9punkt - Die Debattenrundschau

Minen in den Köpfen der Menschen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2024. Die Krim ist auf den Tag genau vor zehn Jahren besetzt worden. In der taz spricht Tamila Taschewa, die "Ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik Krim", darüber, wie die Krim nach dem ukrainischen Sieg wieder demokratisiert werden soll. Auch an Stalins Genozid an den Krimtataren erinnert die taz. Im Spiegel zeichnet Karl Schlögel in einigen kräftigen Strichen das Porträt des Putinismus. Und Jan Fleischhauer informiert im Focus über das "Berliner Register" für missliebige Äußerungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2024 finden Sie hier

Europa

Es gibt tatsächlich so etwas eine eine "Ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik Krim". Sie heißt Tamila Taschewa, und äußert sich heute im Interview mit Anastasia Magasowa von der taz - ihren genauen Status auf der Krim erklärt die taz leider nicht. Dass die Krim besetzt wurde, ist jetzt genau zehn Jahre her. Taschewa spricht über die feste Intention der ukrainischen Regierung, die Krim zurückzuerobern und macht sich auch schon Gedanken über die "Deokkupation": "Kommunikation ist sehr wichtig. Den Menschen auf der Krim muss erklärt werden, dass die Rückkehr der Ukraine für sie keinen völligen Zusammenbruch bedeutet. Die 'kognitive Reintegration' ist einer der schwierigsten Aspekte der Deokkupation der Krim. Man könnte sie auch als kognitive Minenräumung bezeichnen. Denn Russland legt mit seiner Bildungs-, Kultur- und Informationspropaganda Minen in die Köpfe der Menschen. Diese Minen müssen wir räumen. Wir verstehen, dass nach der Befreiung der Krim eine Übergangszeit notwendig sein wird, damit das ukrainische Recht dort voll zur Geltung kommen kann."

In einem zweiten Text über die Krim erinnert sich Daniel Gerlach an die Krim vor der Besetzung. Hier erzählt er auch von Stalins Völkermord an den Krimtataren im Jahr 1944: "Stalins Häscher hatten binnen dreier Tage 190.000 Krimtataren in Viehwaggons gesteckt und fortgeschafft, als sie merkten, dass sie ein Dörfchen weit im Nordosten auf der abgelegenen arabatischen Nehrung übersehen hatten. Alle Züge waren fort und Moskau war bereits 'Vollzug' gemeldet. Was tun? Sie trieben die Dorfbewohner auf eine Barke, schleppten diese aufs Asowsche Meer hinaus und versenkten den Kahn."

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die "Wahl" am 18. März stattfand, dem zehnten Jahrestag der Besetzung der Krim, merkt auch Karl Schlögel im Gespräch mit Ann-Dorit Boy vom Spiegel an. In der interessantesten Partie des Interviews beschreibt er, was er unter "Putinismus" versteht: "Es ist ein System entstanden, in dem es keine Unterscheidung von wahr und falsch mehr geben soll. Orthodoxe Kirche und die Errichtung von Stalindenkmälern, Parteitags-Choreografien und Entertainment, die Verachtung des dekadenten Westens und der Besitz eines Apartments in Manhattan. Das geht alles zusammen. Auf Massenrepressalien im Stil der stalinschen Säuberungen ist Putin nicht angewiesen, solange er Einzelne mit chirurgischen Operationen ausschalten und vernichten kann."

Alexej Nawalny hatte noch vor seinem Tod in den Putinschen Verliesen dazu aufgerufen, bei der gestrigen "Wiederwahl" Putins um Punkt 12 Uhr zu erscheinen, um gegen Putin zu demonstrieren. Viele waren mutig und kamen. Inna Hartwich hat für die taz mit einigen vor dem Wahllokal 2567 gesprochen: "Andrei und seine Frau haben trotz Einschüchterung bewusst die Entscheidung getroffen, zu kommen. 'Es ist ein Flashmob, wohl der letzte Strohhalm, an dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die Repressionen werden zunehmen. Und wer weiß, was diesem Irren im Kreml noch alles einfallen wird', sagt der Moskauer leise. Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: 'Ich bin gekommen, um mich nicht allein zu fühlen. Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich Kritiker*innen des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene legale Möglichkeit.'" Und Julija Nawalnaja, die Witwe des Oppositionellen, nahm in Berlin an der Aktion teil, mit Tausenden anderen Menschen, berichtet unter anderem die SZ in ihrem Aufmacher.

Michael Thumann kommentiert in Zeit online: "Es ist aber fraglich, ob der Protest darüber hinaus Spuren hinterlässt. Das Staatsfernsehen hat die Schlangen gefilmt und kann sie an die Staatssicherheit weiterleiten. Die Propagandisten können die Bilder aber auch als Beleg dafür nehmen, dass die Wahlbeteiligung von weit über 70 Prozent nicht erfunden ist."

Die Schriftstellerin Nora Bossong plädiert in einem Kommentar für Deutschlandfunk Kultur für eine europäische Armee: "Wichtig ist, dass Deutschland und Frankreich keinen Alleingang starten, sondern kleinere Länder mitnehmen, die sich sonst leicht übergangen fühlen. Ein Alleingang ist allerdings schon deshalb unwahrscheinlich, weil es mit der Kommunikation zwischen Paris und Berlin gerade in militärischen Fragen momentan nicht zum Besten steht. Ein Grund mehr für eine stärkere transnationale Sicherheitsarchitektur."
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Gesellschaft

Eine deutsche Szene beobachtet FAZ-Autor Reinard Bingener im niedersächsischen Vechta. Ins dortige Frauengefängnis soll die mutmaßliche RAF-Terroristin Daniela Klette verlegt worden sein. Ein kleines Grüppchen Sympathisanten, organisiert von der Bremer Krankenschwester Ariane Müller, hat sich eingefunden, um für sie zu demonstrieren: "Müller erklärt auf Nachfrage der FAZ, zu den Opfern der RAF 'müsste ich jetzt länger ausholen', und dafür habe sie leider keine Zeit. Ein Demonstrant erklärt, er finde Morde zwar 'nicht so sympathisch', aber die tödlichen Schüsse auf den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder im Jahr 1991 seien ja 'nicht aus heiterem Himmel gefallen'. Es wäre 'perfide' zu behaupten, dafür hätte es keine Gründe gegeben."

Eine Gruppe linksradikaler Organisationen plant für 12. bis 13. April einen Hamas-freundlichen Kongress unter dem Titel "Palästina Kongress", berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel. Unter anderem seien Greta Thunberg oder die israelfeindliche UN-Funktionärin Francesca Albanese eingeladen (ob sie zugesagt haben, ist ungewiss): "Die Planungen zu dem Kongress begannen bereits im Dezember. Dafür schlossen sich diverse radikale Kleingruppen aus Berlin zusammen. Zum Beispiel die Splittergruppe 'Revolutionäre Linke', die sich nach dem Massaker der Hamas mit den Terroristen solidarisch erklärte. Oder das Netzwerk 'Palästina Spricht', das en 7. Oktober als Tag sieht, der gefeiert gehört. Sprecher Ramsis Kilani hält die am 7. Oktober ermordeten israelischen Zivilisten für 'Kriegsverbrecher'."


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Es gibt allen Ernstes ein "Berliner Register", das zu Folgendem aufruft: "Melde Diskriminierung und extrem rechte Aktivitäten an uns." Dort ist jetzt auch ein Buch von Henryk Broder und Reinhard Mohr gelandet, "Durchs irre Germanistan", berichtet Jan Fleischhauer in seiner Focus-Kolumne. Gemeldet wird in dem Register, dass sich die Autoren gegen das Gendern wenden. Fleischhauer zitiert aus dem Register: "Geschlechtergerechte Sprache wurde als Ausdruck von Kleingeist und Konformität dargestellt. Beispielsweise wurde einem Radiomoderator, der einem der Autoren durch seine geschlechtergerechte Ausdrucksweise aufgefallen war, unterstellt, hätte er im Nationalsozialismus gelebt, hätte er auch mit 'Heil Hitler' unterschrieben. Diese Analogie kann zudem als NS-verharmlosend interpretiert werden." Das Berliner Register, so Fleischhauer, wird vom Berliner Senat finanziert.
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