9punkt - Die Debattenrundschau

Eine solche Panik

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2016. Viele Kinder waren unter den Toten des Attentats von Nizza. Wir verlinken auf die Liveblogs französischer Zeitungen. Außerdem: Die Konservativen sind schuld am Brexit. Labour ist schuld, dass Britannien ein Einparteienstaat geworden ist, schreibt Ian McEwan in der NZZ. Die SZ erklärt, warum der NSU-Prozess so quälend lang ist. Die Internetpioniere Tim Berners-Lee, Lawrence Lessig und Barbara van Schewick rufen zur Rettung der Netzneutralität in Europa auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.07.2016 finden Sie hier

Europa

Attentat in Nizza

Ein Lastwagenfahrer ist gestern Abend in die Menschenmenge gerast, die auf der Promenade des Anglais in Nizza den 14. Juli feierte. Um 7.30 Uhr morgens war von 84 Toten die Rede. Die Identität des Fahrers war unbekannt. Libération verfolgt das Ereignis in einem Liveblog und zitiert Präsident François Hollande, der in der Nacht den Ausnahmezustand verlängerte und von der islamistischen Bedrohung sprach. Im Wagen sind Ausweispapiere eines Frankotunesiers gefunden worden. Es sind viele Kinder unter den Toten, die das Feuerwerk zum Nationalfeiertag verfolgt hatten. Hier das Liveblog von Le Monde.

Der Guardian zitiert in seinem Liveblog einen Augenzeugen, der schildert, wie der Lastwagen von außerhalb der Stadt kommend in die Menge raste: "Plötzlich sahen wir auf der anderen Seite der Straße einen weißen Lastwagen, der sehr schnell fuhr und hin- und herschlängelte. Ich wusste sofort, dass er Menschen töten würde, er hielt direkt auf die Menge zu. Die Leute rannten in die Nebenstraßen. Eine solche Panik habe ich noch nie gesehen." Auch im Liveblog des NouvelObs werden viele Zeugenstimmen gesammelt.

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Priya Basil, britisch-indische Autorin mit kenianischen Wurzeln, singt in der taz eine Hommage auf Deutschland, wo sie nach einem Intermezzo in Britannien seit 2002 lebt: "Die Europäische Union ist der erste Ort, an dem ich ohne Angst gelebt habe. Ich sage EU, meine aber eigentlich Deutschland. Für mich sind sie untrennbar miteinander verflochten - aus reinem und zauberhaftem Zufall ist das eine dem anderen eingeschrieben: Deutschland. Zwar hatte ich bereits acht Jahre in der EU gelebt, bevor ich 2002 nach Deutschland kam - doch hatte ich das nie wahrgenommen, weil sich das Vereinigte Königreich schon damals weitgehend nicht explizit als Teil Europas erachtete, und folglich hatte auch ich es nicht gelernt. Und so begann meine Beziehung zur EU in Deutschland."

In der NZZ hofft der britische Autor Ian McEwan, dass dieser "Sommer des Missbehagens" nur ein böser Traum ist. Er erinnert sich daran, wie alles begonnen hat, und weiß nun, zu spät, was versäumt wurde: "Wir wissen, dass die derzeitige politische Krise allein von den Konservativen herbeibeschworen wurde. Sie, nicht die Ukip, haben das Referendum angeboten; sie haben den Entscheid erkämpft, gewonnen und verloren. Für diesen Bärendienst wie für das folgende Chaos und den vergifteten parteiinternen Zank sollten die Tories nun von einer effizienten, wortmächtigen Opposition in Stücke gerissen werden. Aber durch ihr Schweigen haben uns Corbyn und sein verwirrter, paranoider Hofstaat erst einmal an einen Einparteistaat verkauft."

Quälend langsam geht es mit dem NSU-Prozess voran. Schon sind Termine bis 2017 reserviert. In der SZ erklärt Annette Ramelsberger, warum das so ist. Das Gericht gehe auf Nummer sicher: "Lieber immer noch einen Zeugen laden, als endlich das Ende der Beweisaufnahme ausrufen. Lieber immer noch einen Monat warten, bis Beate Zschäpe geruht, auf Fragen zu antworten - auch wenn der Erkenntnisgewinn recht übersichtlich ist. Inhaltlich ist im NSU-Prozess nichts Neues mehr zu erwarten. Fast alle Zeugen sind befragt, die Beweise abgefieselt. Und man darf davon ausgehen, dass sich auch das Gericht seine Meinung schon gebildet hat. Jetzt puffert es das Urteil nur noch gegen die Revision ab."
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Gesellschaft

In der SZ spricht Strafrechtsprofessorin Susanne Beck mit Andreas Zielcke über die Tötung des Attentäters von Dallas durch einen Roboter und über die Automatisierung des Tötens, etwa durch Drohnen: "Ich plädiere dafür, dass auch Maschinen mit überragender Intelligenz nicht an die Stelle wichtiger menschlicher Entscheidungen treten dürfen."
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Medien

Nun scheint man bei der ARD doch den Gedanken zu fassen, ein klein wenig transparenter mit den Gebührengeldern umzugehen. SWR-Justiziar Herman Eicher sagt dem Tagesspiegel-Autor Joachim Huber zur Frage der "Sportexperten"-Honorare (unsere Resümees): "Ich stehe jeden Tag auf unterschiedlichste Weise in Verbindung mit überzeugten Kritikern des Rundfunkbeitrags. Denen zu sagen: 'Es gibt keinen Weg am Rundfunkbeitrag vorbei, wir sagen euch aber nicht, was wir zum Beispiel bei den Expertenverträgen mit dem Geld der Beitragszahler machen', passt einfach nicht mehr in die Zeit. Wir müssen daher alles daransetzen, das zu ändern."
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Internet

Tim Berners-Lee, Lawrence Lessig und Barbara van Schewick rufen die Europäer dazu auf, bis Montag für ein Offenes Netz und Netzneutralität in Europa einzutreten. Netzpolitik dokumentiert den Aufruf auf Deutsch: "Netzneutralität für Hunderte von Millionen von Europäern liegt in greifbarer Nähe. Diese zu sichern ist essenziell, um das offene Internet als Motor für Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt zu bewahren. Aber die Öffentlichkeit muss die Regulierungsbehörden jetzt auffordern, Sicherungsmaßnahmen zu stärken und nicht den manipulativen Taktiken der Netzbetreiber nachzugeben." Hier der Text auf englisch.

In Zeit online schildert Eike Kühl die Hintergründe - die Netzneutralität könnte in der nächsten Woche durch neue EU-Regelungen aufgeweicht werden: "Schwammige Formulierungen und zahlreiche Schlupflöcher könnten es den Telekommunikationsanbietern künftig erlauben, einzelne Dienste und Angebote zu bevorzugen und daraus Profit zu schlagen, warnen die Kritiker... Es entstünde ihrer Meinung nach das vielzitierte 'Zwei-Klassen-Internet', in dem bestimmte Dienste besser behandelt werden als andere. Im Mittelpunkt der Debatte stehen vor allem drei Punkte." Bis 18. Juli hat die Öffentlichkeit noch die Möglichkeit, die Leitlinien zu kommentieren.
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Politik

Die Argentinier können nur hoffen, dass ihr neuer Präsident Mauricio Macri es besser als seine Vorgängerin Cristina Fernández de Kirchner macht und neben der Bekämpfung von Schwarzarbeit, Arbeitslosigkeit und Inflation, sich auch der grassierenden Korruption widmet, schreibt Beatriz Sarlo in der NZZ. Zahlreiche Mitglieder aus Kirchners Kabinett sowie einige Unternehmer und der Geheimdienst waren in Korruptionsskandale verwickelt gewesen. "Abstrakt gesprochen" könne man sagen, Macri "brauche die Justiz ja bloß ihre Arbeit machen zu lassen. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass die Richterschaft sich während der zwölfjährigen Regierungszeit der Kirchners nicht nur daran gewöhnt hat, dem Druck der Regierung ausgesetzt zu sein, sondern sich dafür auch auf je eigene Art zu entschädigen."
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