9punkt - Die Debattenrundschau

Der Ehemann der Krankenschwester des Bruders

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2017. Nach den Affären um Harvey Weinstein und Kevin Spacey streiten sich die Feuilletons, ob sich Kunst und Künstler trennen lassen. Thea Dorn warnt in Dlf Kultur, dass ein ziemlicher Kahlschlag entstehen könnte, wenn man anfängt, überall die Arschlöcher herauszuschneiden. Libération greift die irre Geschichte des Erbes von Maurice Ravel auf. Wie soll man mit "Rechten reden", die selbst nicht fähig sind, Gegner nicht als Feinde zu sehen, fragt Matthias Warkus im Blog 54books. In der taz spricht Deniz Yücel über das Regime der Angst im Gefängnis und in der Türkei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2017 finden Sie hier

Politik

Der Guardian veröffentlicht einen von Salman Rushdie mit verfassten Aufruf, der vor der Gefahr eines Völkermords an den Rohingya warnt: "Die internationale Reaktion auf die Rohingya-Krise bleibt weit hinter dem Notwendigen zurück. Den Hilfsaktionen der UN fehlt immer noch das Geld, und die führenden Politiker der Welt üben auf die Regierung nicht genug Druck aus. Myanmar ist kein Paria-Staat mehr. Es hat eine gewählte Regierung und ist in den letzten Jahren mit Investitionsgeldern überflutet worden. Firmen, die in dieser Region investiert haben, müssen sich aussprechen und ihre Gelder abziehen, sofern die Menschenrechte nicht respektiert werden, sonst machen sie sich zu Komplizen dieser scheußlichen Taten."
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Gesellschaft

Man sollte Kunst nicht vom Künstler trennen und so tun, als ob das eine nicht mit dem anderen zu tun hat, schreibt Amanda Hess in der New York Times mit Blick auf die Affären um Harvey Weinstein, Kevin Spacey und den Comedian Louis C.K. Vor allem aber sollte man beim Blick auf die Filme nicht vergessen, dass sie Teil eines Business sind: "Die Angewohnheit, Künstler als transzendente Schöpfer statt als Akteure in einem ökonomischen System zu behandeln, schützt sie vor Ansprüchen, die normaler Weise an Arbeitsumgebungen gestellt werden. Genau wie ein Turnschuh- oder Technikproduzent versucht, den Konsumenten mit glitzernden Prdoukten von niederträchtigen Produktionsbedingungen abzulenken, entwickelt Hollywood Spektakel, die die Entstehungsbedingungen verstecken wollen."

Etwas anders sieht es Thea Dorn im Interivew mit Stephan Karkowsky bei Deutschlandfunk Kultur: "Also wenn wir jetzt anfangen wollen, in der Kunst alle die, die - salopp gesagt - Arschlöcher sind, herauszuschneiden, dann fürchte ich, dass es in unseren Bibliotheken, in unseren Museen, in den Kinos wahnsinnig leer wird... Vor dreißig, vierzig Jahren hat man dem Künstler zugestanden, gewissermaßen ein halber Outlaw zu sein. Mittlerweile in unserer eben, wie ich sagen würde, hysterisch-bigott hypermoralisierten Gesellschaft, wo wir angeblich so viel toleranter sind und libertärer, erwarten wir von einem Künstler, dessen Antriebskraft natürlich auch das Abgründige sein muss... das sollen auf einmal alles brave Schwiegersöhne und Benimmlehrer sein?"

Auch amerikanische Eliteuniversitäten bunkern riesige Summen Geld in Steueroasen, kann man aus den "Paradise Papers" lernen. Gleichzeitig gibt es Forderungen im Kongress, die Steuerbefreiung für ihre Stiftungen aufzuheben. In der New York Times macht Charlie Eaton einen besseren Vorschlag: Sie sollen ihr Geld nutzen, mehr Studenten aus unterprivilegierten Schichten zu fördern. "Trotz erhöhter Einnahmen immatrikuliert Stanford immer noch jährlich rund 1600 Studenten, soviel wie in den 1970er Jahren. Im Ergebnis gibt Stanford heute nur aus seiner Stiftung 55.000 Dollar für jeden Studenten aus, das ist - inflationsbereinigt - eine 9-fache Steigerung seit den Siebzigern. Harvard, Princeton und Yale geben sogar noch mehr Geld aus ihrer Stiftungen für den einzelnen Studenten aus. ... Laut dem Stanford-Ökonom Raj Chetty rekrutieren die 38 Top-Privatschulen heute mehr Studenten aus dem oberen einen Prozent des Einkommensspektrums als aus den unteren 60 Prozent."
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Ideen

In der NZZ will Jörg Scheller der Hysterie und "wachsenden Tribalisierung des Diskurses" eine "Ekstase der stillen Vernunft" entgegensetzen. Vorbild sind ihm dabei die Musiker Henry Rollins und Ian MacKaye, die "zu den klügsten Köpfen der amerikanischen alternativen Szene und der undogmatischen Kulturkritik (zählen). So ist Rollins ein harter Kritiker republikanischer Scharfmacher, unterstützt aber US-Soldaten für die United Service Organizations. ... Für seine Videoclip-Serie 'Henry Rollins' Capitalism' (2012) reiste er durch alle Staaten der USA und sprach mit allen Bevölkerungsgruppen. Erkenntnis, nicht Bekehrung ist sein Ziel: 'Knowledge without mileage equals bullshit.' Kurz: Rollins kombiniert unparteiische Nüchternheit mit Engagement und linksprogressive Tugenden mit unternehmerischen, liberalkonservativen auf glaubhafte Weise."

Im Blog 54books versucht Matthias Warkus mit Hilfe von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn zu verstehen, warum er "mit Rechten reden" soll. Aber nach der Lektüre ist er nicht klüger: "Leo und Steinbeis haben in einem Interview in der SZ gesagt, dass sie den Kampf mit den Rechten gerne selbst öffentlich als 'Kampf zwischen Gegnern und nicht zwischen Feinden' austragen möchten. Die Rechten wären aber keine Rechten, wenn sie nicht ständig mit ihrem Wunsch nach der physischen Niederwerfung und am Ende Vernichtung Andersdenkender sowie als irgendwie minderwertig Behaupteter kokettierten ... Man kann mit ihnen nicht als Gegner reden, selbst wenn man vorher ein noch so schönes Buch dazu schreibt, sie sind und bleiben Feinde, gewissermaßen Feinde zweiter Ordnung: Sie sind deshalb (und nur deshalb!) Feinde, weil sie selbst mit voller Absicht unfähig sind, Gegner nicht als Feinde zu sehen."
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Europa

tazlerin Doris Akrap hat ihren Kollegen Deniz Yücel getroffen, der ihr von den Zuständen im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 erzählt, die von denen in der Türkei insgesamt nicht so stark abweichen: "Das hier ist Türkiye, hier kann jederzeit alles passieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Aufseher Angst haben, etwas falsch zu machen. Ein Angstregime richtet sich nicht allein gegen Kritiker, sondern umfasst auch die Angehörigen des Unterdrückungsapparats. Vollzugsbeamte, Richter, hohe Beamte, sogar Regierungspolitiker - jeder hat Angst. Nur einer nicht. Oder besser: Er hat noch mehr Angst als alle anderen, weil er weiß, was ihm blüht, falls er die Macht verlieren sollte. Und darum unterwirft er eine ganze Gesellschaft seinem Angstregime."

Es geht jungen Deutschen muslimischer Herkunft nicht um muslimische Feiertage, schreibt die Bloggerin und Journalistin Cigdem Toprak in der Welt: "Sie wollen in Deutschland nicht nur Teil eines religiösen Kollektivs sein, sondern von der Mehrheitsgesellschaft wie von ihren Familien als gleichberechtigte Individuen behandelt werden. Anerkennung wünschen sie sich weniger für den Islam, sondern für ihre unterschiedlichen Herkunftsgeschichten und Lebenswelten zwischen den Kulturen, Verständnis für ihre Zerrissenheit zwischen der Heimat ihrer Eltern und ihrem deutschen Zuhause."
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Urheberrecht

Zu den witzigsten Enthüllungen der "Paradise Papers" gehört in Frankreich die Geschichte über das Erbe von Maurice Ravel - und die Erben, die allesamt nicht gerade mit ihm verwandt sind und das viele Geld über Steuerparadiese schleusten. Die verschlungenen Wege der Rechte schildert Guillaume Tion in Libération so: Sie sind "auf seinen Bruder übergegangen, dann auf die Krankenschwester des Bruders, den Ehemann der Krankenschwester, die zweite Frau des Ehemanns - die Rechte sind wahrlich weite Wege gegangen in den letzten neunzig Jahren." Und das Erbe war ein Lotteriegewinn: "48,6 Millionen Francs bis 1970, dann abnehmende Einnahmen im 21. Jahrhundert, die bei 1,5 Millionen Euro bis ins Jahr 2016 liegen." Da Ravel inzwischen weit über siebzig Jahren tot ist, kommen aus den meisten Ländern (es gibt Ausnahmen!) keine Einnahmen mehr, aber France inter berichtete gestern (unser Resümee), dass es Bestrebungen gibt, den "Boléro" als eine Kooperation mit einem anderen Künstler auszugeben, der erst in vierzig Jahren siebzig Jahre lang tot sein wird.
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