9punkt - Die Debattenrundschau

Die Zeichen sind da

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2018. Die NZZ zeigt auf, wie Linke und Rechte in Frankreich den Laizismus unterwandern. Die EU war immer geplant als eine Union, in der die Nationalstaaten irgendwann aufgehen, meint Robert Menasse in der taz. Die EU wird untergehen, wenn Flüchtlinge die nationalen Identitäten bedrohen, meint dagegen Markus Söder in der Welt. Aber verändert nicht gerade die Flüchtlingspolitik der CSU unsere Identität, fragt die SZ. David Grossman kann das für Israel bestätigen. Der Guardian fürchtet, dass wir in die dreißiger Jahre zurückfallen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.06.2018 finden Sie hier

Europa

Die Europäische Union war immer geplant als Union, in der die Nationalstaaten langsam absterben, meint Robert Menasse in der taz. Und was ist so schlimm daran? "Was wir Globalisierung nennen, ist nichts anderes als die schrittweise Entmachtung der Nationalstaaten. Doch Europa ist der einzige Kontinent, auf dem sie nicht nur passiert, sondern als bewusste politische Entscheidung in Gang gesetzt und entwickelt wurde. Europa hätte in Hinblick auf die Globalisierung die größte Expertise, steckte es nicht fest in der Blockade, paralysiert zwischen der Feigheit, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen, und der Angst vor der Gegenbewegung. Diese Blockade kann nur aufgebrochen, die Krise kann nur bewältigt werden, wenn die Idee des europäischen Projekts rekonstruiert wird."

Ich bin auch das Volk, erinnert Julia Eckert, Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Bern, im Zeit-Blog 10 nach 8. "Was soll das heißen: 'Das Volk wendet sich gegen Merkel' (Trump)? Welches Volk? Ich bin auch das Volk. Und Millionen anderer in diesem Land, die ein Asylrecht, das den Namen wert ist, für wichtig halten. Die sehr wohl daran glauben, dass wir das schaffen; die keine Angst haben vor einer gemeinsamen Zukunft."

Die Europäische Union und die Demokratie werden sterben, wenn nicht jeder seine kulturelle Identität bewahren kann, meint dagegen Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in der Welt: "Die Sorgen vor der Überforderung der europäischen Gesellschaften durch Migration und Zuwanderung sind größer, als viele wahrhaben wollen. Das politische Grundwasser in den Demokratien ist erreicht. Deshalb reicht es nicht, nur oberflächliche Maßnahmen zu ergreifen. Wir brauchen vielmehr eine echte Wende in der gesamten Zuwanderungspolitik des europäischen Kontinents. Früher war der Begriff 'Festung Europa' nur negativ besetzt. Das ändert sich. Die Bürger wollen heute ein sicheres Europa, das ihre kulturelle Identität schützt. Europa muss endlich wieder in der Lage sein, sich besser vor den Veränderungen und Wirren der Welt zu schützen."

In der SZ denkt Andreas Zielcke über die Kosten des Flüchtlingsstreits nach. Nicht nur die Flüchtlinge bezahlen einen Preis in diesem Streit, auch wir. Ein Grenzschutz, der abschottet und mit "Ankerzentren" die Grenzen sogar nach innen verschiebt, hat Folgen auch für die Einheimischen: "Jeder, dem es so sehr auf die Wahrung der nationalen Identität ankommt, sollte sich eingestehen, wie massiv allein diese beiden Nebenwirkungen der Abwehr- und Abschreckungspolitik auch die politische und kulturelle Identität des Landes verändern: Eine Nation, die sich kaum noch mit sich selbst verständigen kann und eine Hälfte der Bürger von der anderen entfremdet; eine Politik, die Konformität fordert und Zwist erntet; eine nationale Mentalität, die ihren Stolz nur noch mit Trotz und Verdrängung erhält - ist es wirklich das, wovon der Identitätssuchende träumt?"

Italiens Innenminister will keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Außerdem überlegt er, den Polizeischutz für Roberto Saviano aufzuheben. So geht das, meint Saviano in der FAZ, erst sind die Feinde nur außen, dann plötzlich auch innen. Und es sind immer die Schwächsten: "Am 17. März war Salvini zu einer Kundgebung in Rosarno. In den vordersten Reihen saßen Männer, die zur 'Ndrangheta gehören oder mit ihr sympathisieren. Vertreter des Bellocco-Clans und solche, die mit dem Pesce-Clan verbandelt sind. Und was hat Salvini gesagt? 'Wofür ist Rosarno bekannt? Für seine Elendsviertel, und ich will hier keine Sklaven sehen.' Die Elendsviertel von Rosarno werden von der 'Ndrangheta kontrolliert. Das sollte der Innenminister wissen, es sei denn, er ist ein Clown."

In der NZZ staunt Constanze Letsch über Erdogans Ankündigung, überall in der Türkei "Volkskaffeehäuser" mit freiem Internet und kostenlosem Kuchen einzurichten: "Werden in den geplanten Bildungscafés auch gesperrte Websites, so wie das Online-Lexikon Wikipedia, zugänglich sein? Werden auch kritische Zeitungen und verbotene kurdische Literatur ausliegen? Und wird ein Erdogan, der die Polizei hinter jedem unliebsamen Tweet herjagen lässt, den freien Meinungsaustausch im 'Volkskaffeehaus' akzeptieren?"

Auch in Rumänien wird derzeit über 1968 nachgedacht. Die Weigerung Ceausescus, am Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag teilzunehmen, galt vielen als Zeichen dafür, dass in Rumänien damals ein liberaler Geist wehte. Zugleich wird der Vertrag von Trianon, der das Staatsgebiet Rumäniens nach dem Ersten Weltkrieg beträchtlich vergrößerte, als Geburtsstunde des modernen rumänischen Staates gefeiert. Dabei schleichen sich auch nationalistische Töne ein, berichtet Markus Bauer in der NZZ und zitiert den Historiker Lucian Boia, der die Rumänen davor warnt, lediglich die "alten nationalistischen Allgemeinplätze" zu wiederholen: "Zukunftsträchtiger als der Stolz auf die Geschichte sei die Vision von Rumänien in einem europäischen Haus ohne Grenzen, in dem alle eine Art von Minderheit darstellten. Während diese utopische Perspektive nach vorne einer nationalstaatlich aufgeladenen Erinnerungspolitik entgegensteht, steht mit der zerbröselnden Gewaltenteilung derzeit der politisch-mentale Anschluss an Europa auf der Kippe. Hier könnte die Erinnerung an 1968 helfen...".
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Politik

"Merkels Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen, ist die einzig richtige", sagt der israelische Schriftsteller David Grossman im Interview mit der SZ. Er wünschte sich, sein Land könne ähnlich handeln: "Ich bin dankbar, dass es Israel gibt. Es war nicht selbstverständlich, dass wir Juden eines Tages eine Heimat haben werden. Aber umso mehr schmerzt es mich, zu sehen, was in meiner Heimat passiert. Wenn du ein anderes Volk beherrschst und ihm die Rechte vorenthältst, die du selbst lebst, fließt automatisch in dein Denken der Gedanke ein, der andere sei kein gleichwertiger Mensch. Das ist eine Bedrohung für die Demokratie."
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Stichwörter: Grossman, David

Medien

Der Axel Springer Verlag, der so sehr unter der Digitalisierung leidet, dass er ein europaweites Leistungsschutzrecht zum Überleben braucht, feiert seinen prächtigen, von Rem Koolhaas geplanten Neubau mit einem Baustellendinner, lesen wir in der Welt.
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Ideen

Jonathan Freedland erklärt in einem fulminanten Leitartikel im Guardian, warum er einerseits vor dem Vergleich mit den Dreißigern zurückscheut, warum es ihm aber andereseits angesichts der von Trump produzierten Bilder von Kindern, die ihren Eltern entrissen werden, und angesichts der Roma-feindlichen Parolen von Matteo Salvini geradezu fahrlässig erscheint, diese Analogie nicht aufzurufen. "Die Zeichen sind da, wir müssen es nur ertragen, sie zu sehen. Etwas passiert mit unserer Welt. Auch andere haben bemerkt, wie die globale Architektur nach 1945 zu bröckeln beginnt, da Trump das westliche Bündnis zugunsten autoritärer Tyranneien untergräbt. Aber die Nachkriegsordnung löst sich auch auf eine noch heimtückischere Weise auf. Um es deutlich zu sagen: die Normen und Tabus, die nach dem Holocaust aufgerichtet wurden, erodieren. Ungefähr siebzig Jahre lang, ungefähr die Spanne eines menschlichen Lebens, haben sie überdauert." Lesenswert auch ein Artikel von Owen Jones: "Ungarn macht die EU zum Gespött. Es ist Zeit es herauszuwerfen."

Ausgerechnet im "Bataclan" soll ein Rapper auftreten, der den Dschihad besingt, die Vorzüge der Scharia preist und den Laizismus ablehnt. Den Streit, der darüber entbrannt ist, nimmt Claudia Mäder in der NZZ zum Anlass, die Unterwanderung des Laizismus durch Rechte und Linke zu analysieren. Ihr Fazit: "Während die Laizität hier abgeschwächt wird, um die Spezifität einer gesellschaftlichen Minderheit stärker hervortreten zu lassen, wird sie auf der anderen Seite verschärft, um ebendiese Minderheit besser ausschließen zu können. Beide Varianten demontieren den Gedanken, der die Laizität zur bestechenden Vision macht: Ein Staat, der jeden Menschen, egal welcher Herkunft, zuallererst als Individuum anspricht und nicht als Angehörigen irgendeiner Gruppe behandelt, wäre heute gefragter denn je. Dass dagegen ein universalistisches Konzept als Katalysator für die gesellschaftliche Fragmentierung missbraucht wird, kann beim adjektivlosen Laizisten nur eine Reaktion hervorrufen: don't like."
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