9punkt - Die Debattenrundschau

Monstrositätenhagel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2019. Die Medien sind sich uneins: Serviert Trump seine Absurditäten mit Kalkül, oder wird er schlicht verrückt? In der SZ erinnert der Ökonom Carl Benedikt Frey an das Schicksal der Laternenanzünder. Für die Zeit ist Dominic Cummings der Casaleggio der Brexiteers. Die Zeit erinnert auch an die ersten Sklaven in Nordamerika vor 400 Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.08.2019 finden Sie hier

Politik

Trump will Grönland kaufen und sagt eine Dänemark-Reise ab, nachdem man ihm dort Kontra gibt? Trump ist die Schlange und die Weltöffentlichkeit das Kaninchen, das nach Belieben mit sich spielen lässt, diagnostiziert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne. Das Absurde diene ihm dazu, seine wahrhaft schlimmen Taten zu verdrängen: "Das Spektakuläre sticht das Schlimme. Keine neue Erkenntnis, dass Trump einen wahren Monstrositätenhagel niederprasseln lässt, in dem die einzelne Großmonstrosität in der Masse untergeht. Es handelt sich um eine erprobte, rechtsextreme Kommunikationsstrategie, weiter zu eskalieren, bis die schiere Menge der Monstrositäten unbewältigbar wird. Und trotzdem fällt es mir noch immer zu schwer, eine Priorisierung vorzunehmen."

Aber es könnte auch einfach der Moment sein, in dem Trumps Präsidentschaft endgültig aus dem Ruder läuft, schreibt Tom McCarthy, der für den Guardian einer kürzlichen Pressekonferenz des amerikanischen Präsidenten zuhörte: "In der folgenden halben Stunde beleidigte Trump die dänische Premierministerin, erging sich in antisemitischen Wendungen, bestand darauf, dass er nicht rassistisch sei, prahlte mit den Quoten seiner 'Apprentice'-Show, stritt ab, einen Handelskrieg mit China zu starten, pries Wladimir Putin und erzählte Reportern, dass er, Trump, der 'Erwählte' sei, Stunden bevor er über sich als 'König von Israel' sprach und in Großbuchstaben twitterte 'WHERE IS THE FEDERAL RESERVE?'"

Schlimmer noch, es scheint ansteckend zu sein. Der Business Insider meldete gestern: "Der britischer Premieminister Boris Johnson will angeblich, dass Irland eine Zeitlang seine Handelspartnerschaft mit der Europäischen Union aufgibt sich stattdessen dem Vereinigten Königreich anschließt."
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Ideen

In der Possible-Minds-Reihe von edge.org, die die SZ übersetzt, erinnert der Ökonom Carl Benedikt Frey mit dem Beispiel der Laternenanzünder, die ihre Jobs mit Einführung der Elektrizität verloren, daran, dass neue Technologien zwar positiv für die Allgemeinheit sein können, aber nicht jeder davon profitiert, wie man in seiner Studie hier nachlesen kann. Das wird auch bei der Robotik der Fall sein: "Der Hauptunterschied zu früher besteht darin, dass die Werktätigen heute politische Rechte haben. Um starke Gegenbewegungen zur Automatisierung zu vermeiden, müssen Regierungen eine Politik verfolgen, die das Produktivitätswachstum ankurbelt, aber gleichzeitig die Arbeitnehmer dabei unterstützt, sich auf die Automatisierungswelle einzustellen."

Saskia Sassen unterhält sich mit Sabine von Fischer in der NZZ über ihr Buch "Die globale Stadt", das schon vor dreißig Jahren das Entstehen einer neuen globalisierten Klasse in den Städten thematisierte. Von Investoren sprach sie damals als "Raptors": "Ich habe einige dieser Investoren der neuen Finanzmärkte sicher sehr hart kritisiert, aber ich will damit nicht sagen, dass sie stehlen oder plündern. Im Gegenteil sogar, sie bedienen sich ausgeklügelter Instrumente von bewundernswerter Komplexität, wie hochkomplexer Algorithmen."
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Medien

Die geplante Abwicklung des Senders hr2 beschäftigt die FAZ sehr stark. Jochen Hieber holt im Aufmacher des Feuilletons weit aus, um die Interessen der hunderttausend Hörer pro Tag zu verteidigen und schließt: "Die Zukunft von hr2-Kultur ist keineswegs nur von regionaler Bedeutung. Die Abwicklung der Welle könnte bundesweit Schule machen. Das wäre fatal. Denn das Kulturradio gehört linear wie digital zum Kern öffentlich-rechtlicher Verantwortung und ist ein alleinstellendes Merkmal der ARD. Kein privater Sender wird je leisten können und wollen, was die verfassungsjuristisch legitimierte und zivilgesellschaftlich sinnvolle Zwangsgemeinschaft der Gebührenzahler ermöglicht." Nora Sefa und Anna Vollmer haben für die Medienseite der FAZ Politiker aller Couleur befragt, die sich alle - inklusive der AfD - für das Programm des Senders stark machen.
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Stichwörter: Hr2, AfD, Hr2 Kultur, Kulturradios, ARD

Europa

Im Interview mit der taz sieht der Politologe Andreas Püttmann wenig Anlass zur Besorgnis, die CDU könnte mit der AfD koalieren: "Dafür haben doch zu viele aus der Geschichte gelernt. Die Unionsanhänger insgesamt lehnen zu drei Vierteln, die im Osten zu zwei Dritteln eine Koalition mit der AfD ab. Kaum ein Fünftel, im Osten ein Viertel befürwortet sie. Im Juli sprachen sich 27 Prozent der sächsischen Wahlberechtigten für eine schwarz-blaue Koalition aus, bei 26 Prozent Wahlabsicht für die AfD. Vor dem Hintergrund, mit der AfD anzubandeln, wäre es für die CDU geradezu suizidal, zumindest der sichere Weg zu deren Juniorpartner. Die AfD-Klientel ist eine große Minderheit, aber weitgehend isoliert."

Adam Soboczynski und Thomas Assheuer schreiben in der Zeit über zwei Althistoriker, die jetzt den Brexit prägen, Boris Johnson und seinen Berater Dominic Cummings, den Assheuer so porträtiert: "Gelegentlich wird Cummings mit Stephen Bannon verglichen, Trumps ehemaligem Wahlkampfstrategen. Viel besser passt der Vergleich mit Gianroberto Casaleggio, dem verstorbenen Mastermind der italienischen Bewegung Cinque Stelle. Mit ihm teilt Cummings den fanatischen Glauben an die digitale Revolution, an Wissenschaft und Technik. Und wie Casaleggio fühlt er sich als Kämpfer für eine Zukunft jenseits von links und rechts - als einer, der weiß, dass die Zeit der alten Institutionen abgelaufen ist. Aus, vorbei."
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Gesellschaft

Den Versuch, ein so großes und ernstes Thema wie die Rettung des Klimas in ein privates und ideologisches Schlachtfeld zu verwandeln, hält Thomas Steinfeld in der SZ für völlig verfehlt: "Für jeden Passagier, der von München nach Mallorca fliegt, werden, grob gerechnet, etwa hundert Liter Kerosin verbrannt. Die Menge erscheint als sehr groß, wenn man sie sich etwa in Kanistern abgefüllt vorstellt. Sie erscheint allerdings als winzig klein, wenn man sie am globalen Ölverbrauch misst: Das amerikanische Militär, der größte einzelne Energieverbraucher der Welt, verbraucht 48 Millionen Liter Öl pro Tag, was etwas weniger als einem Siebtel des gesamten deutschen Ölverbrauchs entspricht oder ungefähr so viel ist, wie ganz Schweden in derselben Zeit vernutzt." Er wünscht sich eine weniger moralisierende als eine politische Debatte.

Außerdem: Im Feuilleton der Welt fordert Michael Pilz, dass neu über Atomkraft nachgedacht wird.
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Stichwörter: Atomkraft, Mallorca

Geschichte

Vor 400 Jahren werden erstmals Sklaven in Nordamerika erwähnt. Aber einen größere Ausbeutung von Sklaven gibt es erst ab Ende des 17. Jahrhunderts, schreibt der Historiker Manfred Berg in der Zeit: "Die Pflanzer Virginias und Marylands decken ihren Arbeitskräftebedarf deshalb lange mit Schuldknechten aus dem Mutterland. Diese sogenannten indentured servants (Knechte auf Zeit) verpflichten sich vertraglich zur Arbeit für einen Dienstherrn, der ihnen die Überfahrt in die Kolonie bezahlt und sie während ihrer Dienstzeit, üblicherweise drei bis sieben Jahre, versorgen muss. Dieses System funktioniert recht zuverlässig. Der Kauf von Sklaven erweist sich allerdings als rentabler: Zwar sind sie in der 'Anschaffung' teurer, können aber lebenslang ausgebeutet werden - und ihre Nachkommen sind ebenfalls unfrei."
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Stichwörter: Sklaverei, Ausbeutung, Pflanzen