Efeu - Die Kulturrundschau

Träger von Talenten ohne Heimat

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22.05.2018. In Cannes ist das Filmfestival mit einer Goldenen Palme für Hirokazu Kore-Edas "Shoplifters" zu Ende gegangen. SZ, FAZ und NZZ resümieren recht missmutig den Wettbewerb, der für sie fast schon so durchschnittlich war wie eine Berlinale. taz, FR und Standard sind dagegen ganz zufrieden.  Beim Berliner Theatertreffen ging der Schauspieler Fabian Hinrichs mit seiner Zunft ins Gericht, die sich von Regie-Konzepten verzwergen lasse: Der Tagesspiegel bringt seine Rede. Die  Berliner Zeitung atmet auf: Zum Glück hat es für den Mauerstreifen kein Konzept gegeben. Und alle trauern um den Avantgarde-Komponisten Dieter Schnebel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2018 finden Sie hier

Film


Szene aus Hirokazu Kore-Edas Gewinnerfilm "Shoplifters"

Mit einer Goldenen Palme für Hirokazu Kore-Edas "Shoplifters" ist das Filmfestival in Cannes am Wochenende zu Ende gegangen (hier alle Gewinner im Überblick). Mit der Auszeichnung können soweit alle Filmkritiker gut leben. Die Kritik richtet sich auf andere Aspekte: "Sehr durchwachsen" fand etwa FAZ-Kritikerin Verena Lueken diesen Jahrgang. Dass Lee Chang-Dongs "Burning" leer ausging, findet sie besonders schade. Eher enttäuscht kommt auch SZ-Kritiker David Steinitz nach Hause: Das Festival erinnerte ihn in diesem Jahr - auch wegen der Fülle gutgemeinter Themenfilme - "insgesamt recht stark an einen durchschnittlichen Berlinale-Wettbewerb - was man in Cannes als üble Beleidigung auffassen dürfte". In der NZZ schreibt Susanne Ostwald schon Festivaldirektor Thierry Frémaux ab.

Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh wird die Einschätzungen seiner missmutigeren Kollegen kaum nachvollziehen können: "Filmemacher wie Alice Rohrwacher ('Lazzaro felice'), Paweł Pawlikowski ('Cold War'), der unermüdliche Jean-Luc Godard ('Le livre d'image') und ein insgesamt starkes asiatisches Aufgebot waren dafür verantwortlich, dass der Jahrgang 2018 zu einem der besten der letzten Zeit wurde." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte packt zum Festivalbeschluss die gütige Sanftheit. Die Palme für "Shoplifters" gönnt er Kore-Eda dennoch. "Über mangelnde Realitätsanbindung" konnte man sich in diesem Jahr tatsächlich "kaum beklagen", resümiert Tim Caspar Boehme in der taz, der mit der Palme für Kore-Eda gut leben kann, aber auch Alice Rohrwachers "Happy Lazzaro" gerne als besten Film gewürdigt hätte sehen wollen. Ähnlich sieht das Andreas Busche im Tagesspiegel.

Weitere Artikel: Mladen Gladic entnimmt dem Memoir-Roman "Paris, Mai '68" der im letzten Jahr gestorbenen Schauspielerin Anne Wiazemsky allerlei Wissenswertes über deren Ehemann Jean-Luc Godard. Kathrin Ohlmann empfiehlt in der Jungle World eine Schau im Kölner Museum Ludwig mit den Filmen von Günter Peter Straschek. Besprochen wird die Serie "Mindhunter" (Freitag).

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Bühne


Gekrönt: Benny Claessens in Elfriede Jelineks "Am Königsweg". Foto: Arno Declair / Schauspiel Hamburg

Am Ende des Berliner Theatertreffens hat der Schauspieler Fabian Hinrichs als Juror den Alfred-Kerr-Darstellerpreis an Benny Claessens vergeben. In seiner vom Tagesspiegel abgedruckten Laudatio macht er seinem Ärger über die Zustände am Theater Luft: "Der künstlerische Schauspieler ist heute 'inconnu', ein Träger von Talenten ohne Heimat, gefangen in den Rückhaltebecken der Regiekonzepte, in den begradigten Wahrheiten der flachen Ästhetiken, in trostlosen Betonbecken moralischer Selbstgewissheit... So wenig Freies. So wenig echt Erfreuliches. Auf meiner Suche nach dem souveränen Schauspieler mit einer Leitung nach oben begegnete mir preußischer Gehorsam, wohl als erschütterndes, durch die Generationen hindurch gewandertes Erbe des preußischen Militarismus, wackeres Soldatentum, man sah Menschen bei anstrengender Arbeit zu." Im SZ-Interview mit Peter Laudenbach versichert Hinrichs, dass seine Bemerkungen nicht als Beleidigung gemeint waren, "eher als Aufruf, sich als Schauspieler nicht von Konzepten verzwergen zu lassen".

Immersion ist gerade das große Ding. Im Standard erklärt Helmut Ploebst sehr instruktiv, dass es bei immersiven Kunst darum geht, den Besucher komplett in ein Live-Erlebnis einzubinden, während man bei einer partizipativen Performance etwa nur Zettel ausfüllen müsse oder "ein Stamperl Schnaps" gereicht bekomme. Die Immersion hat eine lange Tradition: "Das großartigste historische Beispiel lieferte der französische König Ludwig XIV. mit seinen höfischen Balletten, in denen der Hochadel und der Monarch höchstselbst auftraten. Als Höhepunkt dieser 'Staatsperformances' gilt das Ballet de la nuit von 1653, in dem Ludwig die Allegorie der Sonne tanzte."

Besprochen werden Rossinis "Italienierin in Algier" bei den Salzburger Festspielen und mit einer triumphalen Cecilia Bartoli (FAZ, NZZ) und Antú Romero Nunes' "Macbeth"-Inszenierung am Wiener Burgtheater (die Martin Lhotzky in der FAZ eine "große Enttäuschung nennt).
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Kunst

Besprochen werden die Ausstellung "Coded Nature" von Studio Drift im Amsterdamer Stedelijk Museum, die sogar Betonklötze schweben lassen kann (taz), eine Schau der Skizzen von Peter Paul Rubens im Madrider Museo del Prado (FAZ), eine Ausstellung im Max-Liebermann-Haus in Berlin, die Bilder und Skulpturen der Schweizer Künstlerin Leiko Ikemura mit Fotografien von Donata und Wim Wenders zusammenstellt (Tagesspiegel).

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Architektur

In der Berliner Zeitung unterhält sich Susanne Lenz mit den Architekten Lars Krückeberg, Thomas Willemeit und Wolfram Putz, die auf der Architekturbiennale in Venedig den deutschen Pavillon gestalten. Zusammen mit der Politikerin Marianne Birthler stellen sie Projekte auf dem ehemaligen Mauerstreifen vor, für den es ihrer Meinung nach zum Glück kein Gesamtkonzept gab: "Das hätte bedeutet, dass irgendeine Machtstruktur des Westens den relativ schnell gekapert hätte. Hans Stimmann hat das auch versucht mit der historischen Mitte Berlins, die jetzt plötzlich zur Verfügung stand. Die ganzen Westberliner Architekten hatten ja in einer Stadt gelebt, und 90 Prozent der architekturgeschichtlich interessanten Bauten waren nicht in ihrem Teil. Da gab es eine Sehnsucht."

Weiteres: Im Standard Maik Novotny erinnert an den österreichischen Architekten Karl Schwanzer, der gestern hundert Jahre alt geworden wäre und dessen privates Archiv nun auf Instagram zu bewundern ist.

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Literatur

Nach Christian Krachts schockierender Enthüllung, als Kind Opfer sexualisierter Gewalt gewesen zu sein, hat sich "das Feuilleton der Republik geschlossen" zur zweiten Frankfurter Poetikvorlesung des Schriftstellers eingefunden, berichtet Arno Frank in der taz. Kracht sprach vor allem vom Trost jugendlicher Lese- und Medienerlebnisse, erfahren wir - und vom Glück, erst den "Herr der Ringe" zu entdecken und dann dessen Parodie. "Womit das zentrale Paradoxon erreicht ist. Einerseits ist Literatur eine ernste, lebensrettende Sache. Andererseits gibt alles, was 'kanonisch' ist, 'sich selbst frei für die Parodie'. ... In seinen Texten löst Kracht - nach eigener Lesart - dieses Paradoxon auf, indem er kognitive Dissonanzen einstreut, die er 'Quantenverschränkungen' nennt oder auch 'Quantenpseudotelepathie'. Als Beispiel dient ihm die Kamerafahrt in 'Marie Antoinette' von Sofia Coppola, wo unter den Schuhen der Königin plötzlich 'ein Paar Chuck's' auftauchen. Ein homöopathisches Quantum surrealer Splitter hier und da, um den Ernst der Kunst zu bewahren." Und Bettina Engels vom Tagesspiegel wünscht sich nach dieser Vorlesung, dass Slavoj Žižek den Autor einmal analysiert.

Weitere Artikel: Tomasz Kurianowicz informiert sich für ZeitOnline in der literarurhistorischen Forschung über den Flirt imn 19. Jahrhundert. Volker Breidecker (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren dem Literaturwissenschaftler Klaus Reichert zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden eine Neuausgabe von Andrej Platonows "Tschewengur" (Tagesspiegel), Saskia Hennig von Langes "Hier beginnt der Wald" (Zeit), Jurek Beckers "Am Strand von Bochum ist allerhand los" (Tagesspiegel), Magdalena Kaszubas Comic "Das leere Gefäß" (Tagesspiegel), Arthur Isarins "Blasse Helden" (FR), Philippe Jaccottets Gedichtband "Gedanken unter den Wolken" (Tagesspiegel), George Saunders' "Lincoln im Bardo" (SZ) und neue Hörbücher.darunter Gert Westphals ungekürzte RIAS-Lesung aus dem Jahr 1974 von Vladimir Nabokovs "Verzweiflung" (FAZ).
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Musik

Die Feuilletons trauern um den Avantgarde-Komponisten und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel. Er "war einer der intellektuellsten, am umfassendsten gebildeten und auch mutigsten Musikschöpfer unserer Zeit", würdigt Wolfgang Schreiber in der SZ den Verstorbenen. Alfred Zimmerlin von der NZZ behält ihn als "radikalen Experimentator" im Gedächtnis, "der kein Risiko, keine Grenzen auch ästhetischer Art scheute, als ein großer Synthetiker, der Vergangenheit und Zukunft in einem Moment der Gegenwart zu bündeln verstand und dabei eine tiefe Menschlichkeit ausstrahlte." Er "verband geradezu rabiate musikalische Neuerungen mit geistlichen Grundmustern", erklärt Gerhard R. Koch in der FAZ und erwähnt dabei, wie alle Nachrufe, Schnebels "Glossolalie" von 1960, eine "vokale Deregulierung als Ausdruck religiöser Ergriffenheit wie Ratlosigkeit in einem. Unterschwellig hat Schnebel distinkte neue Musik als indirekte Theologie begriffen." Im Tagesspiegel würdigt Frederik Hanssen Schnebel auch als "systematischen Denker und Kulturgeschichtsforscher."

Hier ist, was er für die Stimmen tat:



Von Cool Jazz keine Spur beim Münchner Konzert von Kamasi Washington, berichtet Andrian Kreye in der SZ: Längst hat sich der Jazz-Saxophonist mit seinem Spiritual Jazz zum Pop-Phänomen gemausert. Woran liegt's? Wohl auch an Washingtons "spiritueller Wucht", die Kreye "als Trotzreaktion auf den Zeitgeist betrachtet, auf die Haltungslosigkeit der Ironie, die Leere der digitalen Erfahrung, die Einsamkeit einer Popkultur, die sich über Kopfhörer und immer kleinere Bildschirme verbreitet".

Weiteres: In der Zeit schreibt Daniel Haas über die Hinwendung einiger Hiphop-Stars zu christlichen Motiven. Die Metropolitan Opera hat gegen ihren langjährigen Stardirigenten James Levine Anklage erhoben, der, nachdem er wegen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs geschasst worden war, seinerseits das Haus verklagt hatte, berichtet Manuel Brug in der Welt. Die antiisraelische BDS-Kampagne übt auch in diesem Jahr wieder Druck auf Künstler auf, die bei der Pop.Kultur Berlin auftreten, meldet Jens Uthoff in der taz.

Besprochen werden das neue Album von Mouse on Mars (taz), Georg Seeßlens Buch "Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung" (SpiegelOnline) und der von Arte online gestellte Dokumentarfilm "Geheimwaffe Jazz" (FR).
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