9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas zu viel an Beständigkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2022. Gestern dominierte der Kampf um die Wahrheit, heute der Kampf um die richtige Interpretation. Reicht Frank-Walter Steinmeiers Schuldeingeständnis aus? Nein, meinen Thomas Schmid in der Welt und Lenz Jacobsen in Zeit online, denn er war geradezu das Emblem der deutschen Russland-Politik. In der NZZ prangert Szczepan Twardoch die Arroganz westliche Intellektueller gegenüber Osteuropa an. Die Ruhrbarone erzählen die Geschichte des großen Holocaust-Historikers Boris Zabarko, der einst den Deutschen entkam, und nun vor der russischen Aggression nach Deutschland flüchtete.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2022 finden Sie hier

Europa

So einfach - mit ein paar entschuldigenden Worten zu seiner Russland-Politik in einem Interview (unser Resümee) - will Thomas Schmid in der Welt Frank-Walter Steinmeier nicht davonkommen lassen. Steinmeier war immerhin mitverantwortlich für 25 Jahre deutsche Außenpolitik: "Nicht, dass Steinmeier hätte wissen können, was kommen würde. Er hätte aber entschieden kritischer und misstrauischer sein können und müssen. ... Es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn man den Bundespräsidenten für seine ständigen Demokratie-Ermunterungs-Reden belohnen und über sein Schweigen zu den Fehlern der deutschen Russlandpolitik den Mantel gnädiger Schweigemilde hüllen würde. Seit den neunziger Jahren ist Steinmeier politisch immer dabei, er verantwortet die Fehler der deutschen Russlandpolitik mit, ist nahezu deren Emblem. Bliebe das einfach stehen, würde dies dem Diskurs und der Demokratie ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Steinmeier wäre dann einer, der es stellvertretend für alle versteht, immer oben zu schwimmen. Wie ein Tischtennisball. Das wäre doch etwas zu viel an Beständigkeit. Denn diese würde dann tatsächlich an jene ungute personelle Kontinuität erinnern, die ein schlechtes Markenzeichen der Bundesrepublik der späten vierziger und der fünfziger Jahre gewesen ist."

Er habe sich geirrt, "wie andere auch", hatte Steinmeier gesagt. Aber er ist nicht wie andere auch, meint Lenz Jacobsen auf Zeit online. "Er hatte den Apparat, die Ressourcen und die Verantwortung, es besser zu wissen als andere. ... Der Präsident kann seine besondere Verantwortung jetzt nicht im Ozean des allgemeinen deutschen Irrtums auflösen. Zum anderen zeigt Steinmeiers Nebensatz, was den deutschen Kurswechsel in der Russland-Politik, was auch die Aufarbeitung der Fehler der vergangenen Jahre so schwer macht: Es waren so viele selbst auf Steinmeier-Linie, dass sie nun schlecht als Ankläger und Reformer taugen. Das gilt insbesondere für die SPD, wo kaum jemand glaubhaft machen kann, für einen Neuanfang im Umgang mit Russland zu stehen. Das gilt aber auch für andere Profis der politischen Öffentlichkeit, für Talkshow-Stammgäste und für Redaktionen, die bis auf Ausnahmen (oft die Korrespondenten) den Putin-freundlichen Kurs aus heutiger Sicht zu oft freundlich begleitet haben. Zeit online hat Putin im Juni 2021 den Platz für einen Gastbeitrag eingeräumt, in dem er unter anderem behauptete, der Westen 'unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine' 2014."

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch findet es in der NZZ schwer zu ertragen, mit welcher Herablassung westeuropäische Intellektuelle oft auf die Gesellschaften Osteuropas blicken, allen voran Naomi Klein, Noam Chomsky, Phyllis Bennis und Branko Marcetic vom Jacobin. Nach deren Ansicht handelt Russland, "wenn es Mariupol dem Erdboden gleichmacht, Krankenhäuser, Theater und andere zivile Ziele bombardiert, aus 'Sorge um die eigene Sicherheit'. Die Angst der Menschen, die sich in den Kellern von Mariupol versteckten, zählt nicht, sie ist nicht die Angst von jemandem, der in den Augen der erwähnten Intellektuellen über sein eigenes Schicksal befinden dürfte. Mehr noch, die erwähnten Intellektuellen sind geneigt, die Ukraine so zu behandeln, wie patriarchale Gesellschaften es mit Gewaltopfern tun: Irgendwie müssen die ja auch selbst dran schuld sein. Warum hat die Ukraine es so provozierend abgelehnt, russische Einflusssphäre zu bleiben? Wozu hat sie Russland herausgefordert?" Darum hat Twardoch eine Bitte: "Da ihr nichts versteht, ist es höchste Zeit, dass ihr in Fragen Russlands und Osteuropas einfach einmal die Klappe haltet. Punkt."

Filmregisseurin Jasmila Žbanić fühlt sich bei der Ukraine oft an die Reaktionen auf die Jugoslawienkriege in den Neunzigern erinnert. Auch da wollten die Europäer oft nicht hingucken, erklärt sie im Interview mit dem Tagesspiegel: "Schon im März waren Barrikaden aufgebaut worden waren. Doch noch Anfang April glaubten wir nicht, dass es Krieg in Bosnien und Herzegowina geben würde. Die Bevölkerung hier war so gemischt, dass es einfach unvorstellbar war, dass die Leute aufeinander schießen würden. Als der Krieg dann tatsächlich begann, dachten wir, er würde nicht lang dauern. Im Falle der Ukraine gab es diese Fehleinschätzungen auch. Der große Unterschied ist, dass es uns aufgrund des Waffenembargos nicht erlaubt war, uns zu verteidigen. Die im Dienste der serbischen Regierung stehende Jugoslawische Volksarmee - damals eine der stärksten Truppen Europas - griff eine völlig unbewaffnete Bevölkerung an." Gerettet hätten sie am Ende die Amerikaner, erinnert sie, nicht die Europäer.

Der Gewerkschafter Michael Vassiliadis warnt im Gespräch mit Hannes Koch  von der taz vor den wirtschaftlichen Folgen eines Gasembargos. Es gehe nicht nur um Arbeitsplätze: "Wer das Problem auf diese Frage verkürzt, unterschätzt die Bedeutung von Gas in der Wertschöpfungskette. Die Grundstoffindustrie als größte Gasverbraucherin ist quasi die Mutter fast aller industriellen Produkte. Ihre Vorprodukte werden in weiteren Fertigungsstufen zu Dünger, Medikamenten, Bau- und Kunststoffen, Textilien oder Fahrzeugen weiterverarbeitet. Letztlich hängt auch ein Teil der Lebensmittelproduktion davon ab. Allein die Industrie beschäftigt mehr als acht Millionen Menschen."

Anastasia Magasowa  konnte in einem Pressetross der ukrainischen Regierung Butscha besuchen. Sie spricht für die taz unter anderem mit dem Totengräber Sergei, der ein wichtiger Zeuge sein dürfte (er wird auch in anderen Medienberichten zitiert): "Insgesamt, so sagt es Sergei, hätten sie schon um die dreihundert Leichen von Zivilisten geborgen. Er schätzt, dass etwa 30 Prozent davon Frauen und Kinder waren. 'Am schwierigsten, aber auch am schrecklichsten war das natürlich unter Beschuss. Wir haben die Leichen eingesammelt, aber konnten sie nicht normal bestatten, darum haben wir sie in Massengräbern beigesetzt', erinnert sich der Totengräber. Er meint auch, dass nach den Vorfällen in Butscha niemand von den Anwohnern mehr zulassen werde, dass die russischen Soldaten noch einmal zurückkehren. Gleichzeitig räumt er ein, dass noch viel Arbeit vor ihm liegt. 'Wir kennen schon die Orte, an denen wir suchen müssen. Wir werden noch sehr viele Leichen finden.'

Russland schafft sich gerade als Kulturnation ab, schreibt Sonja Margolina in der NZZ. "Die 'Heim ins Reich'-Holung der abtrünnigen Ukrainer bewirkt im Ergebnis das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war: nämlich die Entwertung und Ächtung der 'russischen Welt' als Folge einer kollektiven moralisch-psychologischen Reaktion der ganzen zivilisierten Menschheit. Dabei spielt es keine Rolle, dass es Hunderttausende von Russen oder Russischsprachigen in und außerhalb Russlands gibt, die über den Krieg gegen die Ukraine entsetzt sind oder sogar das Risiko eingehen, dagegen zu protestieren."

Alexej Nawalny schildert in einem Twitter-Thread, wie sich die Berichterstattung zu Butscha in den russischen Staatsmedien ausnimmt, den einzigen, die er konsumieren kann: "Politik ist eine Propagandaschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Propagandisten schaffen eine öffentliche Meinung, die es Putin nicht mehr nur erlaubt, Kriegsverbrechen zu begehen, sondern sie von ihm verlangt."


Wie widersprüchlich diese "Propagandaschlange" ist, schildert auch FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt, der sich die russische Kommunikation zu Butscha angesehen hat: "Einerseits legen das Außenministerium, das Verteidigungsministerium und das Staatsfernsehen dar, es handele sich um eine 'Inszenierung' mit 'Schauspielern'. Zugleich gehen dieselben Stellen von echten Leichnamen aus, die allerdings 'nicht steif' gewesen seien."

Ist ein Friedensschluss im Moment denkbar? New-York-Times-Kolumnist Bret Stephens hat Zweifel: "Er würde die meisten der russischen Gebietsgewinne in diesem Krieg konsolidieren. Er würde den russischen Streitkräften erlauben, ihre ukrainischen Untertanen weiter zu terrorisieren. Er würde Putin die Möglichkeit geben, sich vor seinem heimischen Publikum als Sieger zu präsentieren. Und er würde ihm die Möglichkeit geben, den Konflikt zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen - eine exakte Wiederholung dessen, was nach Russlands erstem Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2014 geschah."

Richard Herzinger findet die Frage des Embargos inzwischen nicht mehr so wichtig: "Darüber, ob die Massenmördertruppen des Kreml weitere Massaker an ukrainischen Zivilisten verüben und ihr Programm der Ausrottung der ukrainischen Nation weiter verfolgen können, wird ausschließlich auf dem Schlachtfeld entschieden - und zwar jetzt."

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"Geordnete Machtwechsel zwischen linken und rechten Mehrheiten" sind in Frankreich durch die Schwächung der traditionellen Linken und Rechten nicht mehr möglich, schreibt FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel zu den bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahlen. Als wahrscheinlich gilt für die zweite Runde ein Duell zwischen Emmanuel Macron und der Rechtspopulistin Marine Le Pen, die sich allein durch ihre Voschlag, Frankreich aus den Nato-Strukturen zurückzuziehen, als russisches U-Boot entpuppt: "Französische Soldaten könnten dann nicht länger unter Nato-Befehl zur Sicherung der Ostflanke eingesetzt werden. Auch wenn die Bündnis- und Beistandspflichten für das Nato-Gründungsmitglied Frankreich weiter gelten, wäre dies das Ende gemeinsamer europäischer Verteidigungsanstrengungen. Trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine strebt Le Pen eine 'Allianz mit Russland' an." Ein anderer Putin-Sympathisant ist der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der sich auch Chancen für die zweite Runde der Wahlen ausrechnet und den Wiegel heute auch porträtiert.

Charlie Hebdo kommentiert das Verhältnis Putin-Le Pen wie folgt:



Außerdem: Tayyip Erdogan inszeniert sich als Vermittler zwischen Russland und Ukraine, und die Türken danken es ihm durch verbesserte Umfrageergebnisse, notiert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne.
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Ideen

Was hat es mit dem deutschen "Nie wieder" auf sich, das den verbrecherischen Charakter des Putin-Regimes jahrzehntelang mit dem milden Schleier der Versöhnung überdeckte, unter dem auch die Geschäfte blühten, fragt der in Deutschland lebende Journalist Jeremy Cliffe im New Statesman. Für Cliffe macht nun die Seite der linken Holocaust-Relativierer um Dirk Moses einen Punkt:  "In jüngster Zeit haben Historiker … darauf hingewiesen, dass die Abgrenzung des Holocaust als losgelöstes, einzigartiges Objekt der Zerknirschung die Gefahr birgt, andere schreckliche Verbrechen in anderen Zeiten und an anderen Orten zu schmälern. In einem provokanten Essay in der liberalen Wochenzeitung Die Zeit forderten die Historiker Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg letztes Jahr ihre Landsleute auf: ''Schluss mit dem Tabu des Vergleichs!' (…) Ihr Aufruf war und ist willkommen, vor allem im Lichte der jüngsten Ereignisse in der Ukraine." Ähm, gibt es denn Hinweise, dass die Postkolonialisten sich je für etwas anderes als die Schuld des Westens interessierten?

Anders akzentuiert Marcus Welsch bei den Salonkolumnisten: Das Irritierende ist die Kontinuität des deutschen Versagens, schreibt er. "Der deutsche Sonderweg, der ein besonders nachgiebiges Verhältnis zu Russland propagierte, erschien schon vor 1989 unseren Nachbarn verdächtig. Ausgerechnet in Deutschland tat man sich auch auffallend schwer mit den emanzipatorischen demokratischen Bewegungen der Länder, die zwischen der Achse Moskau-Berlin lagen. Insbesondere im altlinken und sozialdemokratischen Spektrum war man beseelt von einem guten Verhältnis mit den Machthabern im Kreml."
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Geschichte

Boris Zabarko, Historiker des Holocaust, entkam als Kind den Deutschen und ist nun vor den Russen nach Deutschland geflüchtet, erzählt Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen. Zabarko ist Autor des monumentalen Werks "Nur wir haben überlebt" über den Holocaust in der Ukraine. Hintergrund: "Erst mit der Gründung der unabhängigen Ukraine 1991 war 'das Tabu der Judenmorde' entfallen, das die Sowjetunion verhängt hatte, wie der Historiker Wolfram Wette in der Einleitung zu Zabarkos Forschung schreibt. Seitdem erst konnten ukrainische Historiker - 'allen voran Boris Zabarko aus Kiew', wie Wette feststellt - die Überlebenden des Holocausts tatsächlich nach ihren Erinnerungen befragen. Das Ausmaß der deutschen Verbrechen, schreiben die Herausgeber Margret und Werner Müller, sei 'unvorstellbar'. "
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Gesellschaft

Werner Bartens blickt in der SZ fast ungläubig auf die resignative Aufhebung der Corona-Maßnahmen: Als ob der Virus verschwünde, nur weil man keine Lust mehr auf ihn hat. "Christian Droste, Lothar Wieler vom RKI und Karl Lauterbach, sie alle wirken erschöpft von den ewiggleichen Mahnungen und trostlosen Prognosen. Sie haben gemeinsam mit anderen verdienten Expertinnen und Experten geduldig Flattening-the-Curve erklärt, an die Solidarität gegenüber Alten und Schülern appelliert, auf die viral load und die damit gestiegene Mutationsgefahr bei hohen Inzidenzen hingewiesen, sowie immer wieder erläutert, dass die Impfung auch bei neuen Varianten vor schweren Verläufen schützt. Doch die Einsicht hatte Grenzen. Zuletzt haben sich die Corona-Aufklärer offenbar hauptsächlich an die erste Zeile aus dem 'Gelassenheitsgebet' des US-Theologen Reinhold Niebuhr erinnert, wonach die Dinge hinzunehmen sind, die man nicht ändern kann. In einer neuen Version müsste wohl die Resignationsstrophe hinzukommen. Wie sonst ist es zu erklären, dass die grandios überschätzte Macht der Aufklärung gerade in vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften erschütternd früh auf Mauern stößt."
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