weil sie bei einer friedlichen Demonstration Reformen gefordert hatte, berichtet Intellectures. Der Tagesspiegel freut sich über eine Compilation mit Soul und Funk aus dem Fundus des DDR-Labels Amiga. taz und SZ entdecken mit Begeisterung an den Münchner Kammerspielen die genderfluide Surrealistin Claude Cahun. Die FAZ freut sich über die späte Würdigung der Malerin Martha Jungwirth in der Kunsthalle Düsseldorfer.