9punkt - Die Debattenrundschau

Aus einfachsten materiellen Gründen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2023. Während ukrainische Flüchtlinge mit Klaviermusik in Polen empfangen werden, weist das Land Flüchtlinge aus anderen Ländern aus rassistischen Motiven ab, sagt die polnische Aktivisitin Zara in der taz. Karl-Markus Gauß erklärt in der SZ, wie Russland aus der rumänischen Sprache mit kyrillischen Zeichen eine moldawische Sprache machen wollte. Die taz berichtet über die rassistischen Ausschreitungen in Tunesien. Der Abgrund ist zum Greifen nah, fürchtet die SZ mit Blick auf den immer schärferen innerisraelischen Streit um die Pläne der Netanjahu-Regierung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.03.2023 finden Sie hier

Europa

Karl-Markus Gauß erklärt in seiner SZ-Kolumne die komplizierte Sprachsituation in Moldawien, wo prorussische Kräfte immer mehr Unruhe erzeugen. Unter anderem kommt er auch auf die Sprachpolitik der sowjetischen Eroberer "im real existierenden Surrealismus" zurück: "Sie ordneten nämlich an, dass die Sprache der Mehrheit, das Rumänische, künftig statt mit lateinischen mit kyrillischen Schriftzeichen geschrieben werden müsse und Moldawisch zu heißen habe. So wurde eine eigene Sprache erfunden, die sich mittels administrativer Maßnahmen nach und nach vom Rumänischen immer weiter entfernen sollte. Wer dagegen auf der Tatsache beharrte, dass es sich beim Moldawischen und beim Rumänischen um dieselbe Sprache handelte, wurde als reaktionärer Nationalist gebrandmarkt und verfolgt."

Marita Fischer stellt in der taz die polnische Aktivistin Zara vor, die nicht akzeptieren will, dass in Polen zwar Ukrainern herzlich gern geholfen wird, andere Flüchtlinge jedoch misshandelt und trotz Asylantrags einfach über die Grenze nach Belarus zurückgeschickt werden. 34 Asylsuchende sollen seit 2021 in polnischen Wäldern gestorben sein: "'Seitdem wir gesehen haben, wie Polen mit weißen, christlichen Geflüchteten aus der Ukraine umgeht, wird das rassistische Motiv des Grenzschutzes an der Ostgrenze noch mal deutlicher', analysiert Zara. Im Südosten teilt Polen eine 526 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs wurden rund 8,5 Millionen Grenzübertritte zu Fuß, per Bus, im Auto oder mit dem Zug nach Polen registriert. Ukrainische weiße Staatsbürger:innen dürfen ohne Weiteres nach Polen und in andere EU-Staaten einreisen. Sie werden nicht zurückgeschoben, geschlagen und gedemütigt, so wie die Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze. Hilfskonvois dürfen die Grenze passieren, freiwillige Helfer:innen werden als Held:innen gefeiert und die Flüchtenden teils mit Klaviermusik empfangen."

Die von der Ampelkoalition geplante Wahlrechtsreform zur Abschaffung von Ausgleichsmandaten würde die CSU in ihrem innersten Kern treffen, resümiert Kurt Kister noch mal fürs SZ-Feuilleton. Die CSU gewinnt bisher zwar eine Menge Direktmandate (2021 waren es 45), aber wenn man ihren Stimmenanteil auf Bundesebene hochrechnet, liegt sie im Bundestag gerade mal bei 5 Prozent. Ebenso zur Disposition steht die "Grundmandatsklausel", die vorsieht, dass eine Partei mit einem Stimmenanteil unter 5 Prozent eintreten kann, sofern sie drei Direktmandate gewonnen hat, : "Im für die CSU schlimmsten Fall kann diese Wahlrechtsreform das Ende ihrer Eigenständigkeit einläuten. Nach dem geltenden Wahlrecht hatte die CSU de facto eine Garantie, stets im Bundestag vertreten zu sein. Selbst in einer Zeit, in der wie jetzt die einst großen Parteien immer mehr an Zustimmung und Wählerwillen verlieren, gibt es in Bayern deutlich mehr als drei Wahlkreise, in denen auch eine von der CSU aufgestellte menschgewordene Knödelkanone das Direktmandat gewinnen würde."

Welt-Autor Thomas Schmid würdigt Antje Vollmer, prägende Gestalt der Grünen, die im Alter von 79 Jahren gestorben ist. Sie hatte zuletzt den Wagenknecht-Appell mit unterzeichnet. Am Ende haderte sie nicht nur mit ihrer Partei, die sich mit der Ukraine solidarisierte, sondern mit der gesamten politischen Lage, meint Schmid. "Der Westen habe den Gorbatschow-Moment verpasst. Habe nicht entschlossen geholfen, eine neue Friedensordnung zu schaffen. Russlands anti-westlicher Drall, so insinuierte sie, sei nur eine Reaktion auf westliche Arroganz - und damit verständlich. Sie versteifte sich in dieser Haltung. Und lehnte - wenn auch nicht im Stile von Sahra Wagenknechts Pantoffel-Pazifismus - westliche Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Dieser pazifistische Rigorismus ging auf Kosten der Empathie über die überfallene Ukraine."
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Medien

Bei Springer wurde die gesamte Bild-Chefredaktion abgesetzt, samt Chefredakteur Johannes Boie, der im Oktober 2021 Julian Reichelt abgelöst hatte. Konkrete Gründe nennt Springer dafür nicht, also wird spekuliert: Matthias Döpfner verband mit dem Wechsel von Reichelt zu Boie, der lange bei der SZ war, "die Erwartung auf einen kulturellen wie inhaltlichen Wechsel", schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel. "Weniger Reichelt-Rabaukentum, verfeinerte, intellektuellere Ansprache des Bild-Publikums. Und in der Redaktion eben das Ende eines Regimes, das offenkundig von Machtmissbrauch speziell den Mitarbeiterinnen gegenüber gekennzeichnet war. Boies Spezialauftrag: Endlich mal Ruhe im Bild-Puff! Aber Bild ist Bild. Boie wurde zunehmend von weiten Teilen der Redaktion nicht als Boulevardmann gesehen, die Spannungen und Richtungsstreitigkeiten scheinen immer größer geworden zu sein."

Boies Abgang zeugt "von einer gewissen unternehmerischen Kurzatmigkeit, die seit dem Einstieg des amerikanischen Finanzinvestors KKR im Verlag herrscht", meint Alexander Kissler in der NZZ. "Die Stimmung im Haus schwankt derzeit zwischen Zynismus und Resignation, der innere Widerspruch schwelt fort: Wie laut und grell, wie sehr gegen den Mainstream gerichtet sein darf ein deutsches Blatt in einem letztlich amerikanisch dominierten Unternehmen, dessen Vorstandsvorsitzender immer wieder Signale der politischen Korrektheit in die Vereinigten Staaten senden muss?"
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Geschichte

Jasenovac in Kroatien war das größte Todeslager des Zweiten Weltkriegs, das nicht von den Nazis betrieben wurde. Über die kroatischen Täter unterhalb der Leitungsebene weiß man wenig, schreibt Michael Martens in der FAZ. Nun hat der dänische Historiker Emil Kjerte dazu geforscht. Er fand zum Beispiel heraus, dass viele Wächter aus der Herzegowina kamen: "Viele Männer aus der damals bitterarmen Region gaben den Werbern der Ustascha demnach vor allem aus einfachsten materiellen Gründen nach. Die Aussicht auf regelmäßige Mahlzeiten, festes Schuhwerk und eine beheizte Stube im Winter waren oft entscheidend. Das galt auch für kroatische Gastarbeiter, die unter schwierigsten Bedingungen in Belgien lebten und so empfänglich für Ustascha-Propaganda wurden." Das weibliche Personal war dagegen ideologisch motivierter, so Martens, denn sie mussten sich für den Einsatz im Lager aus eigener Initiative bewerben.
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Politik

Auch in Tunesien sind Flüchtlinge, vor allem aus dem subsaharischen Afrika, nicht gern gesehen, erzählt Sadem Jebali in der taz. Präsident Kais Saied betonte kürzlich in einer Rede "die Notwendigkeit, die Migrationswelle schnell zu beenden, da die Abertausenden Migranten aus dem südlichen Afrika Gewalt, Kriminalität und inakzeptable Praktiken ins Land brächten. Nur Stunden nach der Rede trendeten migrantenfeindliche Sprüche in den sozialen Medien - frisch legitimiert vom politischen Diskurs. Einen Tag später nahmen Sicherheitskräfte willkürlich schwarze Menschen auf den Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln fest. Videos machten die Runde, in denen Bürger illegale Migranten angriffen und Familien aus ihren Wohnungen geräumt wurden. In den Regionen Tunis und Sfax wurden tätliche Angriffe gemeldet. In weniger als 48 Stunden waren die schwarzen Communitys gelähmt vor Angst. Man konnte stundenlang durch Tunis laufen, ohne auch nur eine schwarze Person zu sehen."

Der Abgrund ist zum Greifen nah, schreibt Sina-Maria Schweikle in der SZ angesichts des sich immer mehr verschärfenden innerisraelischen Konflikts um Benjamin Netanjahus neue Regierung und ihre Justizreform: "Immer weniger Israelis glauben laut einer Umfrage des Israel-Instituts für Demokratie daran, dass der innere Frieden im Land Bestand haben werde, eigentlich ein Grundpfeiler der israelischen Gesellschaft. Wenn schon der Staatspräsident vor einem 'Bruderkrieg' warnt, stellt sich die Frage, wie viel inneren Druck ein Land ertragen kann, das von so vielen Gegnern umgeben ist wie Israel."

Das "Nahost-Friedensforum" stellt ein Positionspapier mit Hintergründen zur umkämpften Justizreform in Israel vor, das man hier herunterladen kann. In einem Twitter-Thread kritisiert auch das Forum die von den Netanjahu-Regierung geplante Neutralisierung des israelischen Verfassungsgerichts: "Die derzeitige Fassung der Reformpläne birgt allerdings äußerst große Gefahren, da sie die Befugnisse des Supreme Court über Gebühr beschränken und wirksame Gewaltenteilung... fast komplet aushebeln." Einen grundsätzlichen Reformbedarf erkennt das Forum aber schon. Und "das letzte Wort behält in einer Demokratie das Volk. Daran ändern auch die Reformen nichts. Eine neue Knesset könnte in der nächsten Legislaturperiode die Reformen mit einfacher Mehrheit wieder rückgängig machen. Die derzeitige massive Mobilisierung in der Bevölkerung gegen die Reformen macht einen derartigen Wahlausgang nicht fernliegend."
Archiv: Politik