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31.05.2021. In der SZ fürchten die Fotografen Thomas Demand, Annette Kelm, Thomas Struth und Wolfgang Tillmans um das Bundesinstitut für Fotografie, das im Streit um Standorte und Schulen zerrieben zu werden droht. In der taz setzt die Künstlergruppe ruangrupa für die Documenta15 auf das Prinzip Reisscheune. Die SZ fragt mit Blick auf die DDR-Geschichte, wo in der Literatur eigentlich das offene Gespräch unter Ostdeutschen stattfindet. Nicht einmal die eigenen Nestbeschmutzer gelten noch was am österreichischen Theater, klagt die NZZ.
Die FotografInnen Thomas Demand, Annette Kelm, Thomas Struth und Wolfgang Tillmans haben sich zum SZ-Gespräch versammelt, um sich gemeinsam für das Bundesinstitut für Fotografie ins Zeug zu legen, das im Streit um den Standort - Düsseldorf oder Essen - zerrieben zu werden droht. Tillmans etwa meint: "Das Institut sollte ja meinem Wunsch nach ohnehin das ganze Medium umfassen: Polizeifotografie, Hochzeitsfotografie, Reisefotografie. Das ist das Besondere an dem Medium, dass es erst mal gar nicht kunstvoll ist. Das sind alles Negativstreifen oder Bilddateien. Ich finde es wichtig, dass diese verschiedenen Materialitäten - auch die immaterielle digitale Materialität - erhalten bleiben, spürbar bleiben, und da drauf geschaut werden kann in Zukunft. Nun zielt das Konzept von Düsseldorf nur auf Kunstfotografie, vermutlich vor allem der Düsseldorfer Schule, die Essener haben sich auf die Aufnahme von 30 Nachlässen festgeschrieben, und ich finde beides zu eng gefasst."
Auch ein Teil von Lumbung: Das kenianisch Wajukuu Art Project. Foto: Documenta15 Im taz-Interview mit Tilman Baumgärtel sprechen Reza Afisina, Iswanto Hartono und Farid Rakun von der indonesischen Künstlergruppe ruangrupa über ihr Verhältnis zu Joseph Beuys, über das Establishment in der Kunst und wie sie mit dem Prinzip lumbung (Reisscheune) auf der Documenta15 dagegen angehen wollen: "So nennt man einen Bau, in dem die Ernte eines Dorfes gelagert und nach gemeinsam bestimmten Kriterien verteilt wird. Es ist also eine Möglichkeit, Ressourcen kollektiv zu verwalten. In der Kunstwelt werden viele Ressourcen sehr hierarchisch verteilt, Geld zum Beispiel, oder auch Informationen, Wissen, Raum, Zeit, Netzwerke. Bei der documenta 15 benutzen wir den Ausdruck 'lumbung', um eine Art kollektiven Ressourcenfundus zu bezeichnen, der auf dem Prinzip von Gemeinschaftlichkeit beruht. Im Mittelpunkt von 'lumbung' stehen die Vorstellung und der Aufbau dieser geteilten Ressourcen für neue Nachhaltigkeitsmodelle und kulturelle Praktiken."
Weiteres: FAZ-Kritiker lässt sich vom Glanz der Friedrichwerderschen Kirche betören, die nach acht Jahren Umbau mit der Ausstellung "Ideal und Form" wieder eröffnet. Mattias Alexander schreibt in der FAZ zum Tod des israelischen Bildhauers und Land-Art-Künstlers Dani Karavan, zu dessen Arbeiten unter anderem das Mahnmal für die Ermordung der Sinti und Roma in Berlin gehört, im Tagesspiegelschreibt Nicola Kuhn.
Nick Romeo Reimann in Thomas Bernhards "Theatermacher". Foto: Nikolaus Ostermann / Volkstheater Jetzt wird an Wiens Theater sogar Thomas Bernhard dekonstruiert, klagtNZZ-Kritiker Bernd Noack nach Kay Voges' Inszenierung "Der Theatermacher" am Volkstheater und Lucia Bihlers "Die Jagdgesellschaft" im Akademietheater. Wie hier Bernhards Text einer "chaotischen und unstimmigen Bilderwut" geopfert werde, findet Noack nicht nur traurig: "Nicht einmal der einstige Nestbeschmutzer gilt im eigenen Land noch etwas. Wenn man sich einst empörte über Beschimpfungen und Beleidigungen, die sich durch Bernhards Theater wie rote Fäden ziehen, findet man heute seine Wut auf Österreich, wo ja vor allem Nazis und Katholiken das Sagen hätten, offenbar nur mehr fad. Hier, wo gerade Korruption und undurchsichtige Ibiza-Connections in der Wirklichkeit für größte Unruhe sorgen sollten, verklingt seine Klage über Niedertracht und Dilettantismus nun in Regieeinfällen, die sich allein darin gefallen, Bernhards Hassliebe zu Bühne und Schauspielerei übermütig zu strapazieren."
Im Standard-Interview erklärt Regisseur Kay Voges, dass er tatsächlich mit seinem Einstand am Volkstheater - anders als Claus Peymann vor fünfunddreißig Jahren - vorhatte, "das verschnarchte Österreich" aufzurütteln: "Es ging uns darum, unsere starken Schauspielerinnen und Schauspieler zu präsentieren. Das Stück bietet eine Reihe an fantastischen Rollen. Und wir wollten einen ersten Vorgeschmack liefern der ästhetischen Spannbreite, die das Volkstheater bieten wird: von klassischem Schauspiel bis hin zu experimentelleren Spielweisen."
Weiteres: Dorion Weickmann liefert in der SZ den neuesten Stand in den juristischen Auseinandersetzungen um Berlins Staatliche Ballettschule nach den Vorwürfen der Kindeswohlgefährdung. In der SZgratuliert Wilfgang Schreiber dem Regisseur Hans Neuenfels zum Achtzigsten, im Tagesspiegelwürdigt ihn Peter von Becker auch als "Bühnenberserker", in der FAZ Katharina Wagner als Universalgenie. In der Nachtkritikberichtet Natasha Tripney von der Wiedereröffnung der britischen Theater.
Besprochen werden Christoph Marthalers Hölderlin-Abend "Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten" am Hamburger Schauspielhaus (Nachtkritik), John Neumeiers "Beethoven-Projekt II" an der Hamburger Staatsoper (Welt), Händels "Agrippina" an der Hamburger Oper mit Julia Lezhneva (FAZ) und WiebkePuls' Performance "Money Makes Me Cry" an den Münchner Kammerspielen (SZ).
Wenn sich die deutsche Literatur seit der Wiedervereinigung mit der DDR beschäftigt, dann ausschließlich aus der Opferperspektive, ist SZ-Kritiker Felix Stephan aufgefallen: Dafür, dass der größte Teil der Bevölkerung sich im Land eingerichtet und mit kleinen und größeren Kompromissen arrangiert hat, fehle jedoch bislang der literarische Ausdruck. "Von den Einverstandenen und den Profiteuren, den Passiven und den Karrieristen ist in den DDR-Erzählungen der Nachwende kaum die Rede. Sie treten in erster Linie als fait social auf, als diffuse Gefahrenquelle und Spannungshintergrund, oder als trottelige Apparatschiks. Die Diktatur sind die anderen." Ein möglicher Grund: "Der implizite Adressat dieser Romane ist westdeutsch. Für ein öffentliches Gespräch der Ostdeutschen untereinander, in dem es um die persönliche Verantwortung hätte gehen können, gab es in dieser Konstellation weder einen Raum noch einen Markt."
Außerdem: Trotz verregneter Außenveranstaltungen freut sich Andreas Platthaus in der FAZ, dass man bei "Leipzig liest", der Ersatzveranstaltung der Leipziger Buchmesse, endlich wieder unter Leuten Literatur erleben konnte. Auch Gerrit Bartels vom Tagesspiegelatmet auf, dass er nicht am Bildschirm sitzen muss, sondern tatsächlich vor Ort in der "sächsischen Metropole" sein, dort auf einen "herumfrotzelnden" Clemens Meyer treffen und mit SophiePassmann über Berliner Wohnlagen klönen darf.
Besprochen werden unter anderem LeïlaSlimanis "Das Land der Anderen" (Standard), MathiasÉnards "Das Jahresbankett der Totengräber" (Standard), FangFangs "Weiches Begräbnis" (Standard), Joseph Andras' "Kanaky" (taz), Megan Hunters "Harpyie" (Freitag), LisaKrusches Debütroman "Unsere anarchistischen Herzen" (FR), Arnon Grünbergs "Besetze Gebiete" (Standard) und AdamZagajewskis Essayband "Poesie für Anfänger" (NZZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Guntram Vesper über CarlZuckmayers "Morituri":
"Truppen marschieren bei Nacht. Alle Gesichter sind gleich..."
Die Netflix-Miniserie "Halston" über das Leben des Modedesigners Roy Halston Frowick hätte nun wirklich ein Fest des Exzesses werden können, seufzt ein sehr enttäuschter Daniel Moersener in der Jungle World: "Halstons US-amerikanischer Habitus des self-mademan, seine unprätentiösen, aber eleganten Designs, das New York der Siebziger und Achtziger mit all seinen Ausschweifungen ... Doch das Resultat ist dann doch am meisten das: fad." Stattdessen gehen weite Teile der Strecke für "ermüdende Business-MeetingsundMeditationen" drauf: "Es hätte alles so extravagant und sinnlich, so grenzüberschreitend und maßlos frivol sein können. "
Besprochen werden GoranKapetanovićsNetflix-Serie "Kalifat", die uns tazlerin Katharina Granzin wärmstens (wenn auch ein bisschen spät) ans Herz legt, die Doku "Wirecard - die Milliardenlüge" (Freitag), die von AnjaMarquardt inszenierte dritte Staffel der Serie "Girlfriend Experience" (Freitag), Susanna Nicchiarellis Kostümfilm "Miss Marx" (Standard) und Disneys "101 Dalmatiner"-Prequel "Cruella" mit EmmaStone (Tagesspiegel, FR).
Beim vorsichtig unter Leuten stattfinden MozartfestinWürzburggerätFAZ-Kritiker Jan Brachmann ins Philosophieren, wenn dort etwa Gérard Caussé oder RenaudCapuçon überlieferte Instrumente spielen, die Mozart selbst schon in Händen gehalten hatte. "Als sich beide in der innig bebenden Kadenz des todtraurigen Mittelsatzes von Mozarts Sinfonia concertante KV 364 vereinen, wird das seltsame Wechselspiel von Ferne und Nähe dieser Musik zu einem dichten Gleichnis: Das Alte, das die Spuren der Zeit trägt, spricht als Versehrbares ebenso zu uns wie die scheinbar alterslose Schönheit, die über die Jahrhunderte hinweg redet, als hätte sie nie andere Adressaten gehabt als uns."
Außerdem: Elmar Krekeler plädiert in der Welt dafür, den nach antisemitischen Interventionen gründlich in Vergessenheit geratenen Romantiker FriedrichGernsheim für den Konzertbetrieb wiederzuentdecken. Einer neuen Studie des Bundes entnimmttazler Jens Uthoff nicht nur, wie staats-, da wirtschaftstragend die hiesige Clubkultur mittlerweile geworden ist, sondern auch, dass zu allegmeiner Überraschung insbesondere an der Spree tatsächlich München die HauptstadtderClubs ist (jedenfalls gemessen an Anzahl der Clubs pro 100.000 Einwohner). Jakob Biazza schreibt in der SZ einen Nachruf auf B.J. Thomas, dessen größter Hit im Grunde auch den Soundtrack für den "Frühling" der letzten Wochen darstellt:
Besprochen werden das erste Album des bereits seit den Siebzigern singenden Gastarbeitersohns Ozan Ata Canani (Tagesspiegel), Cans "Live in Stuttgart 1975" (Pitchfork), eine Box mit Aufnahmen der Postrock-Band Seefeel(Standard), Easy Lifes Album "Life's A Beach" (Tagesspiegel), ein Konzert von QuatuorDiotima im Berliner Boulez Saals (Tagesspiegel), die neue LP der Hamburger Punkrock-AllstarsGrünerStar (Tazler Kevin Goonewardena verspricht eine "Kombination aus eigenwilligen Texten und fetzigen Punk- und Popsongs") und eine Beethoven-Aufnahme des Pianisten Jean-EfflamBavouzet (FAZ).