9punkt - Die Debattenrundschau

Ist die Botschaft klar?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2022. Die mutige Marina Owsjannikowa ist bisher mit einer Geldstrafe davongekommen. In der FAZ erklärt Igor Saweljew, dass die Probleme für Demonstranten in Russland erst nach dem kurzen Prozess anfangen. In der SZ erklären Juri Andruchowytsch, Jurko Prochasko und Natalka Sniadanko, warum die Ukraine nicht nur eine politische Nation ist, sondern auch eine lebendige Gesellschaft. In der taz sieht Jagoda Marinic Deutschland im politischen Klein-Klein versinken. In der NYTimes kann Thomas Friedmann kaum glauben, wie China auf einmal die Ölpreise senkt. Im New Yorker erinnert Philip Gourevitch, dass die UN-Konvention Genozid nicht durch die ungeheure Tat definiert, sondern durch die ungeheure Absicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2022 finden Sie hier

Europa

Seit einundzwanzig Tagen kämpft die Ukraine nun um ihr Überleben. Präsident Wolodimir Selenski nennt die Verhandlungen mittlerweile realistischer. Von ihrem riskanten Besuch in Kiew bringen die drei europäischen Regierungschefs Mateusz Morawiecki, Janez Janša und Petr Fiala den Vorschlag einer Nato-Friedensmission mit. Die wichtigsten Ereignisse hier oder hier.

Marina Owsjannikowa, die so mutig im russischen Staatsfernsehen gegen den Krieg protestierte, wurde zu einer ersten Geldstrafe von 30.000 Rubel verdonnert, umgerechnet 225 Euro. Dem letzten Oppositonspolitker Alexander Nawalny drohen dagegen weitere Jahre im Gefängnis:



In der FAZ schildert der russische Autor Igor Saweljew, wie er ein einziges Mal wagte, an einer Demonstration in Moskau teilzunehmen und natürlich prompt festgenommen, vor Gericht gestellt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde: "Viele Tausende verhaftete Kriegsgegner haben dieses Fließband durchgemacht, es ist kein Problem - außer vielleicht für Studenten, weil die Universitäten danach oft versuchen, sie zu exmatrikulieren. Die Probleme beginnen später. Auf diejenigen, die nicht aufhören, warten härtere und selektive Repressionen. Für die wiederholte Teilnahme an einer Demonstration wird zumindest eine hohe Geldstrafe verhängt (umgerechnet ungefähr tausend Euro, die genaue Summe schwankt, weil der Euro-Kurs ständig steigt) oder dreißig Tage Arrest." Und dann kommen Schikanen: "Polizisten rufen oft an oder kommen zu einem nach Hause. Es sind sinnlose Anrufe und Besuche, die nur Angst machen sollen." Einen Einblick in das russische Gefängnissystem gibt Judith Pallot im Guardian.

Im SZ-Interview mit Sonja Zekri rückt der in London lebende russische Journalist Andrej Soldatow von seiner bisherigen These ab, der FSB sei unter Wladimir Putin die mächtigste Institution in Russland: "Die mächtigste Institution Russlands ist inzwischen die Armee. Der FSB hat sich zu viele Pannen geleistet. Sein Aufstieg hing damit zusammen, dass er das politische Regime Russlands vor demokratischen Bestrebungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken sichern sollte, sogenannten 'farbigen Revolutionen' wie in Georgien oder der Ukraine. Aber er war darin nie besonders effektiv. Putin kommt aus dem sowjetischen Geheimdienst KGB, er fühlte sich diesen Leuten verbunden und hielt lange an ihnen fest. Erst im Jahr 2014 hat er begriffen, wie schlecht der FSB arbeitet. Der Einsatz in der Ukraine war ein echtes Desaster."

Selenski kämpft an der Spitze einer geeinten Nation und Putin muss von jedem Armee-Offizier fürchten, umgebracht zu werden, umreißt Thomas Friedmann die unerwartet gute Lage in der New York Times. Er muss sich zusammenreißen, um nicht voreilig zu frohlocken. Aber: "Hier ist noch eine Überraschung, die niemand kommen sah, schon gar nicht Russland und China. China setzte auf seinen eigenen Impfstoff gegen Covid-19, eine Politik der Null-Toleranz und sofortige Quarantäne, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Aber die chinesischen Impfstoffe scheinen weniger effektiv als andere. Und weil das Quarantäne-System dem Land wenig Grundimmunität verschafft hat, verbreitet sich das Virus dort jetzt wie ein Lauffeuer. Wie die Times am Dienstag berichtete: 'Zig Millionen Einwohner sind wegen eines Ausbruchs der Omikron-Variante in den chinesischen Provinzen und Städten, darunter Peking, Shanghai und Shenzhen im Lockdown. Der Verbindungen zwischen den Städten sind gekappt, Einkaufszentren geschlossen und die Produktion gestoppt.' Was heißt das? Es stranguliert die Nachfrage und den Preis von Rohöl - der nach einem Hoch von 130 Dollar pro Barrel am Dienstag unter 100 fiel."

Leider übersehen haben wir gestern das Gespräch mit den ukrainischen Schriftstellern Juri Andruchowytsch, Jurko Prochasko und Natalka Sniadanko in der Literaturbeilage der SZ. Sniadanko sagt darin etwa: "Immer wieder wurde darüber diskutiert, ob die Ukraine eine Nation sei oder nicht. Jetzt zeigt sich: Alle kämpfen intuitiv für ihr Land, die Intellektuellen genauso wie die Fabrikarbeiter. Genau darin konstituiert sich die politische Nation. Dass wir schon so weit sind, erstaunt mich selbst." Und Andruchowytsch ergänzt: "Die ukrainische Gesellschaft repräsentiert eine fundamental andere politische Kultur als Russland - wobei ich nicht einmal sicher bin, ob es in Russland so etwas wie eine Gesellschaft überhaupt noch gibt. Von dem, was sich in den Neunzigern relativ frei entwickeln konnte, sind nur noch Scherben übrig. Oppositionelle sind im Ausland oder im Gefängnis. Die Ukraine ist das Gegenteil davon. Sie ist ein Land, in dem die Gesellschaft viel aktiver und progressiver ist als die Machthaber und die Politik entscheidend gestaltet."

Auf arte läuft gerade eine - viel zu kurze - Dokumentation über den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. In der SZ blickt Frank Nienhuysen auf Selenskis engeren Beraterkreis, der vor Beginn des Krieges noch als ein Zirkel von Jungs verspottet wurde, "die wissen, wie man ein Video macht".

Seit den ersten Tagen der russischen Invasion spricht der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski davon, dass Russlands Agieren Anzeichen eines Genozids trägt. Im New Yorker pflichtet ihm der Reporter Philip Gourevitch bei (der über den Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda den berühmten Bericht "Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden" verfasste). Denn Putin gehe es doch erklärtermaßen darum, die Ukraine als unabhängige Nation und Kultur auszulöschen: "Im Völkerrecht hat der Straftatbestand des Genozids nicht unbedingt mit dem ungeheuren Maß der kriminellen Handlung zu tun. Vielmehr ist er gemäß der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert durch as ungeheure Ausmaß der kriminellen Absicht."

In der FAZ reagiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler auf einen Text des Historikers Karl Schlögel (unser Resümee) und stellt sich klar gegen eine Flugverbotszone, was für ihn einen Kriegseintritt der Nato bedeuten würde. Aber er beharrt vor allem auf dem Unterschied zwischen unheroischen und postheroischen Gesellschaften: "Postheroische Gesellschaften sind solche mit niedrigen Geburtenraten: Sie haben eine strukturelle Neigung, mit der jungen Generation vorsichtig umzugehen. Wo die Geburtenrate hingegen sehr hoch ist, haben wir es häufig mit notorisch belligerenten Gesellschaften zu tun. Der Gazastreifen ist dafür ein Beispiel, der Iran der Achtzigerjahre war ein weiteres, einige afrikanische und arabische Länder sind es bis heute. Israel ist ein Ausnahmefall: eine gezwungenermaßen heroische Gesellschaft, die mit der jungen Generation sorgfältig umgeht - dadurch, dass sie sich permanent die modernste Ausrüstung verschafft."

In ihrem ukrainischen Tagebuch in der SZ berichtet Oxana Matiychuk, wie das russische Staatsfernsehen die ukrainische Flüchtlingen als Heerscharen von Neonazis denunziert, die nach Berlin marschierten: "Ist die Botschaft klar genug formuliert?"
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Politik

Nicht nur Russland hat sich geopolitisch verkalkuliert, auch der Westen hat seit Beginn des Jahrtausends eigentlich alles falsch gemacht, schreibt die Gießener Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter in der FAZ. Pakistan, Iran, Saudi-Arabien, Libyen, Mali: "Wie in Afghanistan oder in den Staaten des Arabischen Frühlings verband man mit den Einsätzen demokratietheoretische Vorstellungen. In der Praxis scheiterten diese jedoch vollständig. Mali wird zurzeit von einem Putschisten regiert, der es nicht eilig hat, Wahlen anzuberaumen. In vielen Landesteilen gibt es Ressourcenkonflikte zwischen ethnischen Gruppen sowie zwischen Viehzüchtern und Bauern. All dies begünstigt die Entstehung nichtstaatlicher Strukturen. Es gedeihen kriminelle Netzwerke, Kriegsherrentum und der Dschihadismus. Frankreich hat jetzt angekündigt, seine Truppen abzuziehen. Als Reaktion soll die malische Regierung die russische Söldnertruppe Wagner engagiert haben. Hier schließt sich ein Kreis."

Nicht erst mit Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt sich Deutschland überfordert mit einer Politik, in er es um etwas geht, stellt Jagoda Marinic in der taz fest: "Politik ist in Deutschland eine immer kleinteiligere Frage geworden und der Umgang mit der Coronapandemie war exemplarisch für unsere diskursive Unfähigkeit: Wir haben uns über Kleinstmaßnahmen von Bundesland zu Bundesland gestritten, wir haben allen mehr oder minder erfolgreichen Ministerpräsidenten die Bühne geboten, obwohl sie nichts zu sagen hatten - gelöst haben wir die Probleme damit noch lange nicht. In Deutschland lieben wir den diskursiven Nebel. Vier Talkshows bieten uns die Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig, alle haben fast zwei Jahre lange ausschließlich die pandemische Lage beackert. Natürlich kann man sagen, das lag an der historischen Herausforderung, es lag aber auch daran, dass es der deutschen politischen Diskurskultur entspricht, das Klein-Klein aufzublasen."

Selbst in den achtziger Jahren, "im Schatten maximaler Zerstörungskräfte" hat sich Harry Nutt nie unsicher gefühlt, wie er in der FR bekennt: "Putin hat mit seinen Drohungen des potenziellen Einsatzes nuklearer Waffen das Prinzip einer strategischen Abschreckung aufgekündigt. Er kratzt am kosmologischen Urvertrauen, das in der Zeit des Kalten Krieges kaum beeinträchtigt war. Nach dem abrupten Ende ganz vieler Illusionen steht nicht weniger auf der Agenda als die Aushandlung einer neuen Weltordnung. Die Hoffnung jedenfalls, dass die Ökonomie im Namen einer gelingenden Globalisierung alles regelt, hat sich erledigt. Fortan wird es auch um die Wiedererlangung eines inneren Gleichgewichts gehen, für das es neue und andere Mittel der Angstkommunikation bedarf, die, selbst wenn der Krieg beendet ist, weit über das politische Vermögen von Krisenmanagement und Diplomatie, wie wir es kannten, hinausgehen müssen. Es ist Zeit für ein gesellschaftliches Bewusstsein, das jenseits nationaler Befindlichkeit geopolitische Kompetenz mit kühlem Pragmatismus und demokratischen Überzeugungen zu verbinden vermag."
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Geschichte

In der NZZ wirft der Historiker Hubertus Knabe dem Deutschen Historischen Museum vor, in seiner neuen Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus"  Marx zu verklären: "Zu sehen bekommt der Besucher keine Ausstellung, die sich der Geschichte des eigenen Hauses stellt oder die den uferlosen Marx-Kult in der DDR beschreibt, was in der Benennung einer ganzen Stadt nach ihm gipfelte. Stattdessen präsentiert das Museum eine Art bebilderte Kurzfassung der 'Blauen Bände', wie die vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen Marx-Engels-Werke wegen ihres farbigen Einbands genannt wurden. Da Marx' Texte oft langatmig und schwer verständlich sind, ist die Ausstellung entsprechend ermüdend, woran auch die grellen Farben der Wände und die herangeschafften Objekte nichts ändern. Die Ausstellungsmacher versuchen dem entgegenzuwirken, indem sie Marx' gescheiterten Theorien eine neue Aktualität zusprechen."
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Stichwörter: Knabe, Hubertus, Marx, Karl