Efeu - Die Kulturrundschau

Die beschwingte Freiheit des Agierens

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2021. Als "beste, konsequenteste" Entscheidung nickt der Tagesspiegel den Leipziger Buchpreis für Iris Hanika ab. Die FR hätte sich noch mehr über einen Preis für Friederike Mayröcker gefreut. In der Literarischen Welt schildert Leila Slimani, wie brutal die Marokkaner die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg wahrnahmen. Armin Petras kämpft nach den Rassismusvorwürfen um seine Existenz, weiß die taz. In der FR ärgert sich Hans Neuenfels darüber, dass am Theater nur noch in Klischees gedacht werde. Und die SZ versenkt sich in den eigentümlichen Philadelphia-Sound des Dirigenten Eugene Ormandy.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2021 finden Sie hier

Literatur

Die Preise der Leipziger Buchmesse sind vergeben: Iris Hanikas "Echos Kammern" wird als bestes belletristische Arbeit ausgezeichnet, Heike Behrends "Menschwerdung eines Affen" als bestes Sachbuch und Timea Tankós Arbeit an Miklós Szentkuthys "Apropos Casanova" als beste Übersetzung. Die Auszeichnung für Hanika kam für Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels, der eher mit Judith Hermann, Helga Schubert oder Christian Kracht gerechnet hatte, dann doch überraschend: Mit seiner Kunstsprache ist "Echos Kammern" zwar unterhaltsam, aber sperrig. Daher ist die Juryentscheidung auch "die beste, konsequenteste gewesen, gerade nach der Schelte für ihre Big-Names-Nominierungen in der Belletristik, die vorherrschende Trends in der aktuellen Gegenwartsliteratur komplett ignoriert hat. Hermann, Kracht und Schubert haben allesamt literarische Bestseller geschrieben. Ihr Bekanntheitsgrad lässt sich mit dem im Gegensatz zum Deutschen Buchpreis etwas weniger Strahlkraft ausübenden Leipziger Messe-Preis kaum steigern. Bei Iris Hanika ist das, obwohl sie schon viele Jahre beachtete Romane und essayistische Erzählungen schreibt, anders. Da ist es an der Zeit für so einen Preis - und ein Publikum, das nicht nur aus Eingeweihten besteht."

Für FR-Kritikerin Judith von Sternburg ist der Preis für Hanika die "zweitgrößte mögliche Überraschung" - die größte wäre die Auszeichnung für die Lyrik von Friederike Mayröcker gewesen. Ausgezeichnet hat die Jury "eine inhaltlich wie sprachlich und kunstsprachlich wagemutige Geschichte mit vielen Spiegeln und Spielen und doch auch Realitätssinn, was das gegenwärtige Leben im gentrifizierten New York und weitgehend gentrifizierten Berlin betrifft, den Städten, in denen sich die sympathisch verknallte Dichterin Sophonisbe tummelt." Dlf Kultur hat mit Hanika gesprochen.

In der Literarischen Welt spricht Leïla Slimani über ihren Roman "Das Land der Anderen", der von den ersten zehn Jahren in Marokko nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt und den Auftakt einer Trilogie über die Geschichte des Landes bildet. Die Nachkriegsjahre wahren "eine extrem chaotische Zeit, die zu einem radikalen Umschwung geführt hat. ... Es war vor allem eine Zeit der Bewusstwerdung. Viele Marokkaner, die an der Seite der Franzosen im Krieg gekämpft hatten, stellten fest, dass die Europäer und vor allem die Franzosen, die als kulturell Überlegene nach Afrika gekommen waren, genauso brutal waren wie die sogenannten Wilden, die sie vorgaben, erziehen zu wollen." Frankreich "hat nicht nur den Krieg, sondern auch seinen Heiligenschein verloren. Auch die Judenfrage spielte dabei eine wichtige Rolle. Der König Marokkos hatte damals den Judenstern verboten. Viele Menschen konnten nicht nachvollziehen, warum Juden in Europa verfolgt wurden."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Michael Krüger reist für die NZZ in Gedanken zurück an den Strand von Ostia, wo er in den 80ern gewesen ist und an der Stelle, an der Pasolini ermordet wurde, den auratischen Schauer der Geschichte spürte. Marko Martin versteht in der Literarischen Welt mit Hermann Brochs Romanfragment "Die Verzauberung" von 1953 unsere Gegenwart ein klein wenig besser. Wieland Freund erzählt in den "Actionszenen der Weltliteratur", wie Daniel Defoe mal am Pranger landete. Im Dlf Kultur erinnert Stefanie Oswalt an die vor 250 Jahren geborene Salonière Rahel Varnhagen. Im "Literarischen Leben" der FAZ stürzt sich Dietmar Dath mit Dante in die tiefste Tiefen, um dort auf den Grundstein des topischen Denkens zu stoßen, auf dem die Neuzeit errichtet wurde.

Besprochen werden unter anderem Mathias Énards "Das Jahresbankett der Totengräber" (NZZ), Mathieu Sapins Comic "Comédie Française - Reisen ins Vorzimmer der Macht" über Emanuel Macron (Filmdienst), Zeruya Shalevs "Schicksal" (taz), Rudolf Bussmanns Essays über seine Reisen durch Nordkorea (online nachgereicht von der FAZ), Leslie Jamisons Essayband "Es muss schreien, es muss brennen" (taz), "Berlin wird Berlin" mit wiederentdeckten Feuilletons von Alfred Kerr (Literarische Welt), ein Gesprächsband mit Marguerite Duras und Jean-Luc Godard (SZ) sowie Dagmar Nicks Lyrikband "Getaktete Eile" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Es braucht einen Wandel am Theater, sagt Hans Neuenfels im großen FR-Interview, das Claus-Jürgen Göpfert anlässlich des 80. Geburtstages mit dem Regisseur und seiner Frau Elisabeth Trissenaar geführt hat. Es gehe am Theater heute meist nur noch um "Äußerlichkeiten", meint er, erklärt aber auch, woran das einst in Frankfurt begründete Mitbestimmungsmodell scheiterte: "Es ist sehr schwierig, an den Theatern grundlegende Reformen einzuführen. Die Regie und der Schauspielberuf, aber auch die Psychologie, die ein Theater besitzt, sind sehr alt. Es gibt sie seit Jahrhunderten. Man sieht das jetzt an dem Versuch von Schauspielerinnen und Schauspielern, auf die Probleme durch die Corona-Pandemie aufmerksam zu machen. Das ist total verkehrt gelaufen. Das lag aber auch daran, dass die Teilnehmenden nicht miteinander gesprochen haben, sich nicht ausgetauscht haben. Sie haben wahnsinnig in Klischees gedacht und gehandelt. Eine Gefahr des Schauspielberufs ist, dass man sehr auf sich bezogen ist."

Für die Reportage-Seiten der taz rekonstruiert Anna Fastabend noch einmal minutiös die gesamte Debatte um die Rassismusvorwürfe gegen das Düsseldorfer Schauspielhaus (Unsere Resümees), auch mit vielen Beteiligten hat sie gesprochen: Armin "Petras kämpft gerade um seine Existenz. Er verstehe nicht, warum ausgerechnet er im Mittelpunkt einer Rassismusdebatte stehe, wo es viel problematischere Regisseure gebe. Trotzdem habe ihn diese Erfahrung zum Nachdenken gebracht. Er spricht von einer verschobenen Selbst- und Fremdwahrnehmung, von seiner Teilnahme an Workshops zu Critical Whiteness, und davon, dass er in seiner aktuellen Produktion am Schauspielhaus Hannover Rassismen, Diskriminierungen und problematische Darstellungsweisen mit seinem Ensemble permanent diskutiere."

Bild: Thomas Rabsch

Eine Spur zu viel Spektakel erlebt Nachtkritiker Sascha Westphal derweil am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo Roger Vontobel Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Wagner-Überschreibung: "Das Rheingold. Eine andere Geschichte" als Open-Air-Uraufführung inszenierte: "So wird das Rheingold von einem achtköpfigen Skater-Ensemble symbolisiert, das mal über die Spielfläche tanzt, mal über sie torkelt und so Bilder für den Wandel dieses Schatzes und der Welt schafft. Nur verdecken all die Effekte den Kern der Figuren eher, als dass sie ihn freilegen. Von den meisten Auftritten bleiben kaum mehr als Äußerlichkeiten. Das Offensichtliche lässt kaum Raum für die Nuancen, die Zaimoglu und Senkel immer mitdenken."

Außerdem: Eine Petition fordert, Josephine Baker ins Pantheon in Paris aufzunehmen. Für die Seite 3 der SZ hat Nadia Pantel mit Brian Baker, einem der Adoptivsöhne Bakers und Mitunterzeichner der Petition über den Rassismus, der Baker entgegenschlug, aber auch über ihr Tätigkeit für die Resistance gesprochen. Mit seinem "rigiden Kunstwillen und durchwegs unkonventionellen Spielplänen" hat Serge Dorny dafür gesorgt, "dass die Opéra de Lyon sich von einer mittleren Provinzbühne zum Mekka der Opern-Aficionados entwickelte", jubelt Eleonore Büning in der NZZ, die Barry Koskys Inszenierung von Nikolai Rimski-Korsakows "Zum Goldenen Hahn" bespricht und gespannt ist, was Dorny künftig an der Bayerischen Staatsoper auf die Beine stellen wird. In der FAZ schreibt Wiebke Hüster zum Tod der italienischen Ballerina Carla Fracci. Im Standard-Video-Interview spricht Kay Voges über seine Pläne für das Wiener Volkstheater.

Besprochen werden eine virtuelle Vorstellung nach Kafkas "Der Bau" am Schauspiel Graz (Standard) und Olivier Tambosis und Simon Eichenbergers Inszenierung von Stephen Sondheims Musical "Into the Woods" an der Wiener Volksoper (Standard).
Archiv: Bühne

Kunst

Wie die KünstlerInnen des Informel versuchten, allem Ideologischen zu widerstehen, erfährt Cara Wuchold im Freitag in der Berliner Galerie Nothelfer, die in der Ausstellung "All I Think About Is You" informelle Positionen bis in die Gegenwart versammelt: "Bei Michael Buthe waren Künstler und Kunstwerk kaum mehr auseinanderzuhalten. Alltagsfragmente brachte er in eine künstlerische Form. In der Ausstellung ist er mit zarten Zeichnungen auf Collagen (Untitled, 1967) aus Abrisspapier, leichtem Karton und Klebestreifen zu sehen. Auf Durchschlagpapier greift die Künstlerin Nadine Fecht zurück. 'Ich Ideal', so auch der Titel der Zeichnung (2018), steht da in Großbuchstaben in scheinbar endloser Reihung und abnehmender Stärke auf leicht versetzt und akribisch übereinandergelegten, transparenten Archivbögen. Pro Zeile einmal in herkömmlicher Schreibweise, einmal spiegelverkehrt. Eine mantraartige Beschwörungsformel, die viel erzählt über unsere Gegenwart."

Weiteres: Eine Petition namens #metoomarilyn fordert, die vom Palm Springs Museum 2012 bei dem Künstler John Seward in Auftrag gegebene und ebendort aufgestellte Marilyn-Monroe-Statue zu entfernen, weil sie "frauenverachtend und hypersexualisiert" sei, meldet Sarah Pines in der Welt und nimmt das zum Anlass, um auch an die dichtende, "intellektuelle" Marilyn zu erinnern, die eine "beeindruckende Bibliothek" besaß: "Robert Frost, Dostojewski, Platon, Freud, Abraham Lincoln, die neuesten Theaterstücke." Für die FR blickt Stefan Brändle auf die Pläne der neuen Louvre-Chefin Laurence de Cars. Besprochen werden die Ausstellung "Send me an Image: From Postcards to Social Media" im C/O Berlin (taz), die Ausstellung "Rembrandts Orient" im Potsdamer Museum Barberini (FR) und die Ausstellung "Bernini, der Papst und der Tod" in der Dresdner Galerie Alte Meister am Zwinger, die auch einen wiederentdeckten marmornen Totenschädel Berninis zeigt.
Archiv: Kunst

Film

Marion Löhndorf gratuliert in der NZZ dem in der DDR einst als Pendant zum "Tatort" gegründeten "Polizeiruf 110" zum 50-jährigen Bestehen. Die vom Schriftsteller Clemens Meyer geschriebene, morgen ausgestrahlte Jubiläumsfolge bespricht Sylvia Staude in der FR ("Man traut sich was an der Saale") und der Schauspieler Andreas Schmidt-Schaller erinnert sich in der SZ daran, wie gerne er zu DDR-Zeiten den für DDR-Verhältnisse fast schon schluffig-alltagsnah auftretenden Ermittler Thomas Grawe spielte, der in der aktuellen Episode einen Gastauftritt hat: "Ich durfte eine Lederjacke tragen. Ich sah bodenständig aus, wie ein ganz normaler Mensch. Diesen neuen Akzent zuzulassen war ungewöhnlich, denn der größte Unterschied zum westdeutschen 'Tatort' bestand ja darin, dass beim 'Polizeiruf' immer der Täter im Mittelpunkt stand - und nicht wie beim 'Tatort' der Kommissar. Allerdings gab es im 'Polizeiruf' - lange Zeit zumindest - keine Kapitalverbrechen, weil es ja in einem idealen sozialistischen Staat eigentlich gar keine Verbrechen geben durfte."

Weitere Artikel: Auf Artechock empfiehlt Rüdiger Suchsland die Dokumentarfilme von Sergeij Loznitsa, die derzeit auf Mubi zu sehen sind. Dunja Bialas berichtet auf Artechock von der aktuellen Kurzfilmwoche Regensburg. Michael Ranze schreibt im Filmdienst über die Filme des Briten Peter Strickland, dessen "Exkursionen ins Skurril-Fantastische" ohne "Berührungsängste vor dem Exploitation-Kino" stattfinden und der sich dabei "selbstsicher zwischen Anspruch und Trash, Kunst und Genre bewegt".
Lutz Herden erinnert im Freitag an die Verfilmung von Döblins "Berlin Alexanderplatz" aus dem Jahr 1931, in der Heinrich George Franz Biberkopf spielte.

Besprochen werden Ivan Ayrs "Milestone" (Artechock, mehr dazu bereits hier), die Serie "Halston" mit Ewan McGregor in der Rolle des gleichnamigen Modedesigners (Freitag, mehr dazu bereits hier), die Stoptrickserie "Marvel's M.O.D.O.K." (FAZ) und der Disney-Film "Cruella" mit Emma Stone (ZeitOnline).
Archiv: Film

Architektur

Italiens Kulturminister Dario Francheschini plant, das römische Kolosseum mit einem 18,5 Millionen teuren Hightechboden auszurüsten, um es nach 1500 Jahren wieder in Betrieb zu nehmen, meldet Tanja Schultz in der taz: "Damit nicht genug, werden auch Teile der ausgeklügelten Bühnentechnik mit ihren Käfigen und Lastenaufzügen rekonstruiert. Der Tourist soll in Zukunft nicht nur die Arena wie ein antiker Gladiator betreten, er soll sich auch den stickig-schummrigen Arbeitsort der etwa zweihundert Sklaven unter Tage besser vorstellen, die auf gebrüllte Befehle von einer Winde zu anderen hetzten. Er soll sehen, wo die zum Tode Verurteilten ihre letzten Minuten verbrachten, wie riesige Landschaftskulissen hochgezogen wurden, und er soll den Überraschungseffekt einer plötzlich aufgehenden Falltür erleben."

Außerdem: In der FAZ begrüßt Ulf Meyer die geplante Rekonstruktion des Revolutionsdenkmals, das Mies van der Rohe im Auftrag des KPD-Funktionärs Eduard Fuchs auf dem Friedhof Friedrichsfelde für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht errichten ließ und für dessen Wiederaufbau sich nun der Architekturhistoriker Carsten Krohn einsetzt.
Archiv: Architektur

Musik

Helmut Mauró versenkt sich für die SZ ins Schaffen des Dirigenten Eugene Ormandy, dessen 150 Aufnahmen mit dem Philadelphia Orchestra, das er "sagenhafte 44 Jahre" lang leitete, nun auf CD vorliegen. Noch heute spricht man vom "Philadelphia Sound", den Ormandy prägte: "Dieser orchestrale Sound zeichnet sich gerade nicht dadurch aus, dass er besonders eigentümliche Klangfarben oder extremen Ausdruck kultiviert." In den vorliegenden Aufnahmen hört man "auf wunderbare Weise, wie sich die Größten - Zino Francescatti etwa, einer der wunderbarsten Geiger des 20. Jahrhunderts - zusammenfinden im Dienst der Sache. Auch Robert Schumanns a-Moll-Klavierkonzert wandelt sich vom rumpeligen Showpiece unversehens zu einer kongenial verschmelzenden Klaviersymphonie, die anfänglich etwas pompösen Ausbrüche Rudolf Serkins weichen einer beschwingten Freiheit des Agierens. Der aus eigenem Erleben, aus sicherer Erfahrung gestützte Glaube an die Kraft des Melodischen, wie sie bis ins 20. Jahrhundert hinein außer Zweifel stand, bringt am Ende auch hier die dickeren Früchte."

Besprochen werden außerdem das neue Album von K.I.Z. (ZeitOnline, SZ), ein Konzert des Danish String Quartets im Berliner Boulez Saal (Tagesspiegel) und die Debüt-EP von Cloud Of I (taz). Wir hören rein:

Archiv: Musik