Efeu - Die Kulturrundschau

Zu verschwinden, das wäre immerhin etwas

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24.09.2022. Die Documenta ist nun endlich zu Ende. Man hätte mehr mit Ruangrupa, statt über sie reden sollen, meinen die einen. Das hätte auch nichts genützt, erwidern die anderen. Die FR rät, sich zunächst mal bei "Onkel Wanja" in Frankfurt zu entspannen. Die taz lernt in Cem Kayas  Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod"  eine Menge über die türkische Diaspora in Deutschland und ihre Musik. Und die große Hilary Mantel ist gestorben: Sie war "die glänzendste historische Autorin nicht nur ihrer Zeit", da sind sich die Kritiker einig.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.09.2022 finden Sie hier

Literatur

Die britische Schriftstellerin Hilary Mantel ist gestorben. Insbesondere mit ihrer in der Tudor-Zeit angesiedelten Trilogie über den Reformator Thomas Cromwell ("Wölfe", "Falken", "Spiegel und Licht") konnte sie sich in den letzten 15 Jahren als wichtige Stimme der englischsprachigen Literatur etablieren. Sie war "die glänzendste historische Autorin nicht nur ihrer Zeit", zu diesen drei Romanen "gibt es nichts Vergleichbares", schreibt Elke Schmitter auf ZeitOnline. Die Romane nehmen konsequent die Perspektive und damit den historischen Kenntnisstand ihrer Hauptfigur ein, "Mantel schreibt diese Trilogie wie mit einer Handkamera, die zugleich nach innen wie nach außen gerichtet ist und die nicht nur optische und akustische Daten liefert, sondern auch Gerüche und Atmosphären. So befinden sich ihre Leser in einer permanenten Erregung, überfordert und zugleich süchtig nach diesem Zustand, der sie auf Anhieb intelligenter macht - wacher, vitaler, misstrauischer, von schnuppernder Geistesgegenwart."

Aber es gab auch ein literarisches Leben vor Cromwell, ruft Andreas Platthaus auf FAZ.net in Erinnerung: Mit "Brüder" hatte Mantel bereits in den frühen Neunzigern "für die Französische Revolution etwas ähnlich literarisch Beachtliches geleistet wie dann später für die Tudor-Zeit. Ihr auch schon tausendseitiges Stimmenkaleidoskop aus Frankreich machte erstmals deutlich, was Hilary Mantel faszinierte: die Unberechenbarkeit von Geschichte, die aus heutiger Perspektive so klar im Ablauf erscheint, aber sich den Wünschen der seinerzeitigen Akteure trotz größter menschlicher Klugheit, Planung oder Perfidie entzog. Wie sie das vorführte, faszinierte wiederum uns: Die Lektüre von Mantels Romanen lehrt Demut" nicht zuletzt "vor den Fähigkeiten der Autorin, sie in eine Form zu gießen, die historisch-authentisch wirkt und trotzdem unserem gegenwärtigen Literaturverständnis entspricht."

Und Patrick Bahners ergänzt in der Print-FAZ: "Ihre Poetik beruht auf einer Metaphysik des Spiritismus", ausgehend davon, dass Mantel tatsächlich an Geister glaubte. "Die Einbeziehung der Totenwelt in den literarischen Realismus verbindet sich bei Hilary Mantel mit einer Weltanschauung des entschiedenen Rationalismus, die sie auch in ihren Kommentaren zum Zeitgeschehen vertrat, namentlich zu den Erscheinungsformen des englischen nationalen Aberglaubens wie der Monarchie. Diese auf den ersten Blick widersinnige Symbiose von spekulativer Stofffindung und analytischer Denkform war auf den Britischen Inseln schon für das Interesse von Dichtern und Schriftstellern am Übersinnlichen im Übergang zur klassischen Moderne charakteristisch." Paul Jandl verabschiedet sich in der NZZ von einer leidenschaftlichen Republikanerin, von einer beherzten "Kämpferin für die Sache der Wahrheit".

Weitere Nachrufe schreiben Cornelia Geißler (FR), Sebastian Borger (Standard) und Gerrit Bartels (Tsp). Dlf Kultur hält ein Radiofeature von Thomas David über Mantel online bereit. Und ein Linktipp: Die zahlreichen Beiträge, die Hilary Mantel zur London Review of Books beigesteuert hat, finden Sie hier.

Außerdem: Der kürzlich verstorbene Javier Marías (unser Resümee) "war einer der besten Schriftsteller in unserer Sprache", erinnert sich Mario Vargas Llosa in der NZZ, "und derjenige, der die Lektionen Joyce' und Faulkners (...) besser als jeder andere in sich aufgesaugt hatte". Anna Kücking spricht in der taz mit der in Berlin lebenden, ugandischen Schriftstellerin Jennifer Nansubuga Makumbi unter anderem über postkolonialen Feminismus und die afrikanische Mittelschicht. Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Es sind vor allem Männer, die heute noch Ernst Jünger lesen, stellt Carolin Amlinger in der SZ anlässlich der historisch-kritischen Neuausgabe von Ernst Jüngers "Strahlungen"-Tagebüchern fest, die in der SZ und in der FAZ ausführlich rezensiert wird. In seiner Empfehlungsreihe zu ukrainischen Büchern legt uns FR-Kritiker Christian Thomas heute "Die Fünf" von Vladimir Jabotinsky ans Herz. In der NZZ erinnert Andreas Kilcher an die Schriftstellerin Rose Ausländer. Christiane Raabe gratuliert in der FAZ der Schriftstellerin Joke van Leeuwen zum Neunzigsten. Außerdem dokumentiert die FAZ die Laudatio der Schriftstellerin Felicitas Hoppe auf Helge Schneider, der mit dem Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden unter anderem Jennifer Egans "Candy Haus" (taz), Jan Faktors "Trottel" (online nachgereicht von der FAZ), Sigrid Nunez' "Eine Feder auf dem Atem Gottes" (taz), Javier Marías' "Tomás Nevínson" (FR), und Thomas Hürlimanns "Der rote Diamant" (Presse).
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Film

Ein eigenes Starsystem: die Doku "Liebe, D-Mark und Tod"

Ulrich Gutmair staunt in der taz über die Fülle an Material, die Cem Kaya für seinen Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod" über die Geschichte der populären Musik der türkischen Gastarbeiter und deren Kinder zusammengetragen hat: Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft unbemerkt, hatte sich hier von den Sechzigern bis in die Neunziger ein paralleler Musikmarkt entwickelt - mit eigenen Stars, Wirtschaftsstrukturen und diversen Goldenen Schallplatten. Zu sehen gibt es "seit ihrer Ausstrahlung oft nie wieder gezeigte Aufnahmen zeitgenössischer Dokumentarfilme und Fernsehbeiträge. Und wir hören Musik vor allem in türkischer, aber auch in deutscher Sprache. Manchmal wird beides wild durcheinander gemischt wie in der Klage des Duos Derdiyoklar an die geliebte Gabi: Die Liebe zwischen einem Ali und einer Gabi könne den Rassismus von Kohl und Strauß nicht aufheben. Denn die forderten ja Ausländer raus! Derdiyoklar sind mit ihrem Disco-Folk Vorläufer des Rap, der in Deutschland ohne den Witz und den Style der Gastarbeiterkinder nicht denkbar ist." Wir hören rein:



Außerdem: In der Filmbranche tut sich einiges, um die Arbeitsatmosphäre an Sets künftig zu verbessern, berichtet Valerie Dirk im Standard. Reinhard Kleber denkt im Filmdienst darüber nach, warum Remakes von Kinderfilmen so beliebt sind.

Besprochen werden Olivia Wildes Genderthriller "Don't Worry Darling" (Standard, unsere Kritik hier), die Serie "A League of Their Own" über die Geschichte des Frauen-Baseballs (Jungle World) und der beim Zurich Film Festival gezeigte Dokumentarfilm "Girl Gang" über den Karriereweg einer Influencerin (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Ole Schulz berichtet in der taz vom internationalen Musikfestival Nyege Nyege in Uganda, das rechte Gruppierungen beinahe verhindert hätten und das dann auch noch ziemlich chaotisch verlief - aber immerhin "sind musikalisch viele magische Momente zu erleben. Gqom-Sound aus Südafrika, der wie ein ewiges, scheinbar direkt ins Inferno führendes Keuchen klingt, wird nicht nur vom famosen DJ MP3 aus Durban dargeboten, sondern auch vom japanischen Kollektiv TYO Gqom. Ein gutes Beispiel dafür, wie schnell Genres und Stile inzwischen um die Welt wandern. So spielt der Nyege-Nyege-Künstler Chrisman aus dem Kongo ein Set, in dem er brasilianischen Baile Funk ebenso selbstverständlich aufgreift wie angolanischen Tarraxinha, der Kizomba mit Trap verbindet. Zurecht begeistert sind alle von den Singeli-Jungs aus Tansania: Sisso, Maiko und DJ Travellah spielen Hochgeschwindigkeitssound in Endlosloops auf billigen Laptops und PC-Tastaturen. Ihre Musik hat eine treibende punkige Energie, die Euro-Gabba geradezu altbacken aussehen lässt." Ein paar Eindrücke liefert dieses Video auf Youtube:



Besprochen werden eine Box zum 50-jährigen Jubiläum der Krautrock-Legende Neu! (Rolling Stone), ein Auftritt von Tocotronic (taz), Alex Gs "God Save the Animals" (Pitchfork), ein Konzert von Nils Frahm in Berlin (FAZ), ein Brahms-Abend der Wiener Symphoniker (Standard), die Wiederveröffentlichung des Albums "Grounation" von Count Ossie & The Mystic Revelation Of Rastafari (The Quietus) und das neue Album von The Comet is Coming (The Quietus).

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Bühne

Melanie Straub, Heiko Raulin, Ralf Göbel in "Onkel Wanja" von Anton Tschechow. Foto: Thomas Aurin


Okay, Tschechows "Onkel Wanja" hat man schon tausendmal gesehen, trotzdem gefällt FR-Kritikerin Judith von Sternburg die entspannte Version, die Jan Bosse zum Saisonstart auf die Bühne des Schauspiels Frankfurt bringt. Alles ganz normale Menschen hier: "Das Ensemble tummelt sich hier und dort, Melanie Straub verwächst gegen Ende kurz mit einem der vertrockneten Pflanzenskelette, Wolfram Koch kauert einmal wie ein Nachtmahr in der Wand. Zu verschwinden, das wäre immerhin etwas. Es geht nicht, aber man hat Zeit, es zu versuchen, auch wenn man an sich ständig auf dem Sprung ist. Das Leben ein 'Eigentlich müsste man jetzt'. Alles befindet sich in einem Dazwischen, trotzdem kommt nichts nach."  Dieser "Onkel Wanja" endet nicht im Herbst, sondern im Schnee: "Zuletzt also doch: ein wenig russische Wintertristesse", seufzt in der FAZ Kerstin Holm angesichts von Jeans, Westernstiefeln und Joy-Division-Songs, "der Sonja und Wanja aber endlich Sinn abgewinnen - in einer Aussicht auf endlose Arbeitstage, die allein das Jenseits belohnen wird." Nachtkritiker Michael Laages fehlt zwar "ein zentraler Grundgedanke" dieser Inszenierung, die "deutlich härter und hoffnungsloser als üblich" ist, aber die Schauspieler sind wunderbar, schön melancholisch ist es auch, und das Publikum strömt in Scharen und klatscht, also ...

Weitere Artikel: Die nachtkritik publiziert Tom Strombergs Trauerrede zum Tod des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann. Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht der ukrainische Ballettchef Ivan Zhuravlev über seine Flucht und die impovisierte Tournee des Balletts Quatro, dessen künstlerischer Leiter er ist.

Besprochen werden Laura Kaehrs Filmdoku "Becoming Giulia" über die Ballerina Giulia Tonelli (NZZ), Thomas Köcks Stück "Solastalgia" am Schauspiel Frankfurt (nachtkritik) und Mozarts "Cosi fan tutte" am Theater Kiel (nmz).
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Kunst

Maria Lassnig, Mit einem Tiger schlafen, 1975. Sammlung Oesterreichische Nationalbank. © Maria Lassnig Stiftung / Bildrecht, Wien 2022


Niedliche Katzenbilder gibts hier eher nicht, trotzdem ist die große Schau "Das Tier in Dir", die das Wiener Mumok ausgerichtet hat, einen Besuch wert, versichert Maya McKechneay im Standard. Subtext ist hier alles, wenn beispielsweise Maria Lassnig ein Reh malt, "dem die eigene Nachnutzung bereits eingeschrieben ist: Zwar noch mit Fell bewachsen, formt sich der Leib bereits zum Kotelett." Manchmal offenbart sich die Ambivalenz erst auf den zweiten Blick, so bei "'Mutterschaft', eine 30-sekündige geloopte Videoarbeit der Wiener Fotografin Anna Jermolaewa. Mitgebrachte Kinder werden sich an der herzigen Szene freuen: Eine Hündin säugt ihre Welpen. Doch wer genau hinschaut, erkennt, dass das Tier zwischen den Mäulern der Jungen und einer fütternden Menschenhand eingespannt ist wie in einen Schraubstock. 'Mutterschaft' ist ein feministisches Manifest." Und während ihr Blick zwischen Otto Mühl und Valie Export hin und her wandert, fragt sich die Kritikerin: "Wie wirkt das Tier in dir?"

Letzte Resümees zur Documenta 15, die morgen schließt: Wagenburg statt Kommunikation, bescheinigt Johannes Schneider auf Zeit online dem indonesischen Kuratorenteam Ruangrupa, findet aber trotzdem, dass man mehr mit ihnen statt über sie hätte reden sollen: "Da bestimmt die documenta einen Sommer lang maßgeblich die gesellschaftliche Debatte, und diejenigen, die sie erdacht und zusammengestellt haben (auch wenn ruangrupa die Künstlerinneneinladungen zum Teil an andere Kollektive delegiert hat), bleiben leere Signifikanten. Sie selbst haben zweifellos dazu beigetragen. Durch ihre Orientierung an einem globalen Gleichheitsdiskurs einerseits und ihrer Hinwendung an hyperlokale Gesprächsräume andererseits hat ruangrupa sich der nationalen Diskussion entzogen. Das aber hätten wir den Kuratoren nicht durchgehen lassen dürfen, bei allem Respekt und - ja - allem Verständnis für ihre Art, Debatten zu führen oder nicht zu führen."

Mehr reden hätte auch nichts genützt, meint in der Welt Jacob Hayner anlässlich einer gescheiterten Debatte in Frankfurt mit Hito Steyerl, Nele Pollatschek, Julia Yael Alfandari und einem Vertreter der palästinensischen Gemeinde (er kam nicht), solange Dialog immer nur Befindlichkeitsdiagnose ist, statt ans Eingemachte zu gehen: "Müssten nicht überall öffentliche Diskussionen zur postautonomen Kunstauffassung, zur Beständigkeit des Antisemitismus und seiner Voraussetzungen, zu den ideologischen Verstrickungen des modernen Kunstbetriebs stattfinden?"

Außerdem: Abgesehen vom Antisemitismus war das doch eine großartige Documenta, meint im Interview mit der FR der Kunsthistoriker Christoph Grunenberg: "In der Konsequenz und Konzentration, in der sich die Arbeiten auf der Documenta derart weit vom traditionellen künstlerischen Objekt entfernten: ja. Es war schon ein sehr starkes Statement, sogar ein Wendepunkt, möchte ich sagen." Ruangrupas Kuratorenteam hinterlässt einen Scherbenhaufen und eine Spaltung, die dem Anspruch auf Völkersolidarität Hohn spricht, meint hingegen Stefan Trinks in der FAZ. "Es ging um Setzungen, Definitionsmacht, nicht um Austausch", meint Andreas Fanizadeh in der taz und gibt daran auch Findungskommission und Beiräten der Documenta die Schuld, während Sophie Jung die Unterkomplexität des Kunstbegriffs von Ruangrupa beklagt. In der FR kritisiert Lisa Berins ebenfalls die Wagenburgmentalität Ruangrupas, noch entsetzter ist sie aber von den deutschen Documenta-Veranstaltern: "Wenn diese studierten Leute das Problem von antisemitischen Denkweisen nicht auf dem Schirm haben, wie sieht es dann in der Breite der Gesellschaft aus?" In einem zweiten Artikel berichtet Berins über die Frankfurter Diskussionsveranstaltung mit Hito Steyerl. Niklas Maak tut es in der FAS leid um all die Künstler, die in der Antisemitismusdebatte untergegangen sind.

Weitere Artikel: Lothar Müller besucht für die SZ das neue Minsk Museum in Potsdam, Swantje Karich pilgert für die Welt dorthin. Besprochen wird die Schau "Christo und Jeanne-Claude. Paris. New York. Grenzenlos" im Kunstpalast Düsseldorf (NZZ).
Archiv: Kunst