Ungewöhnlich differenzierte Töne hört Welt-Kritiker Alexander Gutzmer bei der Architekturtriennale im arabischen Emirat Schardscha. Das hätte er gar nicht erwartet, schließlich sei die Veranstaltung im konservativen Emirat eigentlich dazu prädestiniert, den "westlichen Ex-Kolonisatoren" mal "so richtig den Spiegel vorzuhalten". Die Nuancen kann Gutzmer auch in den ausgestellten Projekten erkennen: "Das Scheitern modernistischer Planungsideale ist auch in der vielleicht faszinierendsten, aber auch ambivalentesten aller Installationen zu besichtigen: dem 'Betonzelt', welches das Künstlerduo Sandi Hilal und Allessandro Petti im Ort Al Madam errichtete, gut eine Autostunde von Downtown Schardscha entfernt. Dieses Al Madam ist an sich schon an Absurdität nicht zu überbieten: Ursprünglich als modernes Musterdorf in der Wüste geplant, musste das ambitioniert geplante Projekt schließlich aufgegeben werden - der ständig in die modern gestalteten Häuser wehende Sand war einfach zu enervierend. Jetzt hat der Sand die Komplettkontrolle über die Gebäuderuinen übernommen. Nomadische Lebensstile und abstrakt moderne Gesellschaftsentwürfe kontrastieren hier."
Nikolaus Bernau besucht für die FAZ eine internationale Konferenz im Staatlichen Kunstmuseum von Taschkent. Die Bauten der usbekischen Hauptstadt aus der Sowjetzeit sollen unter dem Titel "Tashkent modernism" als Unesco-Weltkulturerbe vorgeschlagen werden. Einige Fragen bleiben dabei offen: "Über alle Technik hinaus kommt die soziale Frage: Wie kann man die Geschichte eines ausdrücklich kollektivistisch angelegten Baus wie etwa des Zhemchug-Turms auch im Zeitalter individuellen Wohnungsbesitzes erhalten? Er wurde als eine Art modernes Mahalla-Viertel gedacht: Die Wohnungen sind hier allerdings nicht horizontal um Gassen angelegt, sondern vertikal um einen gemeinsamen, dreigeschossigen Lufthof. Doch auf die Frage, ob dieses Modell von 1980, in dem Egalität, sozialer Zusammenhalt, Tradition und Modernismus zusammenkommen sollten, auch funktioniert habe, wird trocken geantwortet: nein, nie. Die Bewohner haben sofort angefangen, sich die Balkone als weiteren Wohnraum auszubauen, und die Hofterrassen mit Pflanzen so zugestellt, dass sie einen - immerhin reizvollen - Garten erhielten. Wie in jenen Hofhäusern, die für die Taschkenter Moderne weichen mussten. Sind diese Bewohner nun in das Welterbe-Projekt eingebunden? Bisher nicht."
Peris+Totale, Living Lattice, Bon Pastor, Barcelona
In der FAZ singt Klaus Englert eine Hymne auf den vorbildlichen sozialen Wohnungsbau der Architekten Peris + Total in Barcelona. Zuletzt errichteten sie im nördlichen Viertel Bon Pastor, wo hunderte maroder einfacher Arbeiterwohnungen abgerissen worden waren, "einen Block mit 54 Sozialwohnungen in unmittelbarer Nähe der Häuschen... Der jetzt fertiggestellte Neubau grenzt nördlich an die überdeckelte Autobahn der Ronda Litoral und den dahinter sich erstreckenden Rio Besòs. Für die ehemaligen Bewohner der Casas Baratas dürfte der Verlust schmerzlich sein, weil sie ihre Wohnungen in den Straßenraum verlängerten. Den Mangel versuchten Peris + Toral nun durch intelligente Wohnungsgrundrisse auszugleichen, die gute Belüftung und natürliche Belichtung garantieren. Hinter dem Eingangsbereich des abgeschlossen wirkenden Wohnblocks tun sich Grünflächen auf. So verfügen die Bewohner im Erdgeschoss über einen kleinen Garten, während die Mieter der oberen vier Geschosse im Gegenzug eine Terrasse mit Rankgerüsten sowie den Ausblick über die Flusslandschaft des Rio Besòs erhalten." Bon Pastor soll Teil eines neuen "Ökodistrikts" werden. Ob sich Arbeiter dann noch dort Wohnungen werden leisten können, bleibt allerdings abzuwarten.
Das Hotel Solvay in Brüssel. Entworfen von Victor Horta. Foto: Max Delvaux. Mit dem belgischen Architekten Victor Horta verbinde man gemeinhin "Stadthäuser für Jugendstil-Feen - nicht einen Tempel für moderne Musen", meint Marc Zitzmann in der FAZ. Aber genau in einem solchen findet sich der Kritiker in der Ausstellung "Victor Horta et la grammaire de l'Art nouveau" im Palais des Beaux-Arts in Brüssel wieder, der seinem Erbauer eine opulente Schau widmet: "Das 1893 errichtete Hôtel Tassel macht hier den Anfang: Es gilt als eine der frühesten Hervorbringungen des Art nouveau. Die Sichtbarkeit der eisernen Trägerstrukturen, die 'wasserpflanzliche' Anmutung des Dekors und die Erhebung eines Wintergartens zum Herzen des Baus zeugen vom Einfluss von Eugène Viollet-le-Duc, von japanischen Estampen beziehungsweise von Hortas Mentor Alphonse Balat, dem Architekten der Königlichen Gewächshäuser von Laeken. Aber die Fusion einer Halle mitsamt Treppe, deren Dekor an geschwungene Stängel gemahnt, und eines Wintergartens unter Glasdach zu einem Gesamtkunstwerk, das das Wachstum zum Licht des Wissens hin allegorisiert, ist dem Dialog mit dem Bauherrn entsprungen, einem Universitätsprofessor mit literarischen, philosophischen und auch fernöstlichen Interessen. Hortas Stadthäuser bilden oft derlei gebaute Porträts ihrer Auftraggeber."
Das ehemalige Diesterweg-Gymnasium in Berlin Wedding steht seit 2019 unter Denkmalschutz. Und zwar, findet Falk Jaeger im Tagesspiegel, zurecht. Denn der 1974 bis 1976 errichtete, "von Hans-Joachim-Pysall (Pysall Jensen Stahrenberg Architekten) entworfene Bau hat perfekt funktionierende Grundrisse und ist aufgrund seiner Modulbauweise und umsetzbarer Systemwände als flexible Nutzungsstruktur gedacht. Die am Fahrzeugdesign orientierten, leuchtend orange beschichteten 'Soft-Edge-Fassaden' mit abgerundeten Kanten und Fensterecken sind Ausdruck der Pop-Art jener Zeit." Nur, warum wird das Gebäude derzeit nicht als Schule genutzt und rottet vor sich hin? Man kann sich, mit Blick auf Berlin, die Antwort fast denken: "Die nötigen 60 Millionen Euro [Erhaltungskosten] sind nicht aufzutreiben. Man träumt von einem Modellvorhaben energetische Sanierung, doch das Vorhaben steht auf keiner Perspektivliste und ist aus der Finanzplanung gestrichen worden. Das Kulturdenkmal wird noch viele Jahre Leerstand und Vandalismus ausgesetzt sein, als Unkulturdenkmal für die Schul- und Finanzmisere des Landes."
Der Architekt Rob Krier, ein gebürtiger Luxemburger, der lange in Berlin aktiv war, ist tot. Im Tagesspiegel verfasst Bernhard Schulz einen Nachruf. Besonders prägend war seine Arbeit für eine Nachbarstadt Berlins: "Richtig Stadt konnte Rob Krier mit seinem Büropartner Christoph Kohl ab 1997 in Potsdam realisieren, mit dem Kirchsteigfeld auf 60 Hektar Fläche. 2500 Wohneinheiten entstanden nach einem Plan, der an manche Gartenstadt um 1900 erinnert, mit Häusern von ganz verschiedenen Architekten. Denn nichts verabscheute Krier so sehr wie das Serielle der Moderne. Überhaupt war die Moderne für Krier der Quell allen städtebaulichen Übels."
In der Zeit schreibt Hanno Rauterberg gegen eine "Verkistung" der Architektur an. Künstliche Intelligenz führt zu einer neuen Form des Wohnens - mit dem "Smarthome" gestaltet der Mensch ein Zuhause, das alles über ihn weiß und zur "Schaltzentrale des Lebens" wird, meint Rauterberg. Für viele Architekten scheinbar eine reizvolle Aussicht, stellt der Kritiker fest, allerdings hat das ganze auch eine negative Seite: "Denn je maschinenhafter ihre Bauten ausfallen, je mehr diese von Schaltkreisen und Messgeräten durchzogen werden, desto weniger geht es um Ästhetik ... Wie alle gestalterischen Berufe wird auch der des Architekten mit immer raffinierteren Algorithmen konfrontiert, mit einer künstlichen Intelligenz, die kurzerhand genau das Gebäude entwirft, das sich der Investor wünscht, kostenoptimiert und unter Berücksichtigung sämtlicher Auflagen und Vorschriften. Die Arbeit von Wochen, per Knopfdruck erledigt. Und wenn dabei nur monotone Würfelware herauskommt, auch nicht schlimm. Schließlich sehen die meisten Siedlungen draußen am Stadtrand schon heute so aus, als hätte sie irgendein Roboter dort hingeklotzt." Rauterberg plädiert stattdessen für eine neue Sinnlichkeit der Architektur: "Worum es gehen könnte, wären Häuser mit Eigensinn und Eigensinnlichkeit. ... Um es mit Marcuse zu sagen: Es braucht eine Erotisierung der Architektur, fern der instrumentellen Vernunft."
Berlin: Kaufhaus Lafayette, Foto: Wladyslaw Sojka, Free Art License
Weiterhin viel diskutiert wird in Berlin der von Kultursenator Joe Chialo ins Spiel gebrachte Plan, die Berliner Zentral- und Landesbibliothek im Gebäude des Lafayette-Kaufhauses an der Friedrichsstraße unterzubringen (unser Resümee). Auf einer von der Stiftung Zukunft Berlin organisierte Gesprächsrunde wurde nun, wie Nikolaus Bernau im Tagesspiegelberichtet, ein weiteres Mal Unterstützung laut: "Bei dieser Veranstaltung plädierten nun auch der Architekt Juan Lucas Young von Sauerbruch Hutton Architekten, der Regionalökonom Lech Suwala und der Stadtplaner Urs Kohlbrenner ähnlich vehement für den Umzug. Kohlbrenner verwies auf die Kriterien seiner Bibliotheksstandort-Untersuchungen von 2008: 'Wenn ich einen Großteil der damaligen Argumente anwende - dann ist das Lafayette eine Möglichkeit.' Zudem sei mit diesem Projekt für die Gesellschaft und die Politik 'ein Blumentopf' zu gewinnen - bei einem Erweiterungsbau für die Amerika-Gedenkbibliothek, der ja auch immer noch im Gespräch ist, ginge alles seinen gewohnten Gang, so Kohlbrenner. Beim Lafayette-Projekt aber seien vollkommen neue Ideen möglich." Allerdings: Die Zeit drängt, und Teile der SPD sind, warum auch immer, gegen den Plan.
In der taznimmt Philine Bickhardt die Architektur der "sowjetische Moderne" in Usbekistan und Kirgistan in den Blick. Überall sieht Bickhardt in Taschkent die Beton-Plattenbauten, die hier gar nicht trostlos sind, sondern "in dieser Stadt mit Mosaiken und Ornamenten liebäugeln, zumeist auch usbekischen Motiven." Langsam bilden sich einige wenige Initiativen, die versuchen, dieses kulturelle Erbe zu bewahren, aber die Politik hat ganz andere Interessen, seit 2016 lässt der Staat reihenweise Häuser abreissen, so die Kritikerin, tausende Menschen werden wohnungslos, die historischen Bauten zerstört: "Neugebaut wird im westlichen Stil. Die neuen Business-Skyliner und Wohnkomplexe sind jedoch weder für eine breite Bevölkerung erschwinglich, noch reicht etwa der durchaus beeindruckend in den Himmel hinaufragende, 266,5 Meter hohe Tower im Stadtzentrum Taschkents 'Nest One' ästhetisch an das heran, was die Platten bieten."
Weiteres: Maritta Adam-Tkalec nimmt uns in der Berliner Zeitung mit auf einen Rundgang durch das Kino International in Berlin. Und versucht herauszufinden, wie das Gebäude nach der Sanierung aussehen wird. Wird der Charme des, wie wir lesen, zweifach denkmalgeschützen Baus ("als Teil des Ensembles Karl-Marx-Allee" und als "herausragendes Beispiel der Ostmoderne") erhalten bleiben?