9punkt - Die Debattenrundschau

Gebeine en gros

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2022. Wer jetzt Verständnis für Russland einfordert, verkennt, wer das Land in den Abgrund gerissen hat, antwortet Gerd Koenen in der FAZ auf Eugen Ruge. Während Elon Musk Twitter schleift, wird auch Mark Zuckerberg Tausende in seinem Meta-Konzern feuern, meldet das Wall Street Journal. Der SZ ist unwohl mit der Rhetorik der "Letzten Generation". Im Iran geht der Kampf gegen Kopfbedeckungen aller Art weiter, zeigen uns Twitter-Videos.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.11.2022 finden Sie hier

Europa

Einen "nützlichen Völkerhass" gegen Russland, wie Eugen Ruge ihn vor vier Tagen in der FAZ dem Westen vorwarf (unser Resümee), könne er nicht entdecken, antwortet heute der Historiker Gerd Koenen, ebenfalls in der FAZ. Völkerhass produziere im Augenblick nur Russland: Oder wo gibt es in westllichen Medien "irgendeine Parallele für die kranken Gedankenspiele des RT-Moderators Anton Krassowski, dass man ukrainische Kinder, die russisch sprechen, aber die russischen Befreier als moskowitische Unterdrücker bezeichnen, ertränken oder verbrennen sollte?" Die Verteidigung Russlands findet Koenen aber auch kontraproduktiv, will man Russen schützen: "Wie kann, wer Russland wohlwill, derart verkennen, dass es doch Putin und seine Machtoligarchen sind, die durch diesen irrsinnigen, von mörderischen völkischen Ideologemen befeuerten Eroberungs- und Versklavungskrieg gegen die Ukraine auch ihr eigenes Land mit in den Abgrund reißen? Wieso fehlt jede Empörung darüber, wie dieses Regime seine zwangsrekrutierten Soldaten in sinnlosen Schlachten verheizt".

Die Schweden verzichten mit einem Nato-Beitritt auf ihre Neutralität und damit auf einen wichtigen Teil ihres Selbstbildes, schreibt Richard Swartz in der NZZ. Das schmerzt. Und jetzt regieren in dem traditionell sozialdemokratischen Land indirekt auch noch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten mit, ohne aber Regierungsverantwortung übernehmen zu müssen. Wie konnte es so weit kommen und vor allem - so plötzlich? "Die Welt ist größer geworden, Schweden folglich kleiner, selbstbezogener und provinzieller. Wir sind nicht mehr so reich wie damals: Der Rest der Welt fragt unsere Waren und Dienstleistungen nicht mehr so stark nach. Wir können uns die frühere Offenheit nicht mehr leisten, vor allem können wir nicht mehr von der Kanzel herab als Weltgewissen auftreten. Wir bewegen uns schlicht und einfach auf das zu, was wir sind, eine Provinz mit knapp elf Millionen Einwohnern am Rand Europas, ein ziemlich unbedeutender Teil eines Kontinents, der selbst seit langem eine immer geringere Rolle in der Welt spielt, ohne es sich anmerken lassen zu wollen."

Das deutsche Parlament droht angesichts politischer Entwicklungen zum "Bundestag der 1.000" zu werden, falls sich die Parteien nicht auf eine Reform des deutschen Wahlsystems einigen. Die Reform ist entscheidend, weil sonst die Legitimität der Institution entscheidend beschädigt werden kann, schreiben die Professoren Florian Grotz und Robert Vehrkamp auf der "Gegenwart"-Seite der FAZ. Man will eine "Normgröße von 598 Abgeordneten"  erreichen. Der Artikel liest sich höchst komplex, aber die beiden Professoren versichern, dass es einen echten Willen der Parteien gibt, den Bundestag zu verkleinern. Sie neigen dabei der "verbundenen Mehrheitsregel" zu, die von den Parteien der Ampelkoalition vorgeschlagen wird: "Die verbundene Mehrheitsregel führt die geschilderte Grundlogik der personalisierten Verhältniswahl konsequent zu Ende, indem sie die proportionale Zweitstimmendeckung für alle Parteien zur Voraussetzung für die Vergabe von Wahlkreismandaten macht. Erst innerhalb dieser proporzbasierten Direktmandatskontingente entscheidet die relative Mehrheitsregel, welche Kandidaten in den Bundestag einziehen. Auf diese Weise können keine Überhangmandate mehr entstehen, die nach der Logik der personalisierten Verhältniswahl ein 'Fremdkörper' sind, weil ihnen die Legitimation aus dem Zweitstimmenergebnis fehlt."
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Gesellschaft

Bei aller Liebe fürs Klima, in der SZ ist Philipp Bovermann doch ziemlich abgestoßen von der Rhetorik, mit der Klimaaktivisten auf den Tod einer Radfahrerin reagierten, nachdem ein Bergungsfahrzeug im Stau steckengeblieben war: "Anstatt einfach mal innezuhalten, weil da jemand gestorben ist, anstatt Entsetzen und Bedauern zu äußern und dann full stop, veröffentlichte die Gruppe eine Erklärung, in der sie sich über 'eine Welle der Vorwürfe, Unwahrheiten und Hetze' beschwerte. ... Über das Schicksal der 'Letzten Generation' wird wohl entscheiden, ob sie sich einen Rest von Empathie für die Menschen bewahrt, die sie aufrütteln, warnen und, ja, retten will. Denn ein Protest, der einzig seine eigene Radikalität thematisiert (Seht her, wozu eure Untätigkeit uns getrieben hat!), ist nichts mehr als eine öffentliche Beschäftigung der Bewegung mit sich selbst."

Das Recht auf Cannabis wird dem Stoff nebenbei die letzte Poesie nehmen, und das ist auch richtig so, schreibt Claudius Seidl im Aufmacher des FAZ-Feuilletons: "Verbote helfen nicht, das haben ja die Jahre des Verbots gezeigt. Sich einzureden, dass der Stoff, bloß weil er demnächst erlaubt sein wird, deshalb auch harmlos sei, wäre fast genauso verkehrt. Und im Grunde muss in dem Moment, da Cannabis integriert ist, die Desintegration schon beginnen: Auch das Rauchen ist erlaubt, wenn auch nicht überall; aber dass es schädlich ist, ein Zeichen von Schwäche eher als von Verwegenheit, ein Laster, auf das man nicht auch noch stolz sein sollte - das ist heute jedem Raucher bewusst."
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Internet

Während Elon Musk Tausende Twitter-Angestellte feuert und die Werbetreibenden die Plattform in Scharen verlassen, meldet das Wall Street Journal (ausnahmsweise mal online), dass Mark Zuckerberg in seinem Meta-Konzern aus Facebook und Instagram ebenfalls große Entlassungen plant: "Es wird erwartet, dass die Entlassungen mehrere Tausend Mitarbeiter betreffen werden, und eine Ankündigung soll bereits am Mittwoch erfolgen, heißt es. Meta hatte Ende September mehr als 87.000 Mitarbeiter. Das Unternehmen hat seine Mitarbeiter bereits aufgefordert, nicht unbedingt notwendige Reisen ab dieser Woche zu stornieren, hieß es." Über Twitter wird inzwischen etwa von Bloomberg gemeldet, dass Musk einige ehemalige Angestellte schon wieder bekniet zurückzukommen.
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Geschichte

Der Krieg war schon immer ein finsteres Geschäft. Der Wiener Historiker Florian Wenninger erzählt in einem Twitter-Thread, wie mit den Leichen verfahren wurde, die bei der Schlacht von Waterloo liegen blieben, die 20.000 Opfer gefordert hatte. Zähne von Gefallenen wurden etwa ausgebrochen, in Gebisse montiert und teuer verkauft. "In den Wochen nach der Schlacht wurden die Toten zusammen gesammelt und in Massengräbern verscharrt. Das Merkwürdige: in besagten Massengräbern wurden später ganze zwei Skelette gefunden. Von 20.000. Was war mit den restlichen Toten geschehen? In den 1830ern explodierten die Preise für Knochenmehl, das als phosphatreicher Dünger auf den Feldern ausgebracht wurde. Knochenmühlen kauften Gebeine en gros auf und stellten keine Fragen. Schon länger nimmt man also an, dass ein Gutteil der Toten zu Dünger verarbeitet wurde."
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Politik

Alltagsszenen aus Teheran und anderen iranischen Städten:

Aber auch andere Kopfbedeckungen sollen fallen.

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Medien

Tom Buhrows Rede über die Öffentlich-Rechtlichen hat trotz inhaltlicher Defizite (unsere Resümees) zumindest in den Sendern selbst ganz schön für Aufregung gesorgt. turi2 zitiert den ehemaligen ARD-Vorsitzenden Jobst Plog, der in einem Medienmagazin des RBB sagte: "Der Inhalt hat mich überrascht, weil man während seiner gesamten Amtszeit als ARD-Vorsitzender überhaupt nicht erkennen konnte, dass an einem Konzept gearbeitet wurde für die ARD."

turi2 berichtet auch über die jüngste Folge von Jan Böhmermanns Sendung "ZDF Magazin Royale" Böhmermann kritisiert die üppigen Intendanten-Zahlungen sowie die 'miesen Arbeitsbedingungen' von freien Mitarbeitenden - und mahnt eine Reform von ARD und ZDF an: 'Nur weil es politisch motivierte Kampagnen von Rechtspopulisten im Bundestag oder im Axel Springer Verlag gibt, heißt das nicht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht dringend reformiert werden müsste.' Er könne die 'Systemerhaltungs-Reflexe' nicht mehr ertragen, sagt er 'ganz privat' - und meint damit 'diesen Struktur-Fetischismus, bei dem am Ende nichts rauskommt, außer massenweise verschlissene und frustrierte Talente, die zum fucking Privatfernsehen gehen'.
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