9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Halsmuskulatur wie Thor

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2015. Die NZZ fürchtet, dass die Russen sich für heilsgeschichtlich auserwählt halten könnten. Der russische Künstler Dmitri Vrubel erklärt im Freitag, warum er nach Berlin emigriert ist. Die SZ schildert die Torturen des Schönheitszwangs in Hollywood. Die Equipe von Charlie Hebdo erklärt in Le Monde, wie sie sich vor dem "Gift der Millionen" schützen will. Auf der Krim hat das letzte nicht putinistische Medium zugemacht, berichtet die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2015 finden Sie hier

Europa

Angesichts des von Putin wiederbelebten russischen Expansionismus erinnert der Politologe Jörg Himmelreich in der NZZ an das bis heute vorherrschende politische Selbstverständnis einer heilsgeschichtlichen Auserwähltheit Russlands, das auf der Herrschaftsideologie der russisch-orthodoxen Kirche beruht: "Die Zaren kamen gleichsam einem messianischen Auftrag nach, die Menschen zu erlösen und orthodoxe Christen zu schützen, wenn sie das russische Zarenreich über die Jahrhunderte hinweg in alle Himmelsrichtungen ausdehnten. Besser ließen sich geopolitische Ambitionen nicht verbrämen. Die orthodoxe Kirche lieferte die religiöse Rechtfertigung für zaristische Autokratie und für russischen Expansionsdrang."

Das Klima eines zunehmenden Chauvinismus und Antisemitismus hat den russischen Künstler Dmitri Vrubel dazu bewegt, nach Berlin auszuwandern. Im Freitag schildert er im Gespräch mit Maik Gerecke die Verhältnisse am Beispiel einer Episode um Boris Nemzows Mutter: "Ihr Nachname ist eigentlich Nemzowa. Putin schickte nach Nemzows Tod öffentlich ein Beileidsschreiben an sie und benutzte dabei ihren jüdischen Mädchennamen. Dadurch konnte man ganz nebenbei lernen, dass sie Jüdin ist. Der Antisemitismus ist ein Teil des allgemeinen Chauvinismus, der sich gegen alles und jeden richtet. Gegen Juden, Kaukasier, Deutsche, Amerika, Europa. Berichte über den Westen handeln dann wiederum von Homosexuellen, von Antisemitismus-Vorfällen, Antiislasmismus, Rassismus, Chauvinismus im Westen. Über Russland gibt es nur gute Nachrichten."
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Internet

Die EU will offenbar ein neues Verfahren gegen Google eröffnen, meldet Spiegel Online heute morgen unter Bezug auf das Wall Street Journal: "Auch der Financial Times zufolge haben die EU-Regulatoren erste Schritte unternommen, um den Angriff gegen das Unternehmen wegen des Verdachts auf Wettbewerbsverzerrung einzuleiten."
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Gesellschaft

Susan Vahabzadeh prangert in der SZ den Schönheitszwang in Hollywood an. Obwohl die digitale Bildbearbeitung alles kann, werden auch die Körper der Schauspieler absurden Torturen unterworfen, die sie alles andere als natürlich erscheinen lassen: "Es reicht nicht mehr, hübsch zur Welt zu kommen, der Schönheitswahn hat in Hollywood auch die Männer erreicht. Die müssen vielleicht nicht alle Stupsnäschen haben und dürfen sich vielleicht sogar das eine oder andere Augenfältchen erlauben. Dafür müssen sie sich aber auch an absurden Stellen die Haare weglasern lassen und sich Muskeln antrainieren, die die Evolution nicht vorgesehen hat. Von Haus aus hat kein Mann eine Halsmuskulatur wie "Thor" Chris Hemsworth, und sie sieht ungefähr so natürlich aus wie das Dekolleté von Pamela Anderson."
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Kulturpolitik

Nach dem Rückzug des letzten Bewerbers Ralph Schwingel (unser Resümee) bleibt der Chefposten der Berliner Filmhochschule DFFB weiter vakant, berichtet Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel: "Die Studenten fordern nun ein völlig neues Ausschreibungsprozedere. So sollen sich die Bewerber in speziellen Vorlesungen, intern "Vorsingen" genannt, der Akademie zur Abstimmung stellen, die besten werden dann dem Kuratorium zur Entscheidung vorgeschlagen. Der Haken bei dieser Maximalforderung: Das vom Land Berlin als dem DFFB-Eigentümer bestellte Kuratorium wäre einer eigenständigen Kandidatenfindung beraubt." Alternativ könnte auch eine personelle Veränderung des Kuratoriums aus der verfahrenen Lage führen, so Schulz-Ojala.

Über Sinn und Zweck des im Bau befindlichen Berliner Stadtschlosses wird seit Jahren diskutiert, jetzt hat Hartmut Wewetzer mit dem Namen Humboldt-Forum den letzten Punkt aufgespürt, in dem bislang weitgehend Konsens herrschte - und fordert im Tagesspiegel prompt eine Umbenennung: "Humboldt war anregend für viele Gebiete, etwa für Pflanzengeografie, Klimatologie, Vulkanismus und Erdmagnetismus. Grundlegende und neuartige Einsichten hatte er jedoch kaum... Vielleicht wäre es eine überlegenswerte Idee, das geplante Humboldt-Forum im teilweise rekonstruierten Berliner Stadtschloss statt nach dem Brüderpaar Alexander und Wilhelm eher nach dem Kosmos selbst zu benennen. Da passt dann wirklich alles hinein. Gut möglich, dass es den Humboldts gefallen hätte."
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Überwachung

In der taz unterhält sich Svenja Bergt mit dem Datenschutzaktivisten Max Schrems, der zurzeit am EuGH gegen das Safe-Harbor-Abkommen klagt, das es europäischen Unternehmen ermöglicht, personenbezogene Daten legal in die USA zu übermitteln. Ob sich an der Praxis etwas verändert, hängt weniger vom Urteil als von seiner Begründung ab, glaubt Schrems: "Wenn das Gericht sagt: Massenüberwachung lässt sich grundsätzlich nicht mit den Grundrechten vereinbaren, dann haben die Googles und Microsofts ein großes Problem. Dann reißt es ihnen den Arsch auf, wie wir hier in Österreich sagen. Denn in den USA sind die Konzerne verpflichtet, die Daten an Geheimdienste rauszurücken. Mit einer entsprechenden Begründung wäre die Weitergabe in die USA und damit an die Geheimdienste nicht mehr erlaubt."
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Religion

Im Standard erzählen Anne Katrin Feßler, Roman Gerold und Colette M. Schmidt, dass die traditionelle Verhüllung der Kreuze durch - teilweise schon sehr fragile - Fastentücher heute oft durch Kunstinterventionen ersetzt wird: "Es ist besonders kunstaffinen Geistlichen zu verdanken, dass seit einigen Jahren zeitgenössische Variationen auf klassische und eher konventionelle Fastentücher in den Kirchen Einzug halten: Dompfarrer Toni Faber startete 2013 im Stephansdom mit einer in grobe Pixel aufgelösten Kreuzigungsszene (Peter Baldinger), 2014 verwandelte das Sonnenlicht abertausende Seidenfäden in eine Art Vorhang (Elke Maier). Nun hat Stefan W. Knor eine interaktive Fastentuchskulptur geschaffen: In ein Kubengerüst sind Leinenbänder geflochten, in die wiederum Gebete der Gläubigen geknotet wurden."
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Medien

Seit den Pariser Massakern ist Charlie Hebdo mit Abos und Spenden überhäuft worden. In Le Monde erklären die Redakteure und Mitarbeiter der Wochenzeitung, wie sie dem "Gift der Millionen" entkommen wollen: "Indem wir uns eine genossenschaftliche Form suchen, über die wir intern schon seit Jahren diskutiert hatten und die sich ganz auf der Linie einer sozialen und solidarischen Ökonomie findet, wie sie Charlie schon immer befürwortet. Indem wir jedem von uns das Recht geben, an Entscheidungen mitzuwirken, die die Zeitung betreffen, ohne daraus persönlichen Gewinn zu ziehen: Die gemeinsamen Anteile geben kein Recht auf eine Dividende, aber jeder kann sich am Wiederaufbau dessen beteiligen, was für uns heute viel mehr als ein Arbeitgeber ist."

Seit gestern darf der einzige krimtatarische Sender ATR sein Programm nicht mehr ausstrahlen, berichtet Klaus-Helge Donath in der taz: "ATR hätte sich nach der Annexion der Krim im März 2014 für eine Lizenz bei der russischen Medienüberwachungsbehörde neu registrieren lassen müssen. Doch das war schwieriger als erwartet. Dreimal gaben die russischen Behörden die Anträge zurück. Mal fehlten angeblich Dokumente, mal wurden Korrekturen verlangt. Immer fanden sich formale Einwände, meint ATRs Generaldirektorin Elsara Isljamowa. Zwischen jedem neuen Antrag verstrich mindestens ein Monat. "So lässt sich die Registrierung auf 100 Jahre ausdehnen.""
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Stichwörter: ATR, Charlie Hebdo, Krim, Krimtataren