9punkt - Die Debattenrundschau

Noch immer alle Brösel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2014. Timothy Snyder erklärt im Blog der NYRB, wie die russische Propaganda funktioniert. Das Blog von transparency.org zählt russisches Geld in London. In der FAZ wehrt sich die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk gegen den Faschismus-Vorrurf. Mario Vargas Llosa erklärt in El Pais, warum die lateinamerikanische Politiker auch die venezolanischen Studenten als Faschisten bezeichnen. In britischen Medien wird über Julian Assange gestritten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2014 finden Sie hier

Europa

Geld korrumpiert die älteste Demokratie, die darum mit Deutschland einig ist, wenn es um einen sanften Umgang mit Wladimir Putin geht. "Schwierig zu sagen, wieviel korruptes Geld aus Russland in London gewaschen wird", schreibt Robert Barrington im Blog von transparency.org. "Es sind mit Gewissheit Hunderte von Millionen Dollar, wahrscheinlich Milliarden, möglicherweise Dutzende Milliarden. Es gibt keine adäquate Quelle für die Information. Aber ein Artikel in der New Republic brachte neulich interessante Hinweise: Im letzten Jahr gingen 2.174 russische Schüler auf britische Internate und brachten so 100 Millionen Dollar pro Jahr oder 500 Millionen Dollar im Lauf einer fünfjährigen Schulkarriere. Im selben Jahr sind 5 Prozent der Immobilien in besten Lagen von London von Russen gekauft worden."

Timothy Snyder untersucht in seinem jüngsten Artikel für das Blog der New York Review of Books die Funktion der russischen Propaganda und die Rolle westlicher Autoren, die sie mit treuem Augenaufschlag weiterverbreiten: "Wer diese Propaganda wiederholt, muss nicht unbedingt jeden überzeugen, er setzt nur den Rahmen der Debatte. Wenn den Leuten in freien Gesellschaften dieser Rahmen von Herrschern unfreier Gesellschaften hingestellt wird, dann sehen sie nicht mehr, was sich vor ihren Augen abspielt (es hat in Europa eine Revolution gegeben!) und spüren nicht mehr, welche Politik in einer verzweifelten Situation zu führen wäre (ein europäisches Land ist in ein anderes einmarschiert!) Propaganda hat diesen technischen Zweck, unabhängig davon, wie absurd sie ist."

In der FAZ wehrt sich die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk gegen den von Russland vorgebrachten Faschismus-Vorwurf: "Während des Zweiten Weltkriegs kollaborierten die Ukrainer mit Hitler, würdest du sofort antworten. Das stimmt. Und du weißt warum, oder? Weil sie Hoffnung hatten, aus deiner tödlichen Umarmung zu fliehen. Ich bin keine Historikerin, aber meine neunzigjährige Großmutter, die die von Stalin organisierte Hungersnot 1933 in der Ukraine überlebte, sammelt nach jeder Mahlzeit noch immer alle Brösel auf und isst sie aus ihrer Hand."
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Politik

In Venezuela hat es seit Beginn der Proteste zwanzig Tote gegeben. Korruption auch hier. Ein großer Teil der venezolanischen Ölrente, so Mario Vargas Llosa in El Pais, "hat das Überleben von Kuba sichergestellt oder diente dazu, Regierungen wie die des nicaraguanischen Kommandanten Ortega, der Frau Kichner in Argentinien oder Evo Morales' in Bolivien zu subventionieren, die sich alle beeilten, ihre Solidarität mit dem Chavez-Nachfolger Nicolás Maduro zu zeigen und die Proteste der 'faschistischen' Studenten Venezuelas zu verurteilen."
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Überwachung

In der London Review of Books hat sich sich Andrew O'Hagan in einer schier unendlichen Geschichte beschwert, wie uncool, unprofesionell und egomanisch Julian Assange sei, für den O'Hagan als Ghostwriter arbeiten sollte. ("Als ich ihm sagte, ich ließe mir lieber die Eier abschneiden, als mich selbst zu googeln, fand er sehr hochfliegende Gründe, warum es für ihn entscheidend sei zu wissen, was andere Leute denken").

Im Guardian verteidigte ihn nun Colin Robinson, der Verleger von "Cypherpunk", als durchaus kooperationsfähigen und -willigen Autor. O'Hagan reite auf Assanges Narzissmus herum, ohne die entscheidenden Themen überhaupt nur in den Blick zu nehmen: "Ich bin Julian Assanges Verleger, nicht sein Freund. Ich arbeite gerade an einem Buch mit ihn, das seinen Austausch mit dem Google-Chef Eric Schmidt festhält. Ich habe ihn in der ecuadorianischen Botschaft regelmäßig besucht und die Unterhaltungen mit ihm immer genossen, die sich meist auf die Politik und das Publizieren konzentrierten. Auch wenn sein Enthusiasmus und unablässiger Optimismus bemerkenswert sind, kann ich über ihn als Person nur wenig sagen. Ich bin mir jedoch seiner Leistungen bewusst, die mir nicht nur substanziell erscheinen, sondern auch auf der Seite der Gerechtigkeit."
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Ideen

Der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein beklagt in der Welt den Verfall des Deutschen als Wissenschaftssprache, besonders in den Geisteswissenschaften und bittet, sich vor Augen zu halten, "dass die moderne Wissenschaft leider Gottes nicht nur im Erzeugen von Erkenntnissen besteht, sondern dass sie ein weltweiter Markt ist - ein Markt, auf dem es darauf ankommt, die echten oder vermeintlichen Erkenntnisse zu verbreiten. Wenn man sich auf diesem Markt nicht der eigenen Sprache bedienen kann, dann wirkt sich dies auf die Dauer massiv aus."
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Kulturpolitik

Hanns C. Löhr bemängelt, dass bei den Forschungen zur Raubkunst die Umtriebe nationalsozialistischer Rauborganisationen zu wenig beachtet werden. Denn obwohl diese bereits von den Alliierten geahndet wurden, gibt es eklatante Lücken, wie im Fall des "Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg": "Anhand der Datenbank der Claims Conference lässt sich nach sorgfältigen Untersuchungen zeigen, dass aus Rosenbergs Beschlagnahmungen bis heute gut 1.400 Gemälde und andere Objekte aus jüdischem Besitz nachweislich fehlen. Den größten Teil dieser Kunstwerke hatten die Mitarbeiter der Einsatzstäbe noch während des Krieges verkauft oder weggetauscht." Darunter auch Bilder, die jetzt im Besitz von Cornelius Gurlitt aufgetaucht sind.
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Weiteres

In Slate meldet Seth Stevenson nach etlichen Selbstversuchen erhebliche Zweifel an der Zukunft von 3D-Druckern an, die bei gefährlichen 215 Grad Plastik zu recht amorphen Klecksen formen: "What could you manufacture at home in a manner that's cheaper and more efficient than could be done in a giant factory? If 'customizable, personal designs' is part of your answer, remember that those designs will be limited to plastic, and that any use of wood or metal or suede will require additional procurement and assemblage, which means speed and convenience are out the window. There were very sound reasons behind society's transition to centralized manufacturing."

Weitere Artikel: In der taz meldet kann Svenja Bergt allerdings, dass jemand durch die Herstellung eines speziellen Ersatzteiles seine Kaffeemaschine aus den 60er Jahren retten konnte. Nils Minkmar beklagt in der FAZ mit Meinhard Miegel die "Hybris" unserer angeblich in der Krise befindlichen Gesellschaft, der es in Wahrheit an "Einfühlungsvermögen, Improvisationsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft" gebreche. Gina Thomas lobt das Dokudrama "37 Days" der BBC, das das diplomatische Gerangel vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus britischer Perspektive nachstellt. Und Constanze Kurz schreibt in ihrer Maschinenraum-Kolumne über Geheimdienste, die "Kompromat" preisgeben - das heißt, dass sie abgelauschte Telefonate an die Öffentlichkeit bringen, bislang eine russische Praxis, nun auch im Westen beliebt.
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