9punkt - Die Debattenrundschau

Orte des Spiels

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2015. Im Guardian verweist David Graeber auf die türkische Verantwortung für das Blühen des "Islamischen Staats".  Kaum noch jemand befasst sich mit den Orten und den Opfern der Anschläge, Orte des Kosmopolitismus, schreibt Kulturphilosoph Emmanuel Alloa  in der taz. Und in der Presse erklärt der in Saint-Denis lebende algerische Autor Fewzi Benhabib, "wie meine Stadt islamistisch" wurde. Währenddessen geht das große Fingerschnipsen in den Feuilletons weiter: Viele viele Professoren erklären Frankreich, was es jetzt tun soll. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.11.2015 finden Sie hier

Europa

Nur wenige beschäftigen sich noch mit dem Ort der Anschläge wie Sabine Seifert in der taz (hier) oder der Kulturphilosoph Emmanuel Alloa ebendort: "Nicht Orte der Macht fielen dem Terror zum Opfer, sondern Orte des Spiels: Orte, an denen Musik gespielt wurde, Restaurants wie das Petit Cambodge, die mit kulinarischem Cross-over experimentierten, Bühnen, auf denen mit Identitäten und Masken gespielt wurde (am Samstagabend wäre im Bataclan wieder eine Queer-Party ausgetragen worden)."

In der Presse erklärt der in Saint-Denis lebende algerische Autor Fewzi Benhabib, "wie meine Stadt islamistisch" wurde: "In Saint-Denis, dieser an der Seine gelegenen Stadt der Vielfalt, Gastfreundlichkeit und Toleranz, konnte ich mit meiner Familie heimisch werden, endlich frei von den Drohungen der Islamisten, die sich in meinem Briefkasten häuften. Ich war 48 Jahre alt und verließ eine geliebte strahlende Stadt Oran, in der ich als Physiker gearbeitet und gelehrt hatte... In den letzten Jahren hat die Angst mich wieder gepackt. Saint-Denis hat nichts mehr mit dem Saint-Denis von damals zu tun. Und das Land der Menschenrechte weigert sich, hinzusehen."

Warum sind die Führer der westlichen Welt beim G20-Gipfel nett zu Tayyip Erdogan, statt ihn bei den Ohren zu nehmen wegen seiner Unterstützung für Isis, fragt David Graeber im Guardian. "Es erscheint unerhört anzunehmen, ein Nato-Mitglied wie die Türkei würde eine Organisation unterstützen, die Zivilisten im Westen kaltblütig ermordet. Das wäre, als würde ein Nato-Mitglied Al Qaida unterstützten. Tatsächlich gibt es Gründe zu glauben, dass die Regierung Erdogans auch den syrischen Zweig von Al Qaida (Jabhat al-Nusra) unterstützt, neben anderen Rebellengruppen, die die konservative islamistische Ideologie der türkischen Regierung teilen. Das Institute for the Study of Human Rights der Columbia University hat eine lange Liste mit Belegen für die türkische Unterstützung von Isis in Syrien zusammengestellt."

In der Zeit berichtet Moritz Rinke von einer Feier türkischer Islamisten, die unbehelligt stundenlang in Antep die Terroranschläge des IS feiern konnten. Und dann stellt sich Erdogan beim G20-Gipfel für ein Foto neben Obama: "das vielleicht absurdeste politische Gruppenbild überhaupt", meint Rinke. "Die Nous sommes Paris-predigenden Weltmächte ausgerechnet in der süßen Umarmung eines Mannes, über den und dessen Land sich der IS jahrelang mit Rekruten und Waffen hat versorgen und sein geschmuggeltes Öl für angeblich 1,5 Millionen Dollar täglich (!) hat absetzen können."

Wie praktisch alle publizistischen Stimmen in Deutschland will auch Sascha Lobo nicht von Krieg sprechen. In seiner Spiegel-Online-Kolumne benennt er außerdem einen Aspekt der Pariser Anschläge, der bisher nur wenig zur Sprache kam: "Es sieht nicht aus, als sei der Klub Bataclan zufällig ausgesucht worden. Dort fanden proisraelische Veranstaltungen statt, vierzig Jahre lang gehörte er französischen Juden."

Und dann das große Fingerschnipsen.

Ganze Kohorten von deutschen und anderen Professoren treten in den Feuilletons weiterhin an, um Frankreich zu erklären, was es jetzt tun muss. Herfried Münkler fordert in der Zeit, dass wir uns erst einmal "den Suggestionen der Dramatisierung entgegenstellen". Die Gegenwehr "Krieg" zu nennen, ist da schon mal ganz übel. Dann muss "man sich auf den Terrorismus als eine Jahrzehnte währende Herausforderung einstellen", zugleich muss der Kampf dagegen "im Modus der politischen und gesellschaftlichen Normalität geführt werden, wenn der selbst zugefügte Schaden mittelfristig nicht größer sein soll als der durch die terroristischen Anschläge". Schließlich sollen wir "das Empfinden der Wehrlosigkeit und die damit verbundenen Affekte in uns niederringen, uns nicht ducken, sondern aufstehen und uns zeigen" und uns "wirklich solidarisch" mit den Franzosen verhalten. In der FAZ geben der Rechtsprofessor Reinhard Merkel und Walter Laqueur dringende Handlungsempfehlungen. In der SZ macht Michel Wieviorka die Misserfolge der Integration in Frankreich für den Terror mitverantwortlich.

Die Europäer sollten nicht dieselben Fehler machen wie die Israelis und Amerikaner und als Folge des Terroranschlags "sicherheitsfetischistisch" werden, meint die israelische Soziologin Eva Illouz, ebenfalls in der Zeit. Kapitalismus abschaffen und Frieden suchen, empfiehlt Etienne Balibar in einem Artikel, den die Zeit aus Liberation übernommen hat. Slavoj Zizek will den "Klassenkampf wieder auf die Tagesordnung bringen - und das ist allein dadurch zu bewerkstelligen, dass man auf der globalen Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten besteht".

Etwas konkreter wird der Politologe Michael Shurkin in Politico.eu: "Wer mit den militärischen Kapazitäten Frankreichs vertraut ist, weiß, dass die Franzosen, wenn es zu Krieg kommt, zu den besten gehören. Eine französische Militäraktion wird kaum dem Vorgehen der US-Army ähneln. Es gibt eine französische Art der Kriegsführung, die den französischen Mangel an Ressourcen widerspiegelt und einem bescheidenen Sinn fürs Mögliche entspricht. Sie spezialisieren sich auf gründlich bemessene und meist schmale, aber effektive tödliche Operationen, oft jenseits der großen Bühne."

Außerdem liefern die Zeitungen (nämlich SZ, Tagesspiegel und zeit.de) feuilletonistische Hintergründe zur Frage, warum jetzt die Marseillaise gesungen wird.
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Kulturpolitik

Der Bankier Michael A. Gotthelf polemisiert in der Welt gegen das geplante Kulturgutschutzgesetz: "Auch das wäre doch noch ein interessantes Betätigungsfeld für regulierungswütige Politiker: Transferverbote für deutsche Fußballer ins Ausland; und wie viele ausländische Aktionäre hat eigentlich Borussia Dortmund?"
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Stichwörter: Kulturgutschutzgesetz