9punkt - Die Debattenrundschau

Reflexive Modernisierung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2015. Monika Maron fürchtet in der Welt, dass die Pegida ihre Kraft aus den Schwächen ihrer Gegner zieht. In der NZZ ergründet Felix Philipp Ingold Russlands Janusköpfigkeit. Alle Zeitungen trauern um Ulrich Beck: den Musketier, der seine Gegner lachend besiegte. Und Europa hat einen Fürsprecher verloren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.01.2015 finden Sie hier

Politik

Monika Maron fürchtet in der Welt am Sonntag, dass gerade der aufgeregte und nachgeholte Antifaschismus der Reaktionen auf Pegida der Protestbewegung Statur geben wird: "Ich habe den Eindruck, dass gerade die sich überbietende Feindseligkeit, die unverhohlene Verachtung für Pegida wirkt wie ein Wachstumshormon. Die Feindschaft der anderen gibt ihnen ein vermisstes Gemeinschaftsgefühl. Wer so viel Feindschaft auf sich zieht, muss groß und wichtig sein." Die Diskussion mit den nicht rechtsextremen Anhängern der Pegida nicht zu suchen, wäre gerade der Fehler, meint Maron abschließend: "Wir preisen die offene Gesellschaft und verweigern die offene Diskussion. Pegida ist nicht die Krankheit, Pegida ist nur ein Symptom."

Im taz-Interview mit Jan Feddersen zieht der Journalist Marko Martin über "sächsische Duckmäuser", Pegida-Narren und bürgerliche Linke her, die in punkto "selbstbezogener Jammerigkeit" mehr gemeinsam hätten als sie ahnten: "Noch lebten wir damals von der Sozialhilfe, schon mussten wir von sensiblen Gomera-Fans erfahren, dass in der Bundesrepublik "soziale Kälte" herrsche. Heute, nach vielen Reportagereisen in die Elendsgebiete dieser Welt, würde ich sagen: verwöhnte narzisstische Wohlstandsweiße, deren kritische Haltung nur Camouflage ist, um desto ungenierter über die eigenen Wehwehchen zu lamentieren."
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Ideen

Ulrich Beck ist im Alter von nur 70 Jahren gestorben. In der Berliner Zeitung schreibt Arno Widmann: "So sehe ich ihn vor mir: ein Musketier, den die Gegner scharenweise anfallen, der sie aber lachend besiegt. Und man weiß nicht, ob er es mit Waffen tut oder ob nicht dieses Lachen seine effizienteste Waffe ist. Denn obwohl sonst keiner mehr aufrecht steht, ist doch niemand verletzt. Und der Musketier Beck lädt sie alle ein: etwa zum großen Bankett seines "Sonderforschungsbereichs 536 Reflexive Modernisierung"."

In seinen Nachruf auf Ulrich Beck mischt Joachim Güntner in der NZZ auch recht kritische Töne, würdigt aber doch das Gesamtwerk. In der SZ rühmt der britische Soziologe Anthony Giddens Beck als "größten Soziologen seiner Generation" und verweist besonders auf dessen Kritik an der deutschen EU-Politik: "Beck fordert darum einen neuen "Sozialvertrag" für Europa. Letztlich bedeutet dies eine Revolte gegen die deutsche Dominanz..." André Kieserling schreibt in der FAZ eine persönliche Erinnerung: "An seinem Lehrstuhl hatte er zeitweise so verschiedene Soziologen versammelt, als wollte er die gesamte Meinungsvielfalt eines Soziologentags abbilden." Christian Geyer schreibt den redaktionellen Nachruf in der FAZ. Spiegel-Redakteur Romain Leick schreibt bei Spiegel online: "Als Theoretiker des Kosmopolitischen und Übernationalen war Beck schon immer ein überzeugter Europäer... Das Risiko des Auseinanderfallens der EU, das er erkannte, machte ihn zu einem ätzenden Kritiker der unentschlossenen Europapolitik von Kanzlerin Angela Merkel."

Im Perlentaucher erinnert sich Ulf Erdmann Ziegler. Der Merkur bringt aus seinem Archiv Becks Text "Der anthropologische Schock - Tschernobyl und die Konturen der Risikogesellschaft" aus dem Jahr 1986.
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Europa

Felix Philipp Ingold ergründet in der NZZ Russlands Janusköpfigkeit. Selbst die Europäisierung des Landes habe Peter der Große mit geradezu preußischer Rücksichtslosigkeit durchgesetzt, "dass Regimekritiker seit dem späten 18. Jahrhundert verächtlich vom "knuto-germanischen" und "holstein-tatarischen" Herrscherhaus sprachen ... Für Paul I. war das Preußentum "jedweder Nachahmung wert", das russische Volk hielt er für eine dumpfe und träge Masse, nannte es "ma chienne de nation". Man verwaltete, man exerzierte, man philosophierte in germanischer Manier. Schiller, Schelling, Hegel wurden zu Vordenkern in einem Land, das gleichzeitig die Leibeigenschaft, die Zwangsrekrutierung und die staatliche Zensur hochhielt."
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Kulturmarkt

Der Buchreport schließt seine große Buchmarkt-Bilanz des Jahres 2014 mit dem 14. Teil: "Weil sich die Branche transformiert, muss sich auch der Börsenverein neu aufstellen: Ein latenter Mitgliederschwund und fehlende Andockpunkte für neue Marktteilnehmer sind deutliche Anzeichen der Überalterung." Hier der Link zum kompletten Überblick.

Katie Marsal referiert bei Appleinsider.com Statistiken des Dienstleisters Nielsen, "der seine Jahresstatistiken für die Musikindustrie vorlegte und auf ein 54-prozentiges Wachstum bei On-Demand-Streams von Musik und Videos hinweist. Insgesamt sind die Streams von 106 Milliarden auf 163 Millarden im Jahr 2014 gewachsen. Dieses Wachstum steht im Gegensatz zum physischen oder digitalen Verkauf von Musikalben. Der Verkauf von ganzen Alben fiel um 9 Prozent auf 117 Millionen, der Verkauf einzelner Songs fiel um 12 Prozent auf 1,26 Millarden."
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Geschichte

In der FAZ berichtet Paul Ingendaay über eine Madrider Konferenz, in der sich Historiker "über die Rolle der Schweiz, Schwedens, Portugals, Spaniens, Argentiniens und der Türkei zur Zeit der deutschen Vernichtungspolitik austauschen konnten". Ruhm verdient keines dieser Länder: "Jedes Land verhielt sich entsprechend seiner nationalen Fixierungen, seiner wirtschaftlichen und politischen Interessen. Alarmrufe im Namen der Humanität waren selten zu hören. Ob es sich um Demokratien (Schweiz, Schweden) oder Rechtsdiktaturen (Spanien, Portugal) handelte, spielte dabei erstaunlicherweise die geringste Rolle."
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