Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Monster von einem Werk

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20.09.2022. Die taz erkennt im Frankfurter Architekturmuseum, wie einfallsreich das Bauen mit Bestand macht. Die Zürcher "Walküre" weckt bei der NZZ Mitgefühl für gescheiterte Machtmenschen. Der Tagesspiegel erlebt das ungemilderte Draufzu in der Ost-Berliner Kunst der Wendejahre. Die SZ findet auch die schwulen Baubrigaden von Jürgen Wittdorf ziemlich klasse. Und im ND ruft Berthold Seliger dem Musikfest "Mehr Xenakis wagen" zu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.09.2022 finden Sie hier

Kunst

Clemens Gröszer: Bildnis Susanne Rast. Bild: Stadtmuseum Berlin

Das Berliner Stadtmuseum im Ephraim-Palast zeigt Ost-Berliner Kunst aus den Wendejahren. Christian Schröder spürt im Tagesspiegel Aufbruch und Umbruch, Widerstand und Kritik am gesellschaftlichen Stillstand: "Auch wenn sie mit dem sozialistischen Realismus gebrochen hatten, orientierten sich viele der an den Akademien in Leipzig, Dresden oder Berlin ausgebildeten Malerinnen und Maler an Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. Clemens Gröszer, der mit der von ihm gegründeten Gruppe NEON-REAL eine Ästhetik des 'ungemilderten Draufzu' forcierte, setzte auf seinem 'Bildnis Susanne Rast' eine schwarzgekleidete, bleichgesichtige Femme fatale so altmeisterlich in Szene, als stamme sie von Otto Dix. In Joachim Völkners Heldenporträt des Schriftstellers Franz Fühmann, der vom Stalin-Besinger zum Regimekritiker mutierte, zeigt sich die Unruhe dieser Biografie bereits am zittrigen Pinselstrich."

Jürgen Wittdorf: "Baubrigade der Sportstudenten", 1964. 

Auch in der SZ zeigt Gustav Seibt ein Faible für die DDR-Kunst, zu deren ästhetischer Utopie nicht nur der Sozialismus gehörte, wie er erkennt, sondern auch der körperlich schöne Mensch. Dass sich das Schloss Biesdorf jetzt an die Wiederentdeckung des Grafikers Jürgen Wittdorf macht, freut ihn. Wittorf war nach der Wende dem Verdikt der Regimetreue zum Opfer gefallen, dabei gehörte das schwule Begehren zu seinen Sujets: "Klassische Haltungen in zeitgenössischen Umgebungen, beim Sport, bei der Arbeit, in einer jugendkulturell codierten Freizeit, teils bekleidet, teils nackt, mit Fahrrädern oder Motorrädern, in Badekleidung, beim Duschen, erotisch präsent, aber mit einer spannungsvollen Zurückhaltung: Das wurde Wittdorfs Stil, und das stieß in der noch jungen DDR auf begeisterten Zuspruch. Wie stark die Widerstände beim Publikum doch auch sein konnten, belegt ein in Biesdorf ausgestellter Leserbrief aus dem Jahr 1962, der sich darüber beschwert, dass ein junger Mann, der auf einem Bild Wittdorfs ein Mädchen küsst, dabei seine Hand in der Hosentasche behält - eine harmlose erotische Anspielung, die offenbar Skandal machte."

Besprochen werden die große Werkschau zu "Christo und Jeanne-Claude" im Düsseldorfer Kunstpalast (FAZ), die Donatello-Schau in der Berliner Gemäldegalerie (die Ingeborg Ruthe in der FR mit großer Begeisterung für den humanistischen Bildhauer bespricht), die Ausstellungen zu den Fotografen Bernd und Hilla Becher im New Yorker Metropolitan Museum sowie Wolfgang Tillmans im Moma (FAZ) und eine Jubiläumsausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung (taz).
Archiv: Kunst

Film

Szene aus "Sparta"


Zumindest das, was in Ulrich Seidls "Sparta" auf der Leinwand zu sehen ist, trägt keinen Skandal, berichtet Thomas Abeltshauser in der taz vom Filmfestival San Sebastián, wo das Pädophilie-Drama nach Vorwürfen, man habe am Set zu wenig auf das Wohlergehen der Kinder geachtet und auch die Eltern nicht hinreichend über das Sujet des Films aufgeklärt, nun erstmals der Öffentlichkeit gezeigt wurde (unser Resümee). Der Film "spielt mit den Erwartungen des Publikums", das weiß, dass die Hauptfigur pädophil ist. "Dieses Wissen lässt manche Momente so schwer erträglich erscheinen - nicht so sehr das, was tatsächlich passiert." Doch "was auf der Leinwand zu sehen ist, kann freilich nur bedingt über einen Dreh und seine Umstände Auskunft geben." Der Regisseur selbst ist derweil nach Rumänien gereist, um den Film den Eltern und den Kinderdarsteller zu zeigen, erfahren wir weiter. Ob der Filmemacher damit "alle Zweifel ausräumen kann, ist fraglich. Die Causa hat auch etwas Gutes: Sie hat in der Branche eine Debatte über Sicherheit an Filmsets angestoßen."

Und: Die gestern Abend etwas voreilig in die Welt gesetzte Neuigkeit, dass Woody Allen sich nach seinem nächsten Film vom Filmemachen zurückziehen werde, ist nicht ganz so eindeutig, wie nun eine Korrektur von Variety verdeutlicht: Vielmehr habe der Regisseur gegenüber einer spanischen Zeitung lediglich seine Unlust geäußert, Filme zu drehen, die dann ruckzuck in den Archiven der Streamer versanden.

Besprochen wird Brett Morgans Essayfilm "Moonage Daydream" über David Bowie (SZ, NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Screenshot aus "Der Fall Tellkamp"

Ein großes, Anfang des Jahres im Fernsehen gezeigtes Doku-Porträt über Uwe Tellkamp sorgt schon wenige Monate später für Ärger: Die Autoren Ingo Schulze und Jana Hensel, die darin beide auftauchen, gaben gegenüber der FAS an, nicht gewusst zu haben, dass ihre Interviews für ein Tellkamp-Porträt gedacht waren. Vielmehr dachten sie, für eine Doku über das Verhältnis zwischen Ost und West in die Kamera zu sprechen. Paul Jandl hat für die NZZ beim Regisseur Andreas Gräfenstein nachgefragt, der wiederum dem produzierenden Sender die Verantwortung gibt. "Offenbar ist in dieser Sache die Dynamik vom ZDF ausgegangen und hat sich, als der Erscheinungstermin des neuen Romans feststand, noch einmal verschärft. ... Mit Uwe Tellkamp wurde nachgedreht, 'der Fokus auf ihn hat sich verschoben', sagt der Regisseur. 'Ich habe niemanden, mit dem ich ein Gespräch geführt habe, auf eine falsche Fährte geführt. Zu dem Zeitpunkt, wo das Projekt gestartet wurde, war der Status quo jener, den die Interviewpartner kannten.'"

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. FAZ-Kritiker Jan Wiele lässt sich bei einer Lesung in Thomas Bernhards Landhaus auf den österreichischen Gastauftritt bei der Leipziger Buchmesse einstimmen.

Besprochen werden eine Hörspielbearbeitung von Françoise Sagans Roman "Bonjour tristesse" (online nachgereicht von der FAZ), William E.B. Du Bois' Reportage "Along The Color Line. Eine Reise durch Deutschland 1936" (Welt), Martin Kordics "Jahre mit Martha" (FR), Thomas Melles "Das Leichte Leben" (SZ) und Anna Kims "Geschichte eines Kindes" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur


Das Quartier du Grand Parc in Bordeaux. Bild: Lacaton & Vassal

Bauen mit Bestand
heißt in der Klimakrise die Devise, es spart nicht nur CO2-Emissionen, sondern zeigt auch fantastische Ergebnisse, lernt Katharina Cichosch im Frankfurter Architekturmuseum. Denn es erfordert deutlich mehr Einfallsreichtum von allen Beteiligten: "So staunt man über ein Beispiel aus dem US-amerikanischen Baltimore, wo die Initiative 'Black Women Build' Schwarze Frauen in verschiedenen handwerklichen Disziplinen ausbildet, um leerstehende, vom Abriss bedrohte Reihenhäuser renovieren zu lassen. Die nach Denkmalschutzrichtlinien, für niedrige Wohn- und Energiekosten sanierten Häuser können anschließend von den Frauen selbst erworben werden - Kostenpunkt für das gesamte Projekt mit zehn Wohnhäusern: gerade mal gut 1,2 Millionen Euro. Ebenso pragmatisch gedacht und klug gemacht erscheinen die zahlreichen Auf- und Anbauten, mit denen fast oder ganz ohne zusätzlichen Flächenbedarf mehr Wohnraum und Lebensqualität in die Städte kommt. So in der französischen Großwohnsiedlung Cité du Grand Parc. Deren Bewohnerinnen und Bewohner konnten in ihrem Zuhause bleiben, während ein Renovierungsprogramm durch Wintergärten und Balkone mehr Licht, Luft und Platz in die Wohnungen brachte."

In der FAZ ist Peter Kropmanns geradezu geblendet von der Pracht der sanierten Pariser Nationalbibliothek, mit ihrem Labyrinth alter Stadtpaläste und glanzvoller Säle, nur um den verschwundenen Charme des Bibliotheksgartens trauert er.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Co2-Emissionen, Klimakrise

Bühne

Szene aus der "Walküre" in Zürich. Foto: Monika Rittershaus


In Zürich setzt Andreas Homoki mit der "Walküre" Wagners "Ring" fort, in der NZZ sieht Christian Wildhagen hier keine aufregende Interpretation des Werks, aber eine gekonnte Inszenierung: "Der Zusammenbruch im zentralen 'Götternot!'-Monolog ist von niederschmetternder Gewalt - Tomasz Konieczny, viel besser bei Stimme als unlängst in Bayreuth, wächst hier das erste Mal an dem Abend über sich hinaus, auch weil er weite Bögen gestaltet und die Unsitte im Griff hat, exponierte Töne im Piano anzuschleifen. Das zweite Mal folgt im Schlussakt, in der langen Auseinandersetzung mit der Tochter Brünnhilde, die sich gegen den Gott gestellt hat: Je stärker die Walküre sich vom Übervater emanzipiert, desto verletzlicher, menschlicher wirkt der vordem so herrische Gott. Der berühmte 'Abschied', ganz leise, introvertiert und zu nur milde glühendem Feuerzauber gesungen, rüttelt auf: Hier findet sich ein gescheiterter Machtmensch wirklich "in den Trümmern der eig'nen Welt" wieder."

Besprochen werden außerdem Leonardo Vincis Barockoper "Alessandro nell'Indie" in Bayreuth (die FAZ-Kritiker Florian Amort zufolge die Entdeckung des Jahres werden könnte), Paul Abrahams Jazz-Operette "Ball im Savoy" am Prager Staatstheater ("Wie das funkelt", schwärmt Helmut Mauró in der SZ hingerissen, auch von dem "hochmotivierten Ensemble") und Jez Butterworth' Erfolgsstück "Jerusalem" im Staatstheater Augsburg (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

ND-Kritiker Berthold Seliger ist auch weiterhin überwältigt von den Genüssen, die sich beim Musikfest Berlin boten. "Mehr Xenakis wagen", ruft er etwa den Konzerthäusern zu, nachdem er beim Festival "Ais" gehört hat, in dem der griechische Komponist tief aus seinen Erfahrungen im griechischen Widerstand schöpft. Das große Orchester entwickelt "eine geradezu apokalyptische Wucht. Alles entwickelt sich aus einem großen, fanfarischen Urknall der Blechbläser, zunächst unisono, dann in Flächen polyrhythmisch neben- und übereinandergelegt, es folgen erschütternde Schlagzeuggewitter sondergleichen." Und "es ist schier unglaublich, wie Georg Nigl sich in der berserkerischen Auseinandersetzung mit dem Soloschlagzeuger Dirk Rothbrust und dem explodierenden Orchester in eine geschriene Ekstase hineinsteigert, mit Indianergeheul (darf man das heute überhaupt noch so nennen?) und existentialistischem Trauergejammer - um dann in seiner eigenen Stimmlage, dem Bariton, Textzeilen von Homer und Sappho zu deklamieren. ... Eine Komposition am Rande des Abgrunds, des Totenreichs, und nicht selten auch mittendrin. Ein Monster von einem Werk - das dann ganz plötzlich einfach so im Nichts verklingt." Daneben legt uns Seliger das digitale Programmheft zum Abend ans Herz.

Außerdem: Julian Hans freut sich auf ZeitOnline darüber, wie energisch sich die noch zu Sowjetzeiten zu Ruhm gekommene, russische Popmusikerin Alla Pugatschow gegen den russischen Angriff auf die Ukraine positioniert.

Besprochen werden der Saisonauftakt des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Robin Ticciati (Tsp), Marcus Kings Album "Young Blood" (Standard), Konzerte von Biffy Clyro (FR), Arcade Fire (SZ) und Marianne Rosenberg (Welt) sowie neue Popveröffentlichungen, darunter "The Pink Album" von David Holmes' Projekt Unloved (Standard).


Archiv: Musik