9punkt - Die Debattenrundschau

Auf ausdrücklichen Wunsch christlicher Kreise

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2017. Die französischen Wahlen belegen, dass der Links-Rechts-Gegensatz in der Politik ausgedient hat, meint der Politologe Gérard Grunberg in huffpo.fr. Die taz erzählt, wie Thomas Ostermeier in seiner Schaubühne das Wort entzogen wurde. Die FAZ schlägt vor, dass alle Männer für einen Tag Kopftuch tragen sollten - aus Solidarität mit Frauen, die zur Verhüllung gezwungen werden. Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen wird sicher mit gutem Beispiel voran gehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2017 finden Sie hier

Europa

Die beiden traditionellen Parteiformationen in Frankreich, die Sozialisten einerseits und die bürgerlichen Rechten andererseits, sind durch die erste Runde der Präsidentschaftswahlen nahezu ausgeknockt, ein Zeichen für eine grundsätzliche Neubestimmung von Politik, meint der Politologe Gérard Grunberg in huffpo.fr: "Mit der Niederlage dieser beiden Parteien ist der strukturierende Gegensatz links/rechts in Frage gestellt. Ersetzt wird er durch den neuen Gegensatz: Anpassung an die Globalisierung versus Rückzug ins Nationale. Von den vier Kandidaten, die die erste Wahlrunde anführten, hoffte nur noch der Kandidat der Republikaner, François Fillon, den Links/Rechts-Gegensatz aufrechterhalten zu können. Die drei anderen bezogen sich bereits auf den neuen Gegensatz. Jean-Luc Mélenchon hatte sich bereits entschieden, sich 'ans Volk', und nicht mehr an die Linke zu wenden und weigert sich nun, sich in der zweiten Runde für Emmanuel Macron auszusprechen."

In der Schaubühne wurde über die französischen Wahlen diskutiert. Anwesend war unter anderem Daniel Cohn-Bendit. Annika Glunz berichtet in der taz: "Chaotisch wurde es, als Thomas Ostermeier eingriff und sich das Mikro der Moderatorin schnappte, um mit Cohn-Bendit eine hitzige Debatte zu beginnen. Der hatte den französischen Autor Didier Eribon kritisiert, der meint, es sei auch jetzt noch besser, nicht zu wählen. Ostermeier, der Eribons 'Rückkehr nach Reims' gerade inszeniert, inspirierte das zu einem Anti-Macron-Monolog. Der war so ausufernd, dass die Moderatoren ihm irgendwann das Mikrofon entzogen, um zu den Publikumsfragen übergehen zu können."

Viele Intellektuelle in der Türkei und im Westen, auch solche, die nicht religiös waren, haben den Aufstieg der AKP mit Wohlwollen betrachtet, jetzt stehen sie dafür in der Kritik. Aber das ist nicht fair, meint Yavuz Baydar in der SZ: "Es stimmt zwar: Es gab etliche, besonders bei den Kemalisten und Ultrasäkularisten, die kategorisch die Aufrichtigkeit von Erdogan bestritten, wobei sie oft die demokratische Basis ignorierten, die seine Partei repräsentierte. Für andere aber, zu denen auch ich zählte, war diese scharfe Ablehnung fragwürdig. Jeder ehrliche Intellektuelle musste damals der AKP eine Chance geben. Jeder schrieb sozusagen einen Scheck über eine unterschiedliche Summe an moralischer Investition. Und als Erdogan begann, seine Haltung zu ändern, scherte jeder einzelne Intellektuelle irgendwann aus und definierte für sich jeweils das Ereignis, das ihn sagen ließ: Genug, jetzt hat er den Kredit endgültig verspielt."
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Politik

Sehr deutlich ist der Kommentar des Editorial Board der New York Times zu Donald Trumps jüngsten Steuerplänen: "Der jämmerliche Ein-Seiten-Vorschlag, den seine Regierung am Mittwoch herausbrachte, ist nach allen historischen Standards ein lachhafter Trick einer Gang von Plutokraten, die darauf aus sind, sich selbst auf Kosten des Landes zu bereichern."
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Stichwörter: Trump, Donald, Steuerreform

Gesellschaft

Die Erklärung des österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, wegen "um sich greifender Islamophobie" werde "noch der Tag kommen, an dem wir alle Frauen bitten müssen, ein Kopftuch zu tragen - alle - aus Solidarität gegenüber jenen, die es aus religiösen Gründen tun" kann Ursula Scheer (FAZ) nicht ganz ernst nehmen. Oh, und "wäre es nicht angemessener, wenn alle Männer, ob muslimisch oder nicht, für einen Tag Kopftuch oder Burka trügen aus Solidarität mit jenen Frauen, die solche Verhüllung nicht aus freien Stücken tragen?"

Jan Feddersen porträtiert für die taz den Tübinger Wirt Helmut Kress, der Anfang der sechziger Jahre auf Grundlage des Paragrafen 175 ins Zuchthaus gesteckt wurde - als Fünzehnjähriger: "Homosexualität wurde in der Bundesrepublik jener Jahre stärker verfolgt als im heutigen Russland. Schwules war verboten, der Paragraf 175, der in seinem strafrechtlich relevanten Rest erst 1994 mit dem deutsch-deutschen Einigungsvertrag vollständig getilgt wurde, war ein Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument sondergleichen. Die Fassung des Paragrafen, die bis 1969 auf ausdrücklichen Wunsch christlicher Kreise in seiner Nazifassung galt, gab Leuten wie dem Vorgesetzten des angehenden Bauzeichners das moralische Recht, in den Privatsachen ihrer Untergebenen zu schnüffeln."
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Medien

In der Schweiz gibt's nicht nur Geld, sondern auch Lust, es für Journalismus auszugeben. Das Medienprojekt republik.ch hat laut Mitgründer Christof Moser im Interview mit persoenlich.com den Weltrekord bei Crowdfunding für Journalismus gebrochen - und es geht immer noch weiter. 8.000 Abonnenten haben inzwischen immerhin 240 Franken oder mehr bezahlt. Insgesamt sind bisher zwei Millionen Franken zusammengekommen, von Investoren und weiteren Spendern kommen 3,5 Millionen Franken: "Dass uns auch viele Journalistinnen und Kommunikationsfachleute unterstützen, freut uns ebenso: sie sind diejenigen, die über den Niedergang des Journalismus in den großen Verlagen am besten Bescheid wissen. Es gibt viele großartige Journalisten da draußen, die wegen verfehlten Verlagsstrategien ihren Job nicht mehr gut machen können."
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Stichwörter: Crowdfunding, Republik.ch